Der Entscheidung des BGH (Urteil vom 20. Mai 2014 · Az. VI ZR 381/13 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de = MDR 2014, 895 = NJW 2014, 2190 = FamRZ 2014, 1288 = LSK 2014, 290785 (beck-online) = BeckRS 2014, 11503 (beck-online) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin (K) wurde im Februar 2011 von Herrn W. geschieden. Aus der Ehe sind ein im Jahr 1994 geborener Sohn und eine im Jahr 1999 geborene Tochter hervorgegangen. Das Sorgerecht steht der Klägerin und Herrn W. gemeinsam zu. Hiervon ausgenommen sind das Aufenthaltsbestimmungs- und das Gesundheitsfürsorgerecht, die die K seit 2009 alleine ausübt. Anfang des Jahres 2011 wurde festgestellt, dass Herr W. an Chorea Huntington, einer unheilbaren, vererblichen und zum Tode führenden Erkrankung des Gehirns leidet. Wegen dieser Erkrankung befand sich Herr W. in ärztlicher Behandlung bei dem Beklagten (B). Mit schriftlicher Erklärung vom 31. März 2011 entband Herr W. den B von der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber der K und ermächtigte ihn zur Auskunft über seine Krankheit. Am selben Tag bat der B die K zu einem Gespräch, um sie über die Erkrankung ihres geschiedenen Ehemannes zu informieren. Nach der Behauptung des B entsprach dies dem Wunsch des Herrn W. Der B teilte der K die Erkrankung mit und wies darauf hin, dass die – zu diesem Zeitpunkt 12 und 16 Jahre alten – gemeinsamen Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% geerbt hätten. Die K fand zunächst keine Einrichtung, die zu einer gentechnischen Untersuchung ihrer Kinder bereit war. Die Diplombiologin und Fachärztin für Humangenetik Dr. S. teilte ihr mit, dass es nach dem Gendiagnostikgesetz nicht gestattet sei, eine prädiktive Diagnostik bei noch nicht symptomatischen Minderjährigen oder bei Personen, die nicht selbst nach entsprechender humangenetischer Beratung und ausreichender Bedenkzeit in die Untersuchung eingewilligt hätten, durchzuführen. Die K ist seit dem 1. April 2011 wegen reaktiver Depression dauerhaft krankgeschrieben und nicht in der Lage, einer Erwerbsfähigkeit nachzugehen.
Mit der Klage begehrt die K die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 15.000 € sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung des B hinsichtlich der ihr entstandenen materiellen und immateriellen Schäden. Sie macht geltend, der B habe sie über die Erkrankung ihres geschiedenen Mannes nicht, jedenfalls aber so lange nicht unterrichten dürfen, wie ihr keine Möglichkeit zur Klärung der Übertragung der Erbkrankheit auf ihre Kinder zur Verfügung gestanden habe. Er habe zunächst klären müssen, ob sie überhaupt Kenntnis von der Erkrankung ihres geschiedenen Mannes habe erlangen wollen.
Bestehen die geltend gemachten Ansprüche der K gegen B?
A. Anspruch der K gegen B aus § 823 Abs. 1 BGB
K könnte einen Anspruch gegen B aus § 823 Abs. 1 BGB, wegen der Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington erkrankt sei und ihre Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % geerbt hätten, haben.
I. Rechtsgutsverletzung
Zunächst müsste eine Rechtsgutsverletzung gegeben sein. Hier kommt die Gesundheit als absolutes Recht in Betracht. Eine Verletzung der Gesundheit ist gegeben, bei einer Störung der inneren Lebensvorgänge bzw. bei einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. K leidet hier an reaktiven Depression, sodass Sie dauerhaft krankgeschrieben ist. Somit hat Ihr psychisches Leiden in jedem Fall Krankheitswert, sodass hier eine Gesundheitsverletzung gegeben ist.
Des Weiteren könnte auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht der K als absolutes Recht verletzt sein. Es ist anerkannt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“ umfasst. Es schützt den Einzelnen, genetische Informationen über ihn selbst ohne dessen Willen zu erlangen. Hier hatte die K jedoch keine genetischen Informationen über sich selbst sondern über ihren Mann und Ihre Kinder erlangt. Sodass sie schon nicht in ihrem „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“ beeinträchtigt ist. Mithin ist ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht verletzt.
