Dem Urteil des OLG Frankfurt/M. (v. 18.08. 2015 – 22 U 39/14 = NJW 2015, 3522) lag folgender – leicht vereinfachter – Sachverhalt zugrunde:
Am 1. April 2011 befuhr K mit seinem Kraftrad gemeinsam mit seinem Bruder, seinem Schwager sowie dem X eine Landstraße. Das Motorrad des X ist bei V versichert.
A, der mit seinem Kraftrad als erster in der Motorradgruppe fuhr, kollidierte in einer Kurve mit dem ihm entgegenkommenden Fahrzeug der B. Der K fuhr dahinter und stürzte mit seinem Motorrad. Als dritter fuhr X und kam ebenfalls zu Fall. Als letzter fuhr der Zeuge C, der zwischen den rutschenden und liegenden Motorrädern hindurchfahren konnte. Der K erlitt durch den Sturz erhebliche Verletzungen, sein Kraftrad wurde vollständig beschädigt.
K macht geltend, dass er nach dem Sturz des A noch rechtzeitig habe bremsen können. Der X sei aber in ihn hinein gefahren und habe somit den Unfall verursacht.
Hat K gegen V einen Anspruch auf Schadensersatz und Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes?
Anmerkung: Unterstellen Sie die Angaben des K als wahr. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die gesamte Gruppe zwischen den einzelnen Fahrern während der Fahrt den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat.
Falllösung
A. Anspruch K gegen V gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 7 Abs. 1 StVG
K könnte gegen V einen Anspruch auf Schadensersatz und ein angemessenes Schmerzensgeld gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 7 Abs. 1 StVG haben.
Aus § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG ergibt sich, dass der Versicherer V genauso haftet wie der Fahrzeughalter X. Hier könnte K gegen X einen Anspruch auf Schadensersatz und ein angemessenes Schmerzensgeld aus § 7 Abs. 1 StVG haben.
I. Haftungsbegründer Tatbestand
Dann müsste zunächst der haftungsbegründende Tatbestand des § 7 Abs. 1 StVG gegeben sein.
1. Rechtsgutsverletzung
Es müsste eine Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG vorliegen. Hier wurde sowohl das Motorrad des K beschädigt, als auch er selbst verletzt, sodass eine Rechtsgutsverletzung in Form einer Körperverletzung und einer Sachbeschädigung gegeben ist.
2. Kraftfahrzug
Bei dem Kraftrad müsste es sich zunächst um ein Kraftfahrzeug i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG handeln. Als Kraftfahrzeuge im Sinne dieses Gesetzes gelten Landfahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein (§ 1 Abs. 2 StVG). Damit ist auch ein Motorrad erfasst (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 23. Auflage 2014, § 7 Rn. 2).
3. B = Halter
B müsste auch Halter des Kraftrads sein. Halter ist derjenige, der das Kfz oder den Anhänger im eigenen Namen nicht nur ganz vorübergehend für eigene Rechnung in Gebrauch hat und der die Verfügungsgewalt über das Kfz oder den Anhänger ausübt (BGHZ 116, 200 = NJW 92, 900; BGHZ 87, 133 = NJW 83, 1492; Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, § 7 Rn. 5). Hiervon ist ebenfalls bei X dem Sachverhalt nach auszugehen.
4. Betrieb eines Kraftfahrzeugs
Der Unfall muss sich auch bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs ereignet haben. Beim Betrieb eines Fahrzeuges hat sich der Unfall ereignet, wenn sich eine Gefahr realisiert, die mit dem Fahrzeug als Verkehrsmittel verbunden ist (Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, § 7 Rn. 7). Der Begriff „bei dem Betrieb“ ist weit zu fassen (BGH v. 14.1.2014 – VI ZR 340/13; NJW 10, 3713; NJW-RR 08, 764; NZV 95, 19; Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, § 7 Rn. 7). Nach der sog. verkehrstechnischen Auffassung ist ein Kfz oder Anhänger in Betrieb, solange es sich im Verkehr befindet und andere Verkehrsteilnehmer gefährdet (Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, § 7 Rn. 7).
Hier hat sich der Unfall während einer Fahrt mit dem Motorrad auf einer Landstraße ereignet, sodass der Unfall auch bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs stattfand.
