Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin E, eine deutsche Staatsangehörige, ist als staatliche anerkannte Erzieherin an einer kommunalen Kindertagesstätte beschäftigt. Sie ist muslimischen Glaubens und trägt aus religiöser Überzeugung in der Öffentlichkeit - auch während ihrer Tätigkeit als Erzieherin – ein Kopftuch. Daraufhin erhielt sie von ihrem Arbeitgeber, der Gemeinde, eine Abmahnung wegen des Tragens eines „islamischen Kopftuchs“.
Die Abmahnung wird damit begründet, dass die Erzieherin durch das Tragen des Kopftuchs im Kindergarten ihre aus § 7 KiTaG folgenden Pflichten verletze. Bei dem islamischen Kopftuch handele es sich um eine äußere Bekundung, die geeignet sei, die Neutralität des Trägers zu gefährden und den weltanschaulichen Frieden zu stören.
Die Beschwerdeführerin sieht sich dadurch in ihrer Religionsfreiheit verletzt. Sie weist – in der Sache zutreffend – daraufhin, dass sie lediglich das Kopftuch trage, aber niemals missionarisch-werbend im Kindergarten aktiv sei. Von sich aus würde sie noch nicht einmal ansprechen, warum sie das Kopftuch trage und auf entsprechende Nachfragen von Kindern oder Eltern kurze, sachliche Auskünfte geben. Es sei im Kindergarten noch nie zu konkreten Problemen gekommen.
Dem hält die Stadt – ebenfalls zutreffend – entgegen, dass nach der Begründung des KiTaG bereits eine abstrakte Gefährdung für ein Verbot äußerer religiöser Bekundungen genüge. Es komme daher nicht auf konkrete religiöse Auseinandersetzungen oder Probleme in der betroffenen KiTa an. Das Kopftuch als eindeutig islamisches Symbol sei ausreichend abstrakt geeignet, die staatliche Neutralität zu gefährden und berge die abstrakte Gefahr weltanschauliche Konflikte in die städtischen Einrichtungen zu tragen. Das Verbot des islamischen Kopftuchs rechtfertige sich zudem durch den Schutz der negativen Glaubensfreiheit der Kinder sowie dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern.
Die auf Entfernung der Abmahnung zielende Klage vor den Arbeitsgerichten blieb in allen Instanzen erfolglos. Das Landes- und das Bundesarbeitsgericht übernehmen zur Begründung ihrer Entscheidungen im Wesentlichen die Argumentation der Stadt.
Daraufhin hat die Beschwerdeführerin form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde eingelegt.
§ 7 Kindertagesbetreuungsgesetz Baden-Württemberg (KiTaG; Auszug)
(6) 1 Fachkräfte (…) und andere Betreuungs- und Erziehungspersonen dürfen in Einrichtungen, auf die dieses Gesetz Anwendung findet und die in Trägerschaft des Landes, eines Landkreises, einer Gemeinde (…) stehen, keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Trägers gegenüber Kindern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden in Einrichtungen (…) zu gefährden oder zu stören.
2 Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Kindern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Fachkraft oder eine andere Betreuungs- oder Erziehungsperson gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
In den Entscheidungsgründen des BVerfG wird die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nur knapp festgestellt.
In einer Klausur wären dazu aber folgende Punkte näher zu prüfen:
Die Zuständigkeit des BVerfG für eine Verfassungsbeschwerde folgt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 16a BVerfGG i.V.m. § 93 ff. BVerfGG.
Die E ist als natürliche Person ein „jedermann“ und somit zulässiger Beschwerdeführer.
Als Beschwerdegegenstand kommen hier das letztinstanzliche Urteil des BAG sowie die weiteren Gerichtsentscheidungen in Betracht.
Die E ist auch beschwerdebefugt, da sie zumindest möglicherweise in ihrer Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt ist und sie durch das Urteil auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist.