Der BGH führt hierzu aus: „a) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung steht der Klägerin insbesondere kein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Ausprägung eines "Rechts auf Nichtwissen" zu.
aa) Zwar schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Interesse des Einzelnen, nicht mehr über seine genetischen Eigenschaften wissen zu müssen, als er selbst will. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt als "unbenanntes" Freiheitsrecht die speziellen Freiheitsrechte, die, wie etwa die Gewissens- oder die Meinungsfreiheit, ebenfalls konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es, im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen Freiheitsgarantien nicht vollständig erfassen lassen; diese Notwendigkeit besteht namentlich auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit (BVerfGE 79, 256, 268). Die genetische Konstitution prägt die Persönlichkeit des Einzelnen und bestimmt wesentliche Rahmenbedingungen seiner Existenz. Die Kenntnis von Erbanlagen, insbesondere genetisch bedingten Krankheitsanlagen, kann maßgeblichen Einfluss auf die Lebensplanung und Lebensführung einer Person haben und berührt deshalb unmittelbar ihr in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistetes Selbstbestimmungsrecht [...]. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst deshalb ein "Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung", das den Einzelnen davor schützt, Kenntnis über ihn betreffende genetische Informationen mit Aussagekraft für seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies zu wollen [...].
bb) Es kann dahinstehen, ob das "Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung" bereits dadurch beeinträchtigt wird, dass einer Person der Hinweis gegeben wird, sie sei möglicherweise Trägerin einer Erbkrankheit. Dies könnte deshalb zweifelhaft sein, weil eine freie Entscheidung, bestimmte Informationen nicht erhalten zu wollen, voraussetzt, dass der Betroffenen weiß, dass es Informationen gibt, die er zur Kenntnis nehmen könnte [...]. Auf diese Frage kommt es indes nicht an. Denn die Klägerin ist in ihrem "Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung" nicht betroffen. Sie stützt die geltend gemachten Schadensersatzansprüche nicht auf eine Mitteilung ihrer eigenen genetischen Konstitution, sondern darauf dass der Beklagte sie über eine bei ihrem geschiedenen Mann bestehende Erkrankung informiert hat, deren genetische Anlage ihre Kinder möglicherweise geerbt haben. Aus einer etwaigen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ihrer Kinder kann die Klägerin aber keine Schadensersatzansprüche ableiten.“
II. Verletzungshandlung
B müsste auch eine Verletzungshandlung begangen haben. Hier hat der B der K mitgeteilt, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington leide und eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit bestehe, dass auch die Kinder an dieser Erbkrankheit leiden. Eine Verletzungshandlung in Form eines Tuns ist damit gegeben.
III. Objektive Zurechenbarkeit
Die objektive Zurechenbarkeit müsste gegeben sein.
1. Äquivalenz
Hätte der B der K nicht die Mitteilung über die Krankheit gemacht, wäre Sie nicht krankhaft depressiv geworden, sodass die Äquivalenz gegeben ist.
2. Adäquanz
Die Rechtsgutsverletzung müsste auch adäquat kausal verursacht worden sein. Dies ist der Fall, wenn kein völlig atypischer Lebenssachverhalt eingetreten ist. Hier scheint es nicht völlig ausgeschlossen und ungewöhnlich zu sein, dass wenn eine Mutter von einer möglichen schweren Krankheit ihrer Kinder erfährt, depressiv wird. Mithin wurde die Rechtsgutsverletzung adäquat kausal verursacht.
3. Schutzzweck der Norm
Fraglich ist aber, ob der Schadensersatzanspruch vom Schutzzweck der Norm umfasst ist. Die Folgen der Tat müssten aus dem Bereich herrühren, deren Abwendung die Norm gerade beabsichtigt. Der Schadensersatzanspruch ist nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst, wenn eine Gefahr dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen ist. Hier war die Gefahr dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen, da der geschiedene Mann, mit seiner Krankheit offen umgehen wollte und damit die K auch anderweitig die Information hätte bekommen können. Im Ergebnis ist der Schadenssatzanspruch daher nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst.
