Sachverhalt
Der Beschwerdeführer (B) ist österreichischer Staatsbürger und wohnt auch in Österreich. Er besuchte ein Freizeitbad in der deutschen Gemeinde G. Das Freizeitbad wird organisatorisch von einer Freizeitbad GmbH (F-GmbH) betrieben. Alleiniger Gesellschafter der F-GmbH ist ein Fremdenverkehrsverband (F-Verband). Dies ist ein Zweckverband, der von mehreren Kommunen (ein Landkreis und fünf Gemeinden des Landkreises) gebildet wurde und eine Körperschaft des öffentlichen Rechts darstellt. Die F-GmbH gewährt den Einwohnern der Gemeinden, die Mitglied des F-Verbandes sind, einen ermäßigten Eintrittspreis. Da der B nicht Einwohner dieser Gemeinden ist, wird von ihm der reguläre Eintrittspreis verlangt.
B sieht in dieser Preisgestaltung eine Diskriminierung und erhebt Klage vor dem zuständigen Amtsgericht mit dem Begehren, den Differenzpreis zurückzuerhalten sowie auf Feststellung, dass die F-GmbH verpflichtet sei, ihm in Zukunft den ermäßigten Eintrittspreis zu gewähren.
Das Amtsgericht lehnte einen Anspruch aus § 812 BGB ab. Insbesondere sei der Vertrag – als Grund für die Vermögensverfügung – nicht gem. § 134 BGB nichtig.
Die Berufung des B war ebenfalls erfolglos. Das OLG München verneinte in seiner Begründung insbesondere, dass Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit) oder Art. 18 AEUV (allgemeines Diskriminierungsverbot) ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB darstellen und damit zur Nichtigkeit des Vertrages zwischen B und der F-GmbH führen könnte. Eine Vorlage an den EuGH lehnte das OLG München mit dem Hinweis ab, es gehe nicht um die Auslegung des AEUV (für die der EuGH zuständig sei), sondern allein um die Anwendung auf den konkreten Einzelfall, was Sache der nationalen Gerichte sei.
Nachdem der B auch mit allen weiteren Rechtsbehelfen – insbesondere der Gehörsrüge – erfolglos war, erhob er form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.
Lösung
Zulässigkeit
Für die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 BVerfGG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfGG das Bundesverfassungsgericht zuständig.
Als natürliche Person ist der B ein „Jedermann“ und somit beschwerdefähig.
Als zulässiger Beschwerdegegenstand kommt nach § 90 BVerfGG grundsätzlich jeder Akt öffentlicher Gewalt in Betracht. Dies ist hier der letztinstanzliche Beschluss des OLG München als Akt der Judikative. Damit handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.
Die für die Beschwerdebefugnis gem. § 90 BVerfGG erforderliche mögliche Grundrechtsverletzung ergibt sich daraus, dass eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG und des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 GG zumindest möglich ist.
Zudem ist der B von der Entscheidung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Da es sich um eine letztinstanzliche Entscheidung des OLG handelt, ist hier auch die Voraussetzung der Rechtswegerschöpfung gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erfüllt.
Methode
Dieser Fall ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass nicht nur Entscheidungen der obersten Bundesgerichte (BGH, BVerwG etc.) letztinstanzlich i.S.d. § 90 Abs. 2 BVerfGG sein können.
Es gibt hier auch keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten des B, gegenüber denen die Verfassungsbeschwerde subsidiär wäre. Insbesondere hat nämlich B auch den besonderen Rechtsbehelf der Gehörsrüge bereits erfolglos eingelegt.
Schließlich hat B laut Sachverhalt form- und fristgerecht seine Verfassungsbeschwerde eingereicht, also gem. § 23 BVerfGG schriftlich und begründet und innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der letztinstanzlichen Entscheidung gem. § 93 Abs. 1 BVerfGG.
Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde des B ist begründet, wenn er durch die Gerichtsentscheidungen in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.
