Sachverhalt (vereinfacht):
Der B leidet an einer schweren psychischen Erkrankung. Am 1.1.2017 ordnete das zuständige Amtsgericht – für sich genommen ordnungsgemäß – seine Unterbringung in einer psychatrischen Klinik bis zum 6.3.2017 an, weil er aufgrund seiner Erkrankung in erheblichem Maße sein Leben, seine Gesundheit und Rechtsgüter anderer gefährde.
Während der Aufenthalts in der Klinik wurde der B am 5.1.2017 auf ärztliche Anordnung hin „5-Punkt-fixiert“. Darunter versteht man, dass der Patient an sämtlichen Gliedmaßen sowie mit einem Bauchgurt am Bett festgebunden wird.
Am 15.1.2017 stellte der B – vertreten durch seinen Rechtsanwalt – im Rahmen eines Verfahrens nach dem FamFG einen Antrag beim zuständigen Gericht mit dem Begehren, die durch die Ärzte angeordnete und durchgeführte Fixierung für rechtswidrig zu erklären. Er sieht sich durch die Fixierung in seinen Freiheitsgrundrechten verletzt. Für die Fixierung fehle es bereits an einer ordnungsgemäßen Rechtsgrundlage. Allerdings wies das Gericht – wie auch die Gerichte der weiteren Instanzen – seinen Antrag zurück. Die Fixierung sei als besonderer Sicherungsmaßnahme rechtmäßig gewesen und könne auf die Vorschriften des Bayerischen Unterbringungsgesetzes gestützt werden.
Nach Entlassung aus der Klinik erhebt der B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde.
Bayerisches Unterbringungsgesetz – Auszug
Art. 12 Unterbringung und Betreuung
- Die nach diesem Gesetz Untergebrachten haben Anspruch, als Kranke behandelt zu werden. Sie werden so untergebracht, behandelt und betreut, dass der Unterbringungszweck bei geringstem Eingriff in die persönliche Freiheit erreicht wird. (…)
Art. 19 Unmittelbarer Zwang
- Bedienstete der Einrichtung dürfen gegen Untergebrachte unmittelbaren Zwang anwenden, wenn dies zur Durchführung des Art. 12 Abs. 1 oder von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung in der Einrichtung erforderlich ist.
- ….
- Unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs sind diejenigen zu wählen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen.
Entscheidung des BVerfG
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
B ist als Grundrechtsträger zulässiger Beschwerdeführer. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich die Entscheidung der Gerichte, mit der die Rechtmäßigkeit der Fixierungsmaßnahme bestätigt wird sowie gegen diese Maßnahmen selbst (Urteilsverfassungsbeschwerde).
Diese Verpflichtung verletzt den B zumindest möglicherweise in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2 GG. N ist auch selbst und unmittelbar betroffen. Problematisch könnte jedoch die gegenwärtige Beschwer sein. Denn zum Zeitpunkt der Verfassungsbeschwerde ist B bereits aus der Klinik entlassen worden. Dazu das BVerfG:
„Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes vorliegt. Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG fortbestehen. Dies ist bei besonders tiefgreifenden und folgenschweren Grundrechtsverstößen insbesondere der Fall, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des BVerfG kaum erlangen konnte. Der Grundrechtsschutz des Betroffenen würde andernfalls in unzumutbarer Weise verkürzt.“
Ein solcher tiefgreifender Grundrechtseingriff liegt hier vor, so dass bei wertender Betrachtung von einer gegenwärtigen Beschwer auszugehen ist. Die erforderliche Beschwerdebefugnis liegt damit vor.
Der Rechtsweg wurde durch den B vor der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft (§ 90 BVerfGG), ein Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist nicht ersichtlich. Die form- und fristgerecht (vgl. §§ 23, 93 Abs. 1 BVerfGG) eingelegte Verfassungsbeschwerde ist somit zulässig.
Begründetheit
Schutzbereich
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A in einem seiner Grundrechte verletzt ist. Dazu müsste ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts vorliegen, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist.
In Betracht kommt hier insbesondere eine Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 GG). Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit der Person unter dem Aspekt der körperlichen Bewegungsfreiheit. Dieses Recht wird von der Fixierung betroffen, so dass der Schutzbereich eröffnet ist.
Eingriff
Zudem müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorliegen. Wie sich aus Art. 104 GG ergibt, unterscheidet das Grundgesetz insoweit zwischen freiheitsbeschränkenden und freiheitsentziehenden Maßnahmen. Das BVerfG grenzt diese beiden Formen nach der Intensität des Eingriffs voneinander ab:
„Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich zugänglich wäre. Die Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung liegt dann vor wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. Sie setzt eine besondere Eingriffsintensität und eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraus.“
Bei der Fixierung handelt es sich grundsätzlich um eine Freiheitsentziehung, soweit sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde nicht unterschreitet.