Der BGH führt hierzu aus: „aa) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es anerkannt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Dies gilt unabhängig davon, auf welche Bestimmung die Haftung gestützt wird. Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die Tatfolgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte vertragliche oder vorvertragliche Pflicht übernommen worden ist [...]. Die Schadensersatzpflicht hängt zum einen davon ab, ob die verletzte Bestimmung überhaupt den Schutz Einzelner bezweckt und der Verletzte gegebenenfalls zu dem geschützten Personenkreis gehört. Zum anderen muss geprüft werden, ob die Bestimmung das verletzte Rechtsgut schützen soll. Darüber hinaus muss die Norm den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezwecken; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden müssen also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fallen [...]. Daran fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat [...]. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten [...].
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Erkrankung der Klägerin dem Beklagten haftungsrechtlich nicht zuzurechnen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist die von der Klägerin geltend gemachte reaktive Depression darauf zurückzuführen, dass sie am 31. März 2011 von der Krankheit ihres geschiedenen Mannes und der damit verbundenen Möglichkeit Kenntnis erlangt hat, dass die gemeinsamen, damals 12 und 16 Jahre alten Kinder die genetische Anlage der Krankheit geerbt haben könnten. Insoweit haben sich aber keine Gefahren verwirklicht, die durch § 823 Abs. 1 BGB verhütet werden sollen. Da der geschiedene Mann der Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit seiner - bereits seit einiger Zeit ausgebrochenen und mit deutlichen Symptomen einhergehenden - Erkrankung offen umgehen und sowohl die gemeinsamen Kinder als auch seinen Bekanntenkreis informieren wollte, hätte die Klägerin diese Kenntnis jederzeit anderweitig erlangen können [...]. Dass eine schwerwiegende - möglicherweise auch für die Gesundheit der gemeinsamen Kinder relevante - Krankheit eines Elternteils erkannt und dem anderen Elternteil bekannt wird, ist ein Schicksal, das Eltern jederzeit widerfahren kann. Es gehört zu den allgemeinen Lebensrisiken, fällt aber nicht in den Bereich der Gefahren, vor denen § 823 Abs. 1 BGB schützen will. Die Bestimmung bezweckt nicht den Schutz eines sorgeberechtigen Elternteils vor den psychischen Belastungen, die damit verbunden sind, dass er von einer genetisch bedingten Erkrankung des anderen Elternteils und dem damit einhergehenden Risiko Kenntnis erlangt, dass die gemeinsamen Kinder auch Träger der Krankheit sein könnten [...]. Derartige Belastungen haben die Personensorgeberechtigten vielmehr grundsätzlich hinzunehmen, ohne den Überbringer der Nachricht dafür verantwortlich machen zu können.“
IV. Ergebnis
Mithin hat K gegen B keinen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB, wegen der Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington erkrankt sei und ihre Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % geerbt hätten.
B. Anspruch der K gegen B aus § 823 Abs. 2 BGB
K könnte einen Anspruch gegen B aus § 823 Abs. 2 BGB, wegen der Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington erkrankt sei und ihre Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % geerbt hätten, haben.
Dann müsste zunächst eine Verletzung eines Schutzgesetzes i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB gegeben sein. Ein Schutzgesetz ist ein solches, dass zumindest auch dem Schutz Einzelner und nicht nur der Allgemeinheit dient. Hier kam als Schutzgesetz das Gendiagnostikgesetz in Betracht. Im Ergebnis war jedoch eine Verletzung abzulehnen.
Der BGH führt hierzu aus: „b) Schadensersatzansprüche der Klägerin aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Gendiagnostikgesetz scheiden ebenfalls aus. Das Gesetz enthält keine Bestimmung, wonach das Ergebnis einer diagnostischen genetischen Untersuchung trotz ausdrücklicher schriftlicher Einwilligung des von der Untersuchung Betroffenen solchen Personen nicht bekanntgegeben werden dürfte, die - wie die Klägerin - mit dem Betroffenen genetisch nicht verwandt sind (vgl. BT-Drucks. 16/10532, S. 28 rechte Spalte 5. Abs., S. 29 linke Spalte 2. Abs.).“
Mithin hat K gegen B keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB, wegen der Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington erkrankt sei und ihre Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % geerbt hätten.
Anmerkung: Zur weiteren Vertiefung der Problematik des Falls kann auf die Anmerkung von Spickhoff (FamRZ 2014, S. 1291) verwiesen werden. Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie auch in unseren ExO`s und im GuKO ZR I. Eine Leseprobe aus unserem Skript finden Sie hier: http://www.juracademy.de/web/skript.php?id=37341.