Der Betrieb des Kfz hat den eingetretenen Schaden auch adäquat verursacht haben. Des Weiteren ist das Schadensereignis dem Betrieb des Kraftrads nach dem Schutzzweck der Gefährdungshaftung auch zurechenbar.
Mithin sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG grundsätzlich gegeben.
5. Haftungsausschluss (§ 7 Abs. 2 StVG)
Für einen Haftungsausschluss gemäß § 7 Abs. 2 StVG ist nichts ersichtlich.
6. Rechtsfolge
Gemäß § 10 Abs. 1 StVG i.V.m. § 249 Abs. 1, 2 BGB kann K von B daher Ersatz seines Schadens verlangen und hat gemäß § 11 S. 2 StVG i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB auch einen Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld.
II. Ausschluss des Anspruchs gemäß § 242 BGB
Der Anspruch könnte jedoch gemäß § 242 BGB ausgeschlossen sein.
Das OLG Frankfurt führt hierzu folgendes aus:
„[12] Der Senat geht angesichts der Gesamtumstände und des Ergebnisses der Beweisaufnahme allerdings davon aus, dass vorliegend die Haftung des Bekl. zu 1 bereits dem Grunde nach ausscheidet. Auch bei Unterstellung, dass der Sturz des Kl. maßgeblich durch die Kollision mit dem Fahrzeug des Bekl. zu 1 entstanden ist, was grundsätzlich zu einer Haftung gem. § 7 StVG führen würde, wäre die Haftung des Bekl. zu 1 wegen eines stillschweigend vereinbarten Haftungsverzichts für Gefährdungshaftung und leichte Fahrlässigkeit ausgeschlossen.
[13] Ausweislich der Beweisaufnahme ergibt sich, dass die vier Motorradfahrer in einer Gruppe gefahren sind.
[...] Außerdem hat [...] C angegeben, dass alle Motorräder dicht beieinander gewesen seien. Er sei vielleicht eine Autolänge hinter dem Bekl. zu 1 gefahren. Der erste in der Gruppe sei ein bisschen weiter vorgefahren, dann seien die drei anderen praktisch zusammen gekommen. Es habe in der Gruppe keine feste Reihenfolge gegeben. Aus diesen Angaben und den Feststellungen des Sachverständigen ist für den Senat eindeutig, dass die Motorradgruppe einvernehmlich den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. Bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h hätte der Anhalteweg bei bester Bremssituation 29 m betragen. Der von dem Zeugen C geschilderte Abstand zu seinem Vordermann betrug allenfalls 5 m. Auch der Kl. hielt keinen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Motorradfahrer ein, wie sich daraus ergibt, dass der Sachverständige mit Sicherheit feststellen konnte, dass der Kl. nicht in der Lage gewesen wäre, sein Motorrad hinter dem Unfall vollständig abzubremsen. Dass auch der Bekl. zu 1 keinen ausreichenden Abstand eingehalten hat, folgt neben der Aussage des Zeugen C auch daraus, dass irgendeine Reaktion des Bekl. zu 1 nicht erkennbar ist, er also auf das abbremsende Fahrzeug des Kl. mit einer höheren Geschwindigkeit aufgefahren ist, die allerdings nicht erheblich über der Geschwindigkeit des Kl. lag, wie der Sachverständige festgestellt hat.
[14] Für den Senat stellt sich damit das durchaus im Straßenverkehr vertraute Bild dar, dass Motorradfahrer in einer Gruppe fahren, bei der alle den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht einhalten und die Reihenfolge je nach Verkehrssituation und anderen Umständen wechseln kann. Die aus der erstinstanzlichen Beweisaufnahme dafür entnehmbaren Indizien sind so eindeutig, dass eine erneute Beweisaufnahme nicht erforderlich ist.
[15] Angesichts dieser Situation geht der Senat davon aus, dass alle Beteiligten in der Gruppe einvernehmlich ein besonderes Risiko eingegangen sind, um das entsprechende Gruppenfahrgefühl zu erreichen. Jedem aus der Gruppe hätte die gleiche Situation passieren können wie dem Kl. Dass der Zeuge C hindurchfahren konnte, mag daran liegen, dass er eine geringfügig längere Reaktionszeit hatte als die vor ihm fahrenden Motorradfahrer. Sämtliche Teilnehmer der Gruppe nahmen mithin billigend in Kauf, dass entweder sie selbst oder der hinter ihnen fahrende Fahrer bei einer Unfallsituation oder sonstigen Störungen nicht ausreichend bremsen konnte und es mithin zu Schädigungen der anderen Gruppenteilnehmer kommen konnte.
