Für die Frage nach der Strafbarkeit einer Meinungsäußerung als Beleidigung gem. § 185 StGB ist regelmäßig eine Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von der Aussage Betroffenen nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vorzunehmen. Handelt es sich bei der Aussage dagegen um Schmähkritik, so bedarf es keiner Abwägung, sondern die Meinungsfreiheit tritt von vornherein zurück. Das BVerfG hat in einer aktuellen Entscheidung verdeutlicht, wie hoch die Anforderungen an die Annahme von Schmähkritik sind.
Sachverhalt (verkürzt)
Der B war Kläger in einem Zivilprozess vor dem Amtsgericht. Dabei stellte er ein Ablehnungsgesuch gegen eine Richterin, das er damit begründete, das Verhalten der Richterin erinnere „an Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen Sondergerichten“. Die Verhandlungsführung gleiche „eher einem mittelalterlichen Hexenprozess als einem rechtsstaatlich durchgeführten Verfahren“.
Wegen dieser Äußerung wurde der B letztinstanzlich rechtskräftig wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Begründung des Urteils qualifizierten die Strafgerichte die Äußerungen des B als Schmähkritik. Eine Abwägung mit der Meinungsfreiheit war daher bei den Entscheidungen unterblieben. Die Äußerung des B – so die Strafgerichte in ihren Urteilsgründen – sei zwar möglicherweise noch vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst, trete aber als Schmähkritik von vornherein hinter das Persönlichkeitsrecht der verbal attackierten Richterin zurück.
Daraufhin erhebt der B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Für die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 BVerfGG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfGG das Bundesverfassungsgericht zuständig.
Als natürliche Person ist der B ein „Jedermann“ und somit beschwerdefähig.
Als zulässiger Beschwerdegegenstand kommt nach § 90 BVerfGG grundsätzlich jeder Akt öffentlicher Gewalt in Betracht. Dies ist hier die letztinstanzliche Entscheidung des Strafgerichts als Akt der Judikative. Damit handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.
Die für die Beschwerdebefugnis gem. § 90 BVerfGG erforderliche mögliche Grundrechtsverletzung ergibt sich daraus, dass eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen ist.
Zudem ist der B von der Entscheidung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Da es sich um eine letztinstanzliche Entscheidung handelt, ist hier auch die Voraussetzung der Rechtswegerschöpfung gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erfüllt.
Es gibt hier auch keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten des B gegenüber denen die Verfassungsbeschwerde subsidiär wäre.
Schließlich hat B laut Sachverhalt form- und fristgerecht seine Verfassungsbeschwerde eingereicht, also gem. § 23 BVerfGG schriftlich und begründet und innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der letztinstanzlichen Entscheidung gem. § 93 Abs. 1 BVerfGG.
Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde des B ist begründet, wenn er durch die Entscheidung des Strafgerichts in einem seiner Grundrechte verletzt ist.
Hier kommt eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG in Betracht. Als Jedermanns-Grundrecht ist der persönliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit unproblematisch eröffnet. Der sachliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst alle Äußerungen, die durch Wertungen und Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind
Das BVerfG stellt hier fest, dass auch die Äußerungen des B vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst sind, da auch polemische oder verletzende Formulierungen einer Meinung nicht dazu führen, dass diese von vornherein dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG entzogen ist.
Eingriff
Unproblematisch ist in der strafgerichtlichen Verurteilung ein Eingriff in die Meinungsfreiheit zu sehen.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Die Schranken der Meinungsfreiheit ergeben sich nach Art. 5 Abs. 2 GG aus den allgemeinen Gesetzen sowie den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Von besonderer Bedeutung bei dieser „Schrankentrias“ sind die allgemeinen Gesetze. Allgemeine Gesetze sind Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Dies ist im Hinblick auf die Vorschrift des § 185 StGB unzweifelhaft der Fall. Das Gesetz ist meinungsneutral formuliert und dient dem Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Gut von Verfassungsrang ist. Daher ist § 185 StGB materiell verfassungsgemäß.
