Sachverhalt (erheblich verkürzt und vereinfacht)
Gegen den Beschwerdeführer B, ein rumänischer Staatsangehöriger, wurde ein Europäischer Haftbefehl erlassen auf der Grundlage eines rumänischen Haftbefehls wegen des Verdachts auf Begehung von Urkunden- und Vermögensdelikten in mehreren Fällen. B befindet sich in Deutschland in Auslieferungshaft.
Der EGMR hat Rumänien in mehreren Verfahren wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK verurteilt. Die Haftbedingungen in rumänischen Vollzugsanstalten seien ein Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung. Aus Art. 3 EMRK folge der Anspruch eines Strafgefangenen, einen persönlichen Lebensbereich von mindestens 3 m² zur Verfügung zu haben. Es sei allenfalls für kurze Zeit eine unerhebliche Unterschreitung dieser Mindestgröße zulässig.
In der Rechtsprechung des EuGH ist die Frage noch nicht abschließend geklärt, in welchen Fällen Haftbedingungen einen Verstoß gegen das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung nach Art. 4 EU-GRCh darstellen. Allerdings sollen nach Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh die Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen sind.
Auf Nachfrage der zuständigen deutschen Behörden sicherten die rumänischen Strafvollzugsbehörden zu, dass dem B – je nach Form des Vollzugs – ein persönlicher Raum von
2-3 m² zur Verfügung stehe. Darüber hinaus hätten sich der Umfang der Aufschlusszeiten und Freigänge sowie die Ausstattung der Hafträume mit Warmwasseranschlüssen, Heizungen etc. in den letzten Jahren erheblich verbessert.
Das zuständige Oberlandesgericht erklärte mit Beschluss vom 19.1.2017 die Auslieferung des B nach Rumänien für zulässig. Die Entscheidung wurde im Wesentlichen folgendermaßen begründet:
Der EuGH habe entschieden, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und damit zur Auslieferung verpflichtet seien. Nur unter ganz ungewöhnlichen Umständen, komme eine Ausnahme in Betracht. Dazu müsse insbesondere eine „echte Gefahr“ unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung vorliegen, die hier im Hinblick auf den B aber nicht in Betracht komme. Mit ggf. nur 2 m² würden die Haftzellen zwar die vom EGMR geforderte Mindestgröße unterschreiten. Allerdings müssten in einer Gesamtabwägung auch die übrigen verbesserten Haftbedingungen berücksichtigt werden. Außerdem sprächen die Aspekte der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union und der Vermeidung Deutschland zu einem „safe haven“ für straffällige Unionsbürger werden zu lassen, für die Auslieferung. Eine Vorlage an den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zieht das OLG nicht näher in Betracht.
Es gibt keine weiteren Rechtsmittel gegen den Beschluss des OLG.
Der B erhebt daraufhin form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde und rügt eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter.
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
B ist als Grundrechtsträger – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit – zulässiger Beschwerdeführer. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich die Entscheidung des Oberlandesgerichts über seine Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls (Urteilsverfassungsbeschwerde).
Die fehlende Vorlage der Frage an den EuGH, unter welchen Bedingungen aus Gründen des Grundrechtsschutzes eine Auslieferung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls ausgeschlossen ist, verletzt den B zumindest möglicherweise in seinem grundrechtsgleichen Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Die erforderliche Beschwerdebefugnis liegt damit vor.
Der Rechtsweg wurde durch den B vor der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft (§ 90 BVerfGG), ein Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist nicht ersichtlich. Die form- und fristgerecht (vgl. §§ 23, 93 Abs. 1 BVerfGG) eingelegte Verfassungsbeschwerde ist somit zulässig.
Begründetheit:
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.
Prüfung des Rechts auf den gesetzlichen Richter
In Betracht kommt hier zunächst eine mögliche Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Auch der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Daher sind die deutschen Gerichte verpflichtet unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV den EuGH anzurufen. Verletzt ein Gericht diese Pflicht zur Anrufung, so kann dies ein verfassungswidriger Entzug des gesetzlichen Richters und somit eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 GG sein.
Allerdings hat das BVerfG festgestellt, dass nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Vielmehr überprüft das BVerfG nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Das BVerfG lehnt es ab, die Aufgabe eines „obersten Vorlagenkontrollgerichts“ zu übernehmen.