Gegen die Qualifikation der Fixierung als die – eigenständige – Freiheitsentziehung könnte jedoch die Überlegung sprechen, dass die Betroffenen sich ohnehin aufgrund einer hoheitlich angeordneten Maßnahme in der Unterbringung einer psychatrischen Einrichtung befinden. Insofern könnte man überlegen, dass es sich bei der Fixierung lediglich um eine Modalität der – dem Grunde nach hier zulässigen – Unterbringung handelt.
Dagegen spricht aber, dass die
„nicht nur kurzfristige Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen eines bereits bestehenden Freiheitsentziehungsverhältnisses als eigenständige Freiheitsentziehung zu qualifizieren ist. (…) Die Fixierung weit eine Eingriffsqualität auf, die eine Einordnung als eigenständige Freiheitsentziehung rechtfertigt. Die Fortbewegungsfreiheit des Betroffenen wird bei dieser Form der Fixierung nach jeder Richtung hin vollständig aufgehoben und damit über das bereits mit der Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung verbundene Maß hinaus beschnitten.
Somit liegt ein Eingriff in die Freiheit der Person in der Form einer Freiheitsentziehung vor.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Fraglich ist, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
Nach Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG darf die Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden.
Dabei muss der Grundsatz des Bestimmtheitsgebots beachtet werden, dessen Inhalt das BVerfG entfaltet:
„Die Betroffenen müssen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ausrichten können. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm dienen ferner dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen, sowie die Gerichte in die Lage zu versetzen, die Verwaltung anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren. Dabei sind die Anforderungen an den Grad der Klarheit und Bestimmtheit umso strenger, je intensiver der Grundrechtseingriff ist, den eine Norm rechtfertigen soll. Grundsätzlich fehlt es an der notwendigen Bestimmtheit nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist. Das Bestimmtheitsgebot schließt eine Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht aus. Der Gesetzgeber muss in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Dabei lässt sich der Grad der für eine Norm jeweils erforderlichen Bestimmtheit nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Tatbestands einschließlich der Umstände ab, die zur gesetzlichen Regelung geführt haben. Gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bestehen keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere unter Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt.“
Diese bereits aus dem Rechtsstaatsgebot allgemein abzuleitenden Vorgaben des Bestimmtheitsgebots gelten für den in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Vorbehalt des Gesetzes in besonderer Weise. Der Gesetzesvorbehalt verpflichtet den Gesetzgeber, insbesondere die Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestimmen. Freiheitsentziehungen sind in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln.
Eine weitere – besondere – Schranken-Schranke für Eingriffe in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in der Form der Freiheitsentziehung enthält Art. 104 Abs. 2 GG. Diese Vorschrift enthält den verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung, die nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht.
Was genau aus diesem verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt folgt, stellt das BVerfG dar:
„Aus Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG ergibt sich ein Regelungsauftrag, der den Gesetzgeber verpflichtet, den Richtervorbehalt verfahrensrechtlich auszugestalten. Zwar ist Art. 104 Abs. 2 GG unmittelbar geltendes und anzuwendendes Recht. Die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Richtervorbehalts gem. Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG wird damit aber nicht obsolet. (…) Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Er zielt auf die vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz ab. Das Grundgesetz geht davon aus, dass Richter aufgrund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer strikten Unterwerfung unter das Gesetz (Art. 97 GG) die Rechte der Betroffenen im Einzelfall am besten und am sichersten wahren können. (…) Gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG hat über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden. (…) Die Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Maßnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste. Dies wird bei der Anordnung einer Fixierung zur Abwehr einer von dem Betroffenen ausgehenden akuten Selbst- oder Fremdgefährdung allerdings regelmäßig der Fall sein. Art. 104 Abs. 2 S. 2 GGG fordert in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Das Tatbestandsmerkmal „unverzüglich“ ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss “
Da das bayerische Gesetz weder eine konkrete, ausreichend bestimmte Rechtsgrundlage für die Fixierung noch einen Richtervorbehalt enthält, ist es insofern verfassungswidrig.
Der Beschwerdeführer ist also in seinen Grundrechten verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Fazit und Hinweise
Eine Entscheidung des BVerfG mit erheblicher Praxisrelevanz, das die rechtlichen Grundlagen der Fixierung von Patienten in psychatrischen Kliniken grundlegend verändern wird.
Das Grundrecht der Freiheit der Person erfährt durch die Stärkung des Richtervorbehalts eine besondere Bedeutung.
Aus Prüfersicht ist die Entscheidung aus zweierlei Gründen besonders interessant: Es handelt sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, bei der inzident die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes geprüft und verneint wird. Zudem liegt der Schwerpunkt hier einmal nicht – wie so oft – auf der Verhältnismäßigkeit der Regelung, sondern anderen Schranken-Schranken.