[16] Der BGH hat bei sportlichen Wettbewerben mit nicht unerheblichen Gefahrenpotenzial, bei denen typischerweise auch bei Einhaltung der Regel oder geringfügigen Regelverletzung die Gefahr gegenseitiger Schadenzufügung besteht, die Inanspruchnahme des Schädigers für solche Schäden eines Mitbewerbers ausgeschlossen, die er ohne gewichtige Regelverletzung im Sinne grober Fahrlässigkeit verursacht [...]. Aus diesen Grundsätzen ist zu folgern, dass das Verbot des venire contra factum proprium (§ 242 BGB) es nicht zulässt, dass der Geschädigte einen Schädiger in Anspruch nimmt, wenn er bei getauschten Positionen ebenso gut in die Lage hätte kommen können, in der sich nun der Bekl. befindet [...]. Wird die allgemeine Gefahr, die mit der gemeinsamen Betätigung verbunden ist, von den Beteiligten bewusst auf sich genommen und kann zusätzlich dem einen kein größerer Vorwurf gemacht werden als dem anderen, so besteht keine Veranlassung, den einen mit höheren Haftungsrisiken zu belasten als den anderen. Im Streitfall war das verabredungsgemäße Fahren im Pulk deshalb besonders gefahrenträchtig, weil damit notwendig und für die Bet. erkennbar der weitergehende Verzicht auf die von der StVO vorgeschriebenen Sicherheitsabstände zum Vorder- und Hintermann einherging. Dies bedeutet aber zugleich die Inkaufnahme der damit unweigerlich verbundenen erhöhten Sturzrisiken, die auch bei erhöhter Aufmerksamkeit der Fahrer nie auszuschließen sind, weil jederzeit Verkehrssituationen auftreten können, auf die mit plötzlichen Richtungswechseln oder abrupten Bremsmanövern reagiert werden muss.
[17] Dass vorliegend eine grobe Fahrlässigkeit des Bekl. zu 1 vorlag, ist nicht erkennbar. Die fehlende ausreichende Bremsung durch den Bekl. zu 1 ist lediglich darauf zurückzuführen, dass dieser auf Grund der Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Besondere Umstände sind hier weder erkennbar noch vorgetragen.
[18] Liegt mithin eine stillschweigende Vereinbarung der Parteien dahingehend vor, dass eine gemeinsame Regelverletzung, nämlich die Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands erfolgt, ist damit zwingend auch ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche aus einer solchen Regelverletzung, ebenso wie Ansprüche aus Gefährdungshaftung gem. § 7 StVG ausgeschlossen.“
K hat gegen X somit keinen Anspruch auf Schadensersatz und ein angemessenes Schmerzensgeld aus § 7 Abs. 1 StVG haben.
III. Ergebnis
Mithin hat K gegen V keinen Anspruch auf Schadensersatz und ein angemessenes Schmerzensgeld gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 7 Abs. 1 StVG.
B. Weitere Ansprüche etwa aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 18 Abs. 1 StVG bzw. § 823 Abs. 1 BGB sind ebenfalls gemäß § 242 BGB ausgeschlossen.
Die Leitsätze des OLG Frankfurt/M. im Überblick:
1. Fahren Motorradfahrer einvernehmlich auf der Landstraße in wechselnder Reihenfolge als Gruppe ohne Einhaltung des Sicherheitsabstands, führt dies zu einem Haftungsausschluss im Hinblick auf diesen Umstand.
2. Kollidiert der dritte Fahrer mit dem zweiten, nachdem der erste einen Unfall verursacht hat und beide nicht mehr ausreichend bremsen können, hat der zweite gegen den dritten keine Ansprüche aus §§ 7, 17 StVG.
Anmerkung: Zur Vertiefung der Thematik kann auf die Anmerkung von Born (NJW 2015, 3523) verwiesen werden. Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie auch in unseren ExO`s und im GuKO ZR. Eine Leseprobe aus unserem Skript finden Sie hier: http://www.juracademy.de/web/skript.php?id=37341.