Mit dieser Frage musste sich der BGH im Jahr 2020 auseinandersetzen (Beschluss vom 17. März 2020 - 3 StR 574/19 – veröffentlicht erst am 04.11.2020). Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die an Niereninsuffizienz und Diabetes leidende 84-jährige O machte sich mit ihrem Rollator auf den Weg zur Bank. Nachdem sie dort 600 € abgehoben und in ihrer Handtasche verstaut hatte, legte sie die Tasche in das Körbchen des Rollators und band den Gurt um den Griff des Rollators. Nunmehr näherte sich von hinten Radfahrer R, der die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit der O ebenso wie ihr hohes Alter erkennen konnte, ergriff die Handtasche und zerrte so heftig an ihr, dass O der Rollator entglitt, sie das Gleichgewicht verlor und ungebremst mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlug. R fuhr mit der Handtasche davon. O erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma mit einer massiven subduralen Blutung. Die zur Druckentlastung unter Vollnarkose durchgeführte, medizinisch indizierte und lege artis ausgeführte Operation führte dazu, dass im Zusammenspiel mit den Vorerkrankungen O das Bewusstsein nicht wiedererlangte. Nachdem sich nun der Gesundheitszustand weiter verschlechterte, verzichteten die Ärzte auf weitere mögliche intensivmedizinische Maßnahmen, da eine Patientenverfügung der O vorlag, die diese Behandlungen untersagte. Auch hatte O sich noch vor der Operation in entsprechender Weise geäußert. O verstarb daraufhin 13 Tage später.
Das LG Krefeld hat R wegen Raub mit Todesfolge gem. §§ 249, 251 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt.
In einer Klausur wäre der Raub mit Todesfolge wie folgt zu prüfen:
Merke
I. Objektiver Tatbestand § 249
- Gewalt oder Drohung mit Gewalt
- fremde bewegliche Sache
- Wegnahme
- subjektiv finaler Zusammenhang (kann auch im subjektiven Tatbestand geprüft werden
II. Subjektiver Tatbestand § 249
- Vorsatz
- Zueignungsabsicht
- Objektive Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung und Vorsatz diesbezüglich
III. Voraussetzungen des § 251
- Eintritt der Folge: Tod
- Kausalität zwischen Grunddelikt und Folge
- Gefahrspezifischer Zusammenhang (auch „Unmittelbarkeitszusammenhang“ genannt)
- Wenigstens Leichtfertigkeit
IV. Rechtswidrigkeit
V. Schuld
Das Zerren an der Handtasche stellt unproblematisch einen über die bloße Wegnahme hinausgehenden, körperlichen Zwang und damit Gewalt dar.
Expertentipp
Denken Sie bei den „Handtaschenfällen“ immer daran, dass Gewalt dann verneint wird, wenn der Täter die Sache nur durch List und Schnelligkeit ergreift und damit keine, über die zur Wegnahme hinausgehende, erforderliche Kraftanstrengung ausübt.
Die Tasche war für R auch eine fremde bewegliche Sache, die er mittels der Gewalt gegen den Willen der O weggenommen hat.
Expertentipp
Hier kommen sowohl Lit. als auch BGH zum selben Ergebnis. Es liegt sowohl nach dem äußeren Erscheinungsbild als auch nach der inneren Willensrichtung des hier nicht verfügenden Opfers O eine Wegnahme vor.
Der objektive Tatbestand ist damit verwirklicht. Da R auch vorsätzlich und in rechtswidriger Zueignungsabsicht handelte, liegt auch der subjektive Tatbestand vor.
Kommen wir nun zu den Voraussetzungen des § 251 StGB. Der Eintritt der Folge, nämlich der Tod der O beruht zunächst unproblematisch kausal auf der Gewaltanwendung durch R. Dieser Ursachenzusammenhang allein reicht jedoch nicht. Vielmehr muss sich im Tod die raubspezifische Gefahr realisiert haben. Dieser Gefahrzusammenhang liegt regelmäßig dann vor, wenn der Tod des Opfers durch die Nötigungshandlung bewirkt wird, die der Wegnahme dient.
Vorliegend sind aber 2 Aspekte zu berücksichtigen:
- Zum einen könnte man an ein Dazwischentreten der behandelnden Ärzte denken durch die Operation sowie durch das nachfolgende Unterlassen weiterer intensivmedizinischer Behandlungen.
- Zum anderen könnte die Patientenverfügung der O zur Annahme einer eigenverantwortlichen, den Zurechnungszusammenhang unterbrechenden Selbstgefährdung führen.
Der BGH (a.a.O.) führt dazu folgendes aus:
„Inwieweit solche von einem Dritten oder dem Opfer selbst verantworteten Eingriffe in den tödlichen Verlauf zur Folge haben, dass sich die Tathandlung des Grunddelikts im qualifizierten Erfolg nicht mehr niederschlägt, muss für jeden in Betracht kommenden Straftatbestand nach dessen Sinn und Zweck sowie unter Berücksichtigung der von ihm erfassten Sachverhalte in differenzierender Wertung ermittelt werden…..
Hierbei ist das Gewicht und die Bedeutung des Eingriffs für den weiteren Geschehensablauf in Betracht zu ziehen. Insoweit ist etwa von Belang, ob die Realisierung der spezifischen Todesgefahr durch das Eingreifen des Opfers nur beschleunigt oder durch diese erst geschaffen wurde…..
