Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 09.06.2015 (1 StR 606/14 - abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de) die Voraussetzungen des strafrechtlichen Rechtsmäßigkeitsbegriffs noch einmal detailliert dargelegt.
Im zu entscheidenden Fall hatte sich ein Asylbewerber (A) gegen seine bevorstehende Abschiedung mittels Einsatzes eines Messers gegenüber den Polizeibeamten zu wehren versucht. Die zuständige Ausländerbehörde hatte zuvor seine Abschiebung für den 04.02.2014 angeordnet, zugleich aber eine befristete Duldungsverfügung erlassen, mit welcher A ein weiterer Aufenthalt bis zum 14.04.2014 gestattet wurde. Eine Woche nach Ergehen dieser Verfügung beauftragte die Behörde allerdings die zuständige Polizeidirektion mit der Durchführung der Abschiebung am 04.02.2014. Wahrheitswidrig wurde der Polizeidirektion mitgeteilt, dass A entsprechend informiert worden sei. Als nun die Polizeibeamten A abholen wollten, widersetzte dieser sich der Maßnahme. Im Verlauf der Auseinandersetzung zückte er schließlich ein Küchenmesser und versuchte, einen der ihn festnehmen wollenden Polizisten zu verletzen, was jedoch aufgrund der verdeckt getragenen Weste nicht gelang. Dabei nahm er den Tod des Polizisten in Kauf.
Das LG verurteilte A wegen versuchten Totschlags.
Der BGH verneint nun ebenso wie das erstinstanzlich urteilende Landgericht die Rechtswidrigkeit des Angriffs des P auf die Freiheit des A und damit die Voraussetzungen des § 32 StGB. Er führt dazu aus, dass bezüglich der Bestimmung der Rechtmäßigkeit des Handelns von staatlichen Hoheitsträgern ein eigener strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff zugrunde gelegt werden müsse. Insofern sei es nicht von Interesse, dass aufgrund der Duldungsverfügung die Vollstreckung verwaltungsrechtlich rechtswidrig gewesen sei, da im Strafrecht die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns nicht akzessorisch nach der Rechtmäßigkeit des dem Handeln zugrunde liegenden Rechtsgebiets (hier: Verwaltungsrecht) zu bestimmen sei. Nach der Auffasung des BGH, die mittlerweile durch eine Entscheidung des BVerfG (Beschluss vom 30.04.2007 - 1 BvR 1090/06) bestätigt wurde, soll die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handels vielmehr davon abhängen,
- ob der Amtsträger örtlich und sachlich zuständig sei,
- die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten eingehalten worden seien und
- bei der Beurteilung der sachlichen Voraussetzungen keine wesentlichen Sorgfaltsmängel unterlaufen seien.
Handelt der Hoheitsträger im Auftrag und auf Weisung einer anderen Behörde, so dürfe er ferner auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung vertrauen.
Ist die Amtshandlung tatsächlich nach z.B. verwaltungsrechtlichen Normen rechtswidrig und erkennt der Amtsträger dieses irrig nicht, so ist sein Verhalten also nach den o.g. Grundsätzen rechtmäßig. Zu beachten ist jedoch, dass dieses Irrtumsprivileg nur gilt, wenn über tatsächliche Umstände geirrt wird. Überschreitet ein Amtsträger hingegen seine Befiugnisse aufgrund einer rechtlichen Fehleinschätzung, ist seine Diensthandlung auch nach dem strafrechtlichen Rechtsmäßigkeitsbegriff rechtswidrig.
Der BGH begründet die Abweichung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs von der Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handels nach Maßgabe der einschlägigen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften im Wesentlichen wie folgt:
"Der Bundesgerichtshof hat bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit (im Sinne von § 32 StGB und § 113 StGB) von hoheitlichem Handeln stets in den Blick genommen, in welcher Lage sich (Polizei)Vollzugsbeamte bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeit befinden ... Diese müssen sich in der konkreten Situation in der Regel unter einem gewissen zeitlichen Druck auf die Ermittlung eines äußeren Sachverhalts beschränken, ohne die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns auf der Grundlage des materiellen Rechts oder des (Verwaltungs)Vollstreckungsrechts bis in alle Einzelheiten klären zu können ..... Das Bundesverfassungsgericht hat vor dem dargestellten Hintergrund bezüglich der Auslegung des Rechtmäßigkeitsbegriffs in § 113 Abs. 3 StGB verfassungsrechtlich akzeptiert, dass bei der Notwendigkeit umgehenden behördlichen Einschreitens eine Pflicht des betroffenen Bürgers zur Befolgung einer wirksamen, wenn auch gegebenenfalls rechtswidrigen Diensthandlung besteht... Er muss die Amtshandlung grundsätzlich hinnehmen und kann erst nachträglich eine Feststellung der eventuellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme erreichen (BVerfG aaO mwN).
Von diesen Grundsätzen geht auch das Verwaltungsvollstreckungsrecht aus. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, der betroffene Bürger habe eine Pflicht zur Duldung von Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung auch dann, wenn nicht sämtliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gegeben sind....Dies ergibt sich aus den (einfach)gesetzlichen Regelungen über den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Vollstreckungsmaßnahmen in den Verwaltungsvollstreckungs-gesetzen... Der Betroffene ist darauf beschränkt, nachträglichen Rechtsschutz einzuholen. Es ist mit dem Ausschluss der aufschiebenden Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsvollstreckungsmaßnahmen wertungsmäßig nicht zu vereinbaren, gegen solche Maßnahmen dem Betroffenen im Fall ihrer Rechtswidrigkeit das Notwehrrecht aus § 32 StGB einzuräumen ...
Die spezifische Auslegung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB (und § 113 Abs. 3 StGB) bei hoheitlichem Handeln trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die eingesetzten Vollzugsbeamten im Dienst der staatlichen Ordnung tätig werden, die wiederum die Sicherung der Rechtsordnung insgesamt gewährleistet....
Wird - wie hier - der hoheitlich handelnde Beamte mit der Vollstreckung einer durch eine andere Behörde angeordneten Verwaltungsmaßnahme beauftragt, darf er sich grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit der ihm übertragenen Vollstreckung verlassen. Umgekehrt muss die beauftragende Behörde von dem Vollzug der
Maßnahme durch die angewiesene Behörde und deren dort konkret betraute Beamte ausgehen können. Derartige Weisungsverhältnisse bilden im Rechtsstaat das notwendige Bindeglied, um die demokratische Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt sowie die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung gewährleisten zu können..."
Die Grenzen werden vom BGH allerdings dort gezogen, wo rechtswidrige Maßnahmen mit dem Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung (Art 20 Abs. 3 GG) nicht mehr vereinbar sind. Dies sei, so der BGH, der Fall bei Willkür sowie bei Nichtigkeit des Verwaltungsaktes, bei welcher auch im Verwaltungsvollstreