Sachverhalt
Die Industrie- und Handelskammern (IHK) sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert, an die Kammermitglieder Beiträge zahlen müssen.
Die wesentlichen gesetzlichen Grundlagen für die (Zwangs-)Mitgliedschaft in der IHK und die Pflicht zur Zahlung der IHK-Beiträge sind die folgenden:
§ 1 IHK-Gesetz (IHKG)
Aufgabe der Industrie- und Handelskammern ist es, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen.
§ 2 IHK-Gesetz (IHKG):
(1) Zur Industrie- und Handelskammer gehören, sofern sie zur Gewerbesteuer veranlagt sind, natürliche Personen, Handelsgesellschaften (…) und juristische Personen des privaten und d es öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer eine Betriebsstätte unterhalten (Kammerzugehörige).
§ 3 IHKG:
(2) Die Kosten der Errichtung und Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer werden (…) durch Beiträge der Kammerzugehörigen gemäß einer Beitragsordnung aufgebracht.
(3) Als Beiträge erhebt die Industrie- und Handelskammer Grundbeiträge und Umlagen.
Durch andere gesetzliche Vorschriften werden den IHK zahlreiche weitere Aufgaben zugwiesen, insbesondere im Bereich der Berufsausbildung sowie im Wirtschaftsverwaltungsrecht (z.B. die Ausstellung bestimmter Bescheinigungen und die Prüfung der Sachkunde).
Die B-GmbH betreibt ein Reisebüro und ist Mitglied der örtlichen Industrie- und Handelskammer (IHK). Als solche hat sie einen Bescheid über den Kammerbeitrag in Höhe von 200,- EUR erhalten. Der Höhe nach und in formeller Hinsicht ist der Bescheid ordnungsgemäß ergangen. Allerdings will die B-GmbH gegen die gesetzliche Pflichtmitgliedschaft nach dem IHKG vorgehen. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs gegen den Gebührenbescheid erhebt sie form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG, §§ 90 ff. BVerfGG.
Beschwerdegegenstand ist das letztinstanzliche Urteil. Auch wenn es der Sache nach um die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes geht (des IHKG), liegt die Konstellation einer Urteilsverfassungsbeschwerde vor, in deren Rahmen inzident auch die gesetzlichen Grundlagen überprüft werden können.
Durch den Beitragsbescheid der IHK bzw. die bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen ist die B-GmbH auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen, wobei im Rahmen der Zulässigkeit offen bleiben kann (und zur Vermeidung einer „Kopflastigkeit“ der Klausur auch sollte), ob sich die Beschwerdebefugnis aus Art. 9 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG ergibt.
Begründetheit
Fraglich ist zunächst, welches Grundrecht hier in seinem Schutzbereich betroffen ist.
Zunächst könnte die negative Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG abgeleitet werden. Grundsätzlich ist anerkannt, dass Freiheitsrechte neben ihrer positiven Seite als sog. „negative Seite“ auch die Freiheit enthalten, ein bestimmtes Verhalten nicht auszuüben. Daraus könnte als Gegenstück zu der in Art. 9 Abs. 1 GG garantierten Vereinigungsfreiheit das Grundrecht folgen, nicht (zwangsweise) Mitglied einer Vereinigung sein zu müssen. Im Hinblick auf die Pflichtmitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft führt das BVerfG dazu folgendes aus:
„Das spezielle Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG garantiert die Freiheit, sich aus privater Initiative unabhängig vom Staat mit anderen zu Vereinigungen zusammenzuschließen, sie zu gründen oder ihnen fernzubleiben. Die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG zielt auf freiwillige Zusammenschlüsse zu frei gewählten Zwecken. Eine gesetzlich angeordnete Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft beruht hingegen auf einer Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmte öffentliche Aufgaben auch unter kollektiver Mitwirkung privater Akteure zu erledigen. Art. 9 Abs. 1 GG enthält das Recht, in einer Distanz zum Staat und zu politischen Parteien eigene Vereinigungen zu gründen oder ihnen fernzubleiben. Das weitere Recht, nicht durch Pflichtmitgliedschaft von „unnötigen“ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden, ergibt sich demgegenüber aus Art. 2 Abs. 1 GG.“
Dieses (enge) Verständnis von der „negativen“ Seite des Schutzbereichs der Vereinigungsfreiheit begründet das BVerfG zudem mit der Entstehungsgeschichte unter ausführlicher Auseinandersetzung mit den Diskussionen im Parlamentarischen Rat.