Dabei prüft das BVerfG, da es keine Superrevisionsinstanz ist, nicht die Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte. Allerdings kann das BVerfG die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts prüfen. Insbesondere prüft das BVerfG Gerichtsentscheidungen dahingehend, ob sie willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen oder mit verfassungsrechtlichen Vorschriften unvereinbar sind.
Expertentipp
Daraus folgt vor allem, dass Ausführungen über die zivilrechtlich „richtige“ Auslegung der §§ 134, 812, 823 BGB in einer Klausur zur Verfassungsbeschwerde grob fehlerhaft wären. Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sind allein die Grundrechte.
Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz – Art. 3 Abs. 1 GG
Hier kommt zunächst eine Verletzung im allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht. Danach darf wesentlich Gleiches nicht ungleich und wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt werden.
Voraussetzung für eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung ist aber zunächst, dass der Beklagte überhaupt Grundrechtsverpflichteter ist. Die Grundrechte binden gem. Art. 1 Abs. 3 GG grundsätzlich nur die öffentliche Gewalt.
Die F-GmbH wird in einer privatrechtlichen Organisationsform geführt. Diese sind (jedenfalls) dann unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie als öffentliche Unternehmen vollständig im Eigentum des Staates stehen.
Methode
Hier erfolgt die entscheidende Weichenstellung: Wenn es sich bei der F-GmbH nicht um ein „öffentliches Unternehmen“ und damit um einen Grundrechtsverpflichteten i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG handelt, wären die Grundrechte des B allein nach dem (im schwächer ausgeprägten) Gedanken der sog. „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ zu berücksichtigen.
Das BVerfG wiederholt hier die Grundsätze, die sich zur Frage der Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben:
„Art. 1 Abs. 3 GG ordnet die umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt an. Die Grundrechte gelten nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt. Der Staat und andere Träger öffentlicher Gewalt können im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zwar auch am Privatrechtsverkehr teilnehmen. Sie handeln dabei jedoch stets in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags. Ihre unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt daher weder von der Organisationsform ab, in der sie dem Bürger gegenübertreten, noch von der Handlungsform. (…). Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt auch unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt.“
Eine ausdrückliche Absage erteilt das BVerfG der teilweise in der Rechtsprechung der Verwaltungs- und Zivilgerichte vertretenen Auffassung, die in privatrechtlichen Handlungsformen außerhalb des sog. Verwaltungsprivatrechts bloß „fiskalisch“ handelnde öffentliche Gewalt, unterliege keiner Grundrechtsbindung.
Im Ergebnis folgt daraus eindeutig, dass die im Alleineigentum des F-Verbandes (einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft) stehende F-GmbH unmittelbar und uneingeschränkt grundrechts-verpflichtet ist. Dies gilt insbesondere unabhängig davon, ob der Betrieb eines kommunalen Freizeitbades dem Bereich der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ zugeordnet wird oder nicht.
Indem die F-GmbH einen Nachlass auf die Höhe des Eintrittsgelds für das Schwimmbad nur den Einwohnern der Gemeinden auf dem Gebiet des F-Verbandes und nicht auch „fremden“ Besuchern gewährt, liegt eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vor.
Allerdings könnte die Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Dies prüft das BVerfG je nach den konkreten Umständen des Falles nach einem Maßstab, der vom bloßen Willkürverbot bis hin zu einer strengen Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit (sog. „neue Formel“) reicht. Bei der Prüfung von Gerichtsentscheidungen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG geht es darum,
„ob die Anwendung der einfachgesetzlichen Bestimmungen durch das Fachgericht vertretbar ist oder diese auf sachfremden und willkürlichen Erwägungen beruht. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird.“
Fraglich ist hier schon, ob überhaupt und zumindest ein legitimer Zweck für die Ungleichbehandlung vorliegt. Denn jede Ungleichbehandlung muss durch Sachgründe gerechtfertigt sein.