Das BVerfG nennt drei Fallgruppen, in denen eine Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darstellt:
Die erste Fallgruppe betrifft Fälle,
„in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht)“.
Von der zweiten Fallgruppe sind Fälle erfasst,
„in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft).“
Eine dritte Fallgruppe bezieht sich auf folgende Konstellation:
„Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor, hat die bestehende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet, wird Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschreitet (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ willkürlich bejahen. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts kundig machen, einschlägige Rechtsprechung des EuGH muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren.“
Im vorliegenden Fall kommt eine Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH in Betracht. Der EuGH hat noch nicht die Frage geklärt, unter welchen Umständen die Haftbedingungen eine Verletzung des Rechts aus Art. 4 EU-GRCh, den Schutz gegen unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung darstellen. Wegen Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass sich der EuGH an der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR orientieren wird.
Das BVerfG kommt zu dem Ergebnis, dass das OLG den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum im Hinblick auf seine Vorlagepflicht in unvertretbarer Weise überschritten und dadurch den B in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt hat.
„Es fehlt eine sachliche Begründung dafür, warum im Hinblick auf den Gewährleistungsinhalt von Art. 4 EU-GRCh in Bezug auf konkrete Haftbedingungen eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage vorliegt. Ob und warum die sich aus Art. 4 EU-GRCh ergebenden Mindestanforderungen an Haftbedingungen durch den EuGH abschließend geklärt sind, bleibt offen. Das OLG problematisiert in den angegriffenen Beschlüssen schon nicht, ob die durch Rumänien zugesicherten 2 m² persönlicher Raum, die auf den B entfallen würden, angesichts der deutlichen Unterschreitung von 3 m² noch eine unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums darstellen würde.
(…)
Über die Rechtsprechung des EGMR hinaus führt das OLG in den Entscheidungen schließlich Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union sowie die potentielle Straflosigkeit mutmaßlicher Straftäter bei Nichtauslieferung und die Schaffung eines „safe haven“ als entscheidungserhebliche Belange in die Prüfung ein, ob dem B eine „echte Gefahr“ droht, in Rumänien unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gem. Art. 4 EU-GRCh ausgesetzt zu sein. Die Frage, ob solche Gesichtspunkte für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs von Art .4 EU-GRCh angesichts dessen absoluten Charakters überhaupt eine Rolle spielen können, ist bisher aber in der Rechtsprechung des EuGH nicht beantwortet worden.“
Somit liegt im Ergebnis eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 GG vor. Die Verfassungsbeschwerde des B ist zulässig und begründet und wird daher Erfolg haben.
Fazit und Hinweise:
Es handelt sich um einen anspruchsvollen Fall, der im komplexen Spannungsfeld des Grundrechtsschutzes zwischen den Garantien des Grundgesetzes, der EMRK und der EU-GRCh spielt. Besonders kompliziert wird diese Konstellation dadurch, dass neben der Rechtslage auch das Verhältnis zwischen BVerfG, EuGH und EGMR beachtet werden muss.
Im Kern allerdings gehören solide Kenntnisse des Problems zum europa- und verfassungsrechtlichen Pflichtstoff. Dass der EuGH gesetzlicher Richter und somit eine Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 267 AEUV zugleich eine Verletzung von Art. 101 GG darstellen kann, muss jedem Examenskandidaten bekannt sein.
Der Fall könnte (und wurde im Originalfall) um die ebenfalls anspruchsvolle Frage ergänzt werden, ob sich die Beschwerdebefugnis auch aus einer möglichen Verletzung der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG ergeben kann und das Urteil des OLG auch am Maßstab dieses Grundrechts zu prüfen ist. Wegen der unionsrechtlichen Vorgaben ist dies nach der „Solange“-Rechtsprechung grundsätzlich ausgeschlossen. Allerdings könnte hier ein Fall der „Identitätskontrolle“ nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Denn wegen der Absicherung durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG können Verletzungen der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG auch durch unionsrechtlich determinierte Akte deutscher Staatsorgane nicht akzeptiert werden.
Wegen der vorrangigen Verletzung des Art. 101 Abs. 1 GG – des Rechts auf den gesetzlichen Richter – musste sich das BVerfG mit dieser Frage nicht mehr beschäftigen.