Insgesamt kommt das BVerfG also zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf die Pflichtmitgliedschaft in der IHK der Schutzbereich des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG nicht eröffnet ist.
Einschlägig ist dagegen das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Denn daraus folgt auch das Recht nicht durch Pflichtmitgliedschaft in „unnötigen“ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden.
Sowohl bei der Pflichtmitgliedschaft nach § 2 Abs. 1 IHKG als auch bei der – darauf aufbauenden und von ihr nicht strikt zu trennenden – Beitragserhebung nach § 3 Abs. 2 und 3 IHKG handelt es sich um Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit.
Diese Eingriffe müssten verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, also auf einer formell verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen und verhältnismäßig sein (Vorbehalt der objektiven Rechtsordnung).
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG.
Das Gesetz müsste verhältnismäßig sein.
Die IHK erfüllen mit den ihnen durch § 1 IHKG und spezialgesetzlich zugewiesenen Kompetenzen legitime öffentliche Aufgaben (z.B. die Förderung der gewerblichen Wirtschaft und der Berufsausbildung), so dass die Pflichtmitgliedschaft auf einem verfassungslegitimen Zweck beruht.
Die Geeignetheit der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft und der damit verbundenen Beitragspflicht begründet das BVerfG wie folgt:
„Die Regelungen zur Pflichtmitgliedschaft sind geeignet, diese legitimen Zwecke zu erreichen. Das ist im verfassungsrechtlichen Sinne schon dann der Fall, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. (…) Die Annahme des Gesetzgebers ist plausibel, dass private Verbände mit freiwilliger Mitgliedschaft nicht im gleichen Maße die Belange und Interessen aller in einer Region tätigen Gewerbetreibenden ermitteln und vertreten können wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträgen, die vielfach gesetzlich, durch ihre innere Organisation und durch Rechtsaufsicht gebunden ist.“
Nach der Geeignetheit der Maßnahme prüft das BVerfG deren Erforderlichkeit und bejaht diese im Ergebnis ebenfalls:
„Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers durch die Heranziehung zu Beiträgen an die IHK (…) erscheint unter Berücksichtigung des weiten Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers auch erforderlich. Daran fehlt es nur, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, mit dem das betreffende Grundrecht nicht oder weniger fühlbar eingeschränkt wird, wobei die sachliche Gleichwertigkeit bei Alternativen in jeder Hinsicht eindeutig feststehen muss (….).
Als mögliches milderes Mittel zieht das BVerfG naheliegender Weise eine freiwillige Mitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern in Betracht. Allerdings kommt es zum Ergebnis, dass dieses nicht genau so effektiv ist:
„Der Wert der Arbeit der Kammern beruht insofern …. Auf der Vollständigkeit der Informationen, die den Kammern im Bereich der zu beurteilenden Verhältnisse zugänglich sind. Eine freiwillige Mitgliedschaft erreicht dies nicht.“
Schließlich überprüft das BVerfG im Rahmen einer Gesamtabwägung die Angemessenheit der Regelung und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Pflichtmitgliedschaft in der IHK auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist, da die Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits zeige, dass die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt ist und die Regelungen die Betroffenen nicht übermäßig belasten. Die wichtigsten Aspekte, die das BVerfG dabei in seiner ausführlichen Argumentation berücksichtigt, sind die folgenden:
Die Belastung durch die Pflichtmitgliedschaft und die damit verbundenen Gebühre wiege nicht sehr schwer. Zudem eröffnet die Pflichtmitgliedschaft den Kammerzugehörigen auch Möglichkeiten der Mitwirkung. Gegen im Einzelfall unzulässige Aktivitäten der IHK stehen den Kammermitgliedern rechtliche Möglichkeiten offen. Andererseits handelt es sich bei den von den IHK verfolgten Zielen und ihnen zugewiesenen Aufgaben um wichtige Belange des Allgemeinwohls.
Insgesamt hält das BVerfG die Pflichtmitgliedschaft sowie die Verpflichtung zur Beitragszahlung damit für angemessen und das IHK-Gesetz für verfassungsmäßig.