Der Rechtsweg wurde gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erschöpft und auch der Grundsatz der Subsidiarität ist gewahrt. Schließlich musste die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG und die Form nach § 23 BVerfGG gewahrt werden.
Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
1. Schutzbereich
Das BVerfG versteht die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG genannten Garantien in ständiger Rechtsprechung als einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit, dessen Schutzbereich es weit auslegt. Das Grundrecht
„erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben.“
Vor diesem Verständnis ist es unzweifelhaft, dass der Grundrechtsschutz Erzieherinnen in Kindertagesstätten öffentlicher Trägerschaft auch die Freiheit gewährt, den Regeln ihres Glaubens gemäß ein Kopftuch zu tragen.
Entscheidend stellt das BVerfG darauf ab, dass das religiöse Selbstverständnis plausibel begründet wird:
„Darauf, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sog. Bedeckungsverbot vertreten werden, kommt es insoweit nicht an, da die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist.“
2. Eingriff
Die Untersagung des Tragens des islamischen Kopftuchs während der Arbeitszeit in dem Kindergarten durch den (staatlichen) Arbeitgeber stellt auch einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dar.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff müsste verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Das BVerfG interpretiert das Grundrecht der Religionsfreiheit seit jeher als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht. Danach unterliegt die Religionsfreiheit nur verfassungsimmanenten Schranken, also Grundrechte Dritter und Gemeinschaftsgüter von Verfassungsrang.
Die in der Literatur vielfach vertretene Gegenauffassung, nach der sich aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV ein Gesetzesvorbehalt ergibt, wird vom BVerfG abgelehnt.
Entscheidend sind daher die verfassungsimmanenten Schranken der Religionsfreiheit, die den Eingriff rechtfertigen könnten.
Hier kommt zunächst die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Kindergartenkinder in Betracht. Denn Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantiert auch das Recht, kultischen Handlungen eines fremden Glaubens fernzubleiben. Allerdings kann dem Einzelnen in einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Glaubensüberzeugungen bestehen, kein Recht gewährt werden, von der bloßen Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu werden.
Dementsprechend skeptisch äußert sich das BVerfG dazu, dass der Aspekt der negativen Religionsfreiheit das Kopftuchverbot rechtfertigen kann:
„Solange die Erzieherinnen, die nur ein äußeres Erscheinungsbild an den Tag legen, nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die von ihnen betreuten Kinder über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen, wird deren negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Sie werden lediglich mit der ausgeübten positiven Glaubensfreiheit des Erziehungspersonals in Form einer glaubensgemäßen Bekleidung konfrontiert. Insofern spiegelt sich auch in Kindertagesstätten die religiös-pluralistische Gesellschaft wider“.
Als weiterer verfassungsunmittelbarer Rechtfertigungsgrund ist das Elterngrundrecht zu untersuchen. Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und aus Art. 6 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG folgt das Recht der Eltern zur religiösen und weltanschaulichen Kindererziehung. Allerdings geht dieses Recht nicht so weit, dass daraus ein Anspruch folgt, Kindergartenkinder vom Eindruck solcher Erzieherinnen fernzuhalten, die einer religiösen Bekleidungsregel folgen.
Schließlich könnte das Äußerungsverbot noch unter mit Hinweis auf den Grundsatz staatlicher Neutralität zu rechtfertigen sein:
„Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren. (…) Die dem Staat gebotene weltanschauliche-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende i.S. einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“
Insgesamt gibt es also keine verfassungsimmanenten Schranken, die das gesetzliche Verbot religiöser Bekundungen bereits bei einer abstrakten Gefahr für die Neutralität oder den religiösen Frieden in Kindertagesstätten rechtfertigen können.