Schließlich ist in den Blick zu nehmen, ob das tödliche Risiko, das in der Tat selbst seinen Ausgang nahm, sich in einem durch sie in Gang gesetzten typischen Verlauf verwirklichte …. Denn da § 251 StGB als erfolgsqualifiziertes Delikt eine jedenfalls fahrlässige Herbeiführung der schweren Folge verlangt (§ 18 StGB), muss deren Eintritt - neben den entsprechenden subjektiven Anforderungen an die "Leichtfertigkeit" - objektiv voraussehbar, also nach der Lebenserfahrung erwartbar sein…“
Dass aufgrund der Vorerkrankungen der O die Operation die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes zur Folge haben könnte, lag nicht außerhalb der Lebenserfahrung. Dazu der BGH (a.a.O.):
„Vielmehr war ein möglicher tödlicher Ausgang der medizinisch indizierten und lege artis durchgeführten Operation bereits zum Zeitpunkt der Tat in der Konstitution des Raubopfers angelegt.“
Ein Dazwischentreten der Ärzte durch das Ausführen der Operation kann damit nicht angenommen werden.
Könnte ein solches nun darin zu sehen sein, dass die Ärzte es in Übereinstimmung mit der Patientenverfügung der O unterließen, weitere Behandlungsmaßnahmen auszuführen? Und damit zusammenhängend stellt sich die weitere Frage, ob nicht die Untersagung dieser Maßnahmen durch O – sowohl ausdrücklich vor der OP als auch durch die Patientenverfügung – eine den Zurechnungszusammenhang durchbrechende, eigenverantwortliche Selbstgefährdung ist.
Dazu der BGH (a.a.O.):
„Ebenso wenig wurde eine selbständige neue Ursache für den Tod dadurch gesetzt, dass die behandelnden Ärzte im Einklang mit der Patientenverfügung und dem präoperativ geäußerten Willen der Verstorbenen lebensverlängernde Maßnahmen abbrachen….
Das Opfer einer Gewalttat, das ärztliche Hilfe nicht in Anspruch nimmt, setzt damit keine neue Ursache für ein solches Versterben, sondern wirkt nur dem vom Täter gesetzten tödlichen Risiko nicht entgegen. Schon deshalb begründet in der Regel die Entscheidung gegen die Behandlung keine "neue" Todesgefahr. Zudem vermag die in der Patientenverfügung der Verstorbenen zum Ausdruck kommende eigenverantwortliche Entscheidung, auf eine "Maximaltherapie" im Sinne einer apparategestützten Lebensverlängerung verzichten zu wollen, bei wertender Betrachtung auch aus rechtlichen Gründen eine zurechnungsunterbrechende Wirkung nicht zu entfalten. Der eigenverantwortlich in der Patientenverfügung niedergelegte Wille der Verstorbenen ist als Ausdruck ihres verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts zu werten, wonach ein Patient in jeder Lebensphase, auch am Lebensende, das Recht hat, selbstbestimmt zu entscheiden, ob er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen will. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen und auf diese Weise einem zum Tode führenden Krankheitsgeschehen seinen Lauf zu lassen….
Der Tod der Verstorbenen ist mithin vorliegend unmittelbar auf die Körperverletzungshandlung des Angeklagten zurückzuführen und nicht nur durch einen autonomen, mit diesem Geschehen lediglich durch Kausalität verbundenen Willensbildungsprozess beeinflusst …. Ob insoweit anders zu entscheiden ist, wenn ein durch eine Raubtat Geschädigter vernünftigen Gründen zuwider eine durchaus erfolgversprechende Behandlung ablehnt, bedarf hier keiner Entscheidung…
Dementsprechend unterbricht das Verhalten der Ärzte, die wegen des Vorliegens einer Patientenverfügung dem Willen der Patientin folgend in rechtmäßiger Weise auf eine Weiterbehandlung verzichteten, den Risikozusammenhang ebenfalls nicht. Liegt eine wirksame Patientenverfügung vor, so bleibt auch nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit der tatsächlich geäußerte oder mutmaßliche Wille des Patienten für die Entscheidung über die Vornahme oder das Unterlassen ärztlicher Maßnahmen maßgeblich. Geht dieser Wille dahin, lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen und so das Sterben zu ermöglichen, so folgt daraus ein Abwehranspruch des Patienten gegen lebensverlängernde Maßnahmen …. Der Arzt, der in Umsetzung einer Patientenverfügung einen moribunden Zustand nicht durch intensivmedizinische Maßnahmen verlängert, beugt sich damit in Übereinstimmung mit den rechtlichen Vorgaben lediglich dem Patientenwillen. Eine Zurechnungsunterbrechung folgt hieraus nicht.“
Kommen wir damit zum letzten Prüfungspunkt der § 251 StGB, nämlich der „Leichtfertigkeit“.
Leichtfertig handelt demnach, wer in besonderem Maße aus Leichtsinn oder Gleichgültigkeit die nach den Umständen gebotene und erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, wobei sich ihm der Eintritt der Folge geradezu hätte aufdrängen müssen (Vgl. BGHSt 33, 66; 43, 158.).
Auch dies hat der BGH (a.a.O.) vorliegend bejaht:
„Der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen lag auch im Rahmen des nach der Lebenserfahrung Erwartbaren. Damit, dass ein betagtes Opfer sich bei einer Raubhandlung wie der abgeurteilten schwere Kopfverletzungen zuzieht, ist ebenso zu rechnen wie mit dem Vorliegen einer Patientenverfügung oder dem sonst von dem Patienten geäußerten Willen, nicht an lebenserhaltende Apparate angeschlossen zu werden. Dass ein durch eine Nötigungshandlung schwer Verletzter auf lebensverlängernde Maßnahmen im Rahmen einer Patientenverfügung verzichtet, entspricht mithin einem vom Schutzzweck des § 251 StGB unterfallenden typischen Verlauf.“
Da es auch keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass ausgerechnet R dies nicht hätte vorhersehen können, kann ihm gegenüber auch der in der Schuld zu prüfende subjektive Fahrlässigkeitsvorwurf erhoben werden.