I. Der Sachverhalt
Der Entscheidung des BGH (Urteil vom 17. Juni 2014 – VI ZR 281/13 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de = MDR 2014, 689 = becklink 1033064) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin (K) fuhr im Jahr 2011 mit ihrem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit auf einer innerstädtischen Straße. Sie trug keinen Fahrradhelm. Am rechten Fahrbahnrand parkte ein PKW. Die Fahrerin des PKW (B) öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Radfahrerin von innen die Fahrertür, so dass die Klägerin nicht mehr ausweichen konnte, gegen die Fahrertür fuhr und zu Boden stürzte. Sie fiel auf den Hinterkopf und zog sich schwere Schädel-Hirnverletzungen zu, zu deren Ausmaß das Nichttragen eines Fahrradhelms beigetragen hatte. Die K nimmt die B und deren Haftpflichtversicherer auf Schadensersatz in Anspruch.
Fraglich ist, ob K gegen B (und deren Haftpflichtversicherer) einen Anspruch auf Schadensersatz hat?
II. Die Falllösung
Hier kamen Ansprüche der K aus §§ 7, 18 StVG und aus § 115 VVG in Betracht.
Eine Sorgfaltspflichtverletzung lag vor, da die B gegen § 14 I StVO verstieß. Hiernach muss so ein und ausgestiegen werden, dass eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen wird. Hier hat die K – ohne den Verkehr zu beobachten – die Fahrertür ihres PKW geöffnet.
Fraglich ist aber, ob die K ein Mitverschulden nach §§ 9 StVG, 254 II BGB trifft. Hier hat laut Sachverhalt der Fahrradhelm jedenfalls dazu beigetragen, dass sich der Schaden vertieft.
1. eine Ansicht: kein Mitverschulden bei Nichttragen eines Fahrradhelmes
Eine Ansicht geht trotz einer Kausalität im Hinblick auf die Schadensvertiefung davon aus, dass ein Mitverschulden im Ergebnis abzulehnen ist. Als Argument wird genannt, dass nach § 21a II StVO nur für Fahrer von Krafträdern mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h eine Helmpflicht bestehe. Auch die Rechtssicherheit und Praktikabilität wird genannt.
2. andere Ansicht: Mitverschulden bei Nichttragen eines Fahrradhelmes
Das OLG Schleswig-Holstein (Urt. v. 05.06.2013 – 7 U 11/12) ging davon aus, dass einen Fahrradfahrer beim Nichttragen eines Helmes ein Mitverschulden trifft. Hier führt es folgendes aus:
„[Der Ansicht, dass ein Mitverschulden ausgeschlossen ist,] [...] ist entgegenzuhalten, dass der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ein Mitverschulden des Geschädigten auch ohne das Bestehen gesetzlicher Vorschriften angenommen hat, wenn dieser „diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt“ (BGH, Urt. v. 30.01.1979, VI ZR 144/77, NJW 1979, 980 mwN); er müsse sich insoweit „verkehrsrichtig“ verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der Straßenverkehrsordnung bestimme, sondern auch durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr sowie nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar sei, um diese Gefahr möglichst gering zu halten [...].“
In diesem Zusammenhang verweist das OLG dann auch darauf, dass der BGH schon vor der Einführung der Helmpflicht für Motorradfahrer, bei Nichttragen eines solchen, ein Mitverschulden angenommen hat. Gleiches gelte für Reiten und Skifahren, wo es bis heute keine gesetzliche Pflicht zum tragen eines Helmes gebe; bei Nichttragen eines solchen aber trotzdem ein Mitverschulden angenommen werde.
Auch habe sich das „allgemeine Verkehrsbewusstsein“ im Hinblick auf das Tragen von Fahrradhelmen verändert. Des Weiteren sei eine Anschaffung auch wirtschaftlich zumutbar.
Nach dieser Ansicht trifft also die K ein Verschulden gemäß §§ 9 StVG, 254 II BGB.
3. Streitentscheid
Im Ergebnis ist mit dem BGH jedoch davon auszugehen, dass ein Mitverschulden aufgrund des Nichttragens eines Fahrradhelmes abzulehnen ist. Der BGH verweist zunächst auf eine fehlende gesetzliche Pflicht zum Tragen eines Fahrradhelmes. Des Weiteren, gäbe es kein allgemeines Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Fahrradhelmes erforderlich und zumutbar wäre.
Hierzu führt der BGH aus: „Für Radfahrer ist das Tragen eines Schutzhelms nicht vorgeschrieben. Zwar kann einem Geschädigten auch ohne einen Verstoß gegen Vorschriften haftungsrechtlich ein Mitverschulden anzulasten sein, wenn er diejenige Sorgfalt außer acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Dies wäre hier zu bejahen, wenn das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar gewesen wäre. Ein solches Verkehrsbewusstsein hat es jedoch zum Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin noch nicht gegeben. So trugen nach repräsentativen Verkehrsbeobachtungen der Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2011 innerorts nur elf Prozent der Fahrradfahrer einen Schutzhelm.“
Im Ergebnis hat K gegen B (und deren Haftpflichtversicherer) Ansprüche aus §§ 7, 18 StVG und aus § 115 VVG. Ein Mitverschulden kann der K nicht angelastet werden, sodass der Anspruch auch nicht zu kürzen ist.
Anmerkung: Der BGH hat ausdrücklich offen gelassen, ob die Entscheidung bei sportlicher Betätigung des Fahrradfahrens, eine andere wäre. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Entscheidung wohl nur zeitlich begrenzt gilt. Die Zahl der Radfahrer steigt kontinuierlich und auch das allgemeine Verkehrsbewusstsein, der Bevölkerung, wandelt sich dahin, dass das Tragen eines Fahrradhelmes erforderlich und zumutbar ist. Die Zahl derjenigen, die ein Fahrradhelm tragen, steigt stetig. Ansonsten ist die Entscheidung aber zu begrüßen, da nicht die Gerichte, sondern der Gesetzgeber, für die Einführung einer Helmpflicht zuständig sind. Zur weiteren Vertiefung der Problematik des Falles kann auf den interessanten Aufsatz von Hilpert-Janßen (MDR 2014, 689 ff.) verwiesen werden.
Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie auch in unseren ExO`s und im GuKO ZR I. Eine Leseprobe aus unserem Skript finden Sie hier: http://www.juracademy.de/web/skript.php?id=37288.