Fraglich ist aber, ob in der konkreten Gerichtsentscheidung bei der Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung die verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt sind.
Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verlangt grundsätzlich eine Abwägung der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit des Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung betroffenen andererseits.
Einen Sonderfall bildet die sog. Schmähkritik. Dazu erläutert das BVerfG:
„Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB bilden herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter dem Ehrenschutz zurücktreten wird. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre richten sich nach dem Kriterium des sachlichen Bezugs. Solange ein Bezug zu einer Sachauseinandersetzung besteht und sich die Äußerung damit nicht auf eine bloße persönliche Diffamierung oder Herabsetzung der von der Äußerung Betroffenen beschränken, sind sie nicht als Schmähung einzustufen.“
Fraglich ist, ob hier von einer Schmähkritik ausgegangen werden kann. Zweifellos stellt der Vorwurf, eine Richterin würde einen Prozess in der Art „nationalsozialistischer Sondergerichte“ und ähnlich einem „mittelalterlichen Hexenprozess“ führen, einen erheblichen Angriff auf die Ehre dar.
Allerdings, so das BVerfG:
„Die inkriminierten Äußerungen stellen keine Schmähkritik dar. Mit seinen Vergleichen richtete sich der Beschwerdeführer gegen die Verhandlungsführung der Richterin in dem Zivilverfahren. Dieses bildet den Anlass und Kontext der Äußerungen. Die Äußerungen entbehren daher insofern nicht eines sachlichen Bezugs, sie erscheinen nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Historische Vergleich mit dem Nationalsozialismus oder Vorwürfe einer „mittelalterlichen“ Gesinnung können besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung haben, begründen aber nicht schon für sich die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik“.
Statt von einer Schmähkritik auszugehen, die ohne weitere Abwägung hinter dem Ehrschutz zurücktritt, hätte das Gericht also eine umfassende und einzelfallbezogene Abwägung vornehmen müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es dabei zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre und von einer strafrechtlichen Verurteilung abgesehen hätte. Somit hat das Gericht Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit grundlegend verkannt und die Entscheidung beruht auch auf diesem Fehler. Insoweit ist die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG des B auch verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde des B ist zulässig und begründet und hat daher Erfolg.
Hinweise und Klausurtipps
Die Entscheidung des BVerfG führt zu den Grenzen der Meinungsfreiheit und behandelt rechtlich sensible Fragen.
In einer Klausur sollten Sie mit der Qualifizierung von „Schmähkritik“ sehr zurückhaltend sein. Denn diese Einordnung führt dazu, dass keine Abwägung mehr zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeit vorzunehmen ist. Genau dies ist aber in vielen Prüfungsaufgaben rund um die Meinungsfreiheit der Schwerpunkt der Klausur, bei dem die meisten Punkte zu holen sind. Auch inhaltlich aber ist die Qualifizierung als „Schmähkritik“, das zeigt diese Entscheidung, falsch, solange es noch irgendeinen sachlichen Bezug gibt. Die Bürger sind bei ihrer Kritik an staatlichen Systemen und beim „Kampf ums Recht“ nicht auf sachliche, objektive Kritik beschränkt, sondern dürfen – durchaus auch erheblich – über das Erforderliche hinaus polemisieren.
Keineswegs sicher ist, dass der Beschwerdeführer auch im Ergebnis straflos davon kommt. Bei dem Vergleich mit „nationalsozialistischen Sondergerichten“ und dem Vorwurf „mittelalterlicher“ Gesinnung in der Art von Hexenprozessen handelt es sich um erhebliche Angriffe auf die persönliche Ehre. Es ist also gut möglich, dass diese Äußerungen auch nach der gebotenen Abwägung mit der Meinungsfreiheit im Ergebnis als strafbare Beleidigung eingeordnet werden. Dies zu entscheiden ist Sache der zuständigen Strafgerichte.