Die Konsequenz dessen ist allerdings nicht, dass das BVerfG die gesetzliche Grundlage für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Stattdessen wählt das BVerfG hier den Weg einer verfassungskonformen Auslegung, um die Normverwerfung zu vermeiden:
„Das Gewicht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Personals von Kindertagesstätten in öffentlicher Trägerschaft erfordert demnach (…) eine reduzierende verfassungskonforme Auslegung des § 7 Abs. 6 KiTaG, soweit die Norm äußere religiöse Bekundungen untersagt. Hierfür ist das Merkmal der Eignung, den Einrichtungsfrieden oder die Neutralität des öffentlichen Einrichtungsträgers zu gefährden oder zu stören dahin einzuschränken, dass von der äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr ausgehen muss. (…) Allein das Tragen eines „islamischen Kopftuchs“ begründet eine hinreichend konkrete Gefahr auch im Kindergartenbereich im Regelfall nicht. Denn vom Tragen einer solchen Kopfbedeckung geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus.“
Nur in dieser einschränkenden, verfassungskonformen Auslegung kann § 7 Abs. 6 KiTaG Bestand haben.
Allerdings müssen sich die arbeitsgerichtlichen Urteile dann an diesem verfassungsgemäßen Verständnis messen lassen und die Gerichte einschränkende Auslegung in ihrem Urteil anwenden. Das BVerfG überlässt die Anwendung einfachen Rechts bekanntlich zunächst den Fachgerichten („keine Superrevisionsinstanz“), kontrolliert aber, ob die Fachgerichte bei ihren Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite der betroffenen Grundrechte ausreichend beachtet haben („Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“).
Dies war hier nicht der Fall, weil die Arbeitsgerichte bereits die bloß abstrakte Gefahr für das Verbot haben ausreichen lassen. Dieser erhebliche Eingriff in das Grundrecht der Glaubensfreiheit der E ist unverhältnismäßig und lässt sich daher verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.
Abschließend stellt das BVerfG fest:
„Die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen werden also den Erfordernissen der gebotenen verfassungskonformen einschränkenden Auslegung nicht gerecht. Ihre rechtliche Würdigung, nach der bereits eine abstrakte Gefährdung der in § 7 Abs. 6 KiTaG genannten Schutzgüter zur Erfüllung des Verbotstatbestands genügt, trägt der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der in Kindertagesstätten tätigen Erzieherinnen und Erzieher nicht in angemessener Weise Rechnung. Sie vernachlässigt das Gewicht ihrer positiven Glaubensfreiheit im Zusammenhang mit einem plausibel dargestellten imperativen religiösen Bedeckungsgebot.“
Somit verletzen die angegriffenen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen die E in ihrem Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Weiterführend Hinweise
Wieder einmal ein Fall, der wie geschaffen ist für eine Verwendung in Prüfungsaufgaben. Diese Entscheidung des BVerfG wird mit Sicherheit in Zukunft als Vorlage von Examensklausuren dienen.
Besonders interessant, dass das BVerfG nahezu unverändert seine Ausführungen aus den Kopftuch-Entscheidungen, bei denen Lehrerinnen betroffen waren, auf den Bereich des Kindergartens überträgt. Eine striktere Auslegung zulasten der Erzieherin hätte auch nicht überzeugen können. Denn – anders als im Bereich der Schule – spricht noch nicht einmal der Gedanke einer Pflicht zum Besuch der Einrichtung für die betroffenen Eltern. In der Gesamtabwägung kommt den für das Verbot streitenden verfassungsrechtlichen Belangen damit eher noch ein geringeres Gewicht zu.
Vom Aufbau der Klausur lag hier die besondere Schwierigkeit darin, dass das BVerfG eine bestimmte verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes vorschreibt und an diesem Maßstab die arbeitsgerichtlichen Urteile prüft. Das stellt Klausurbearbeiter vor die Herausforderung einerseits weiterhin klar zwischen der Prüfung des Gesetzes und der anschließenden Prüfung des Urteils zu unterscheiden – andererseits aber die Folgewirkungen der Prüfungen des Gesetzes auf die Prüfung des Urteils deutlich herauszuarbeiten.