Der unterschiedliche Wohnsitz der ungleich behandelten Personen allein ist kein legitimer Grund für eine Ungleichbehandlung. Allerdings sieht das BVerfG es im Grundsatz als legitim an, eine Ungleichbehandlung an den Wohnsitz anzuknüpfen, wenn dabei ein über die Einnahmenerzielung hinausgehender Zweck verfolgt wird:
„Verfolgt eine Gemeinde durch die Privilegierung Einheimischer das Ziel, knappe Ressourcen auf den eigenen Aufgabenbereich (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) zu beschränken, Gemeindeangehörigen einen Ausgleich für besondere Belastungen zu gewähren oder Auswärtige für einen erhöhten Aufwand in Anspruch zu nehmen oder sollen die kulturellen oder sozialen Belange der örtlichen Gemeinschaft dadurch geändert und der kommunale Zusammenhalt dadurch gestärkt werden, dass Einheimischen besondere Vorteil gewährt werden, so kann dies mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sein.“
Im Hinblick auf den konkreten Fall kann das BVerfG aber nicht erkennen, dass solche legitimen Zwecke mit der Bevorzugung Einheimischer auch tatsächlich verfolgt werden. Denn das Vermarktungskonzept der F-GmbH sei gerade darauf angelegt, auch auswärtige Besucher anzuziehen und den Fremdenverkehr durch den Betrieb entsprechender Einrichtungen zu fördern. Die Förderung des Tourismus ist gerade Zweck der Gründung der F-GmbH durch den F-Verband. Somit werde durch den Betrieb des Freizeitbades gerade nicht der Zweck verfolgt, gerade und in gezielter Weise das kulturelle und soziale Wohl der Einwohner zu fördern und die örtliche Gemeinschaft zu stärken.
Deutliche Worte findet das BVerfG zudem für die Ausführungen des OLG München zu den europarechtlichen Hintergründen im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV und das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV:
„Das Urteil des OLG verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in dessen Ausprägung als Willkürverbot ferner dadurch, dass es Art. 56 AEUV mit Blick auf das darin enthaltene Diskriminierungsverbot nicht als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB ansieht. Diese Annahme lässt sich unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt begründen. (…) Dass das OLG eine Anwendbarkeit von Art. 56 AEUV verneint, ist schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar. Die Auslegung dieser Bestimmung ergibt, im Gegenteil, dass die Wirksamkeit des zwischen dem B und der Beklagten [der F-GmbH] geschlossene Vertrag mit der Garantie aus Art. 56 AEUV unvereinbar ist, als der B im Vergleich zu Einheimischen, die in den Genuss des Preisnachlasses kommen, schlechter behandelt wird.“
Somit liegt eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung und damit eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 3 Abs. 1 GG vor.
Recht auf gesetzlichen Richter – Art. 101 Abs. 1 GG
Daneben kommt auch eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in Betracht. Danach darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
„Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte daher von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen. Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens daher nicht nach, kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein.“
Allerdings verlangt das BVerfG für die Annahme einer Verletzung der Garantie des Art. 101 GG qualifizierte Voraussetzungen:
„Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG setzt voraus, dass die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird unter anderem in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der Entscheidungserheblichkeit einer unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht).“
Eine Verletzung dieser Garantie sieht das BVerfG hier als gegeben an.
Die Verfassungsbeschwerde des B ist somit zulässig und begründet.
Weiterführende Hinweise
Wieder eine Klausur des BVerfG, die wie geschaffen dafür ist, in Prüfungsaufgaben verwendet zu werden.
Denn neben der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde als klassischem „grundrechtlicher“ Rechtsbehelf, lässt sich der Fall mit wenigen Änderungen auch zum Gegenstand einer kommunalrechtlichen oder einer europarechtlichen Klausur verwenden.
Im Kommunalrecht lassen sich hier Fragen des Rechts der öffentlichen Einrichtungen abprüfen. Ebenso wäre es denkbar, eine Satzung, die entsprechende Regelungen enthält, überprüfen zu lassen.
Als europarechtliche Klausur lassen sich hier Grundfreiheiten, insbesondere die (passive) Dienstleistungsfreiheit und das allgemeine Diskriminierungsverbot prüfen. Zudem gibt der Fall Anlass zu Ausführungen über die Vorlageberechtigung und -pflicht nach Art. 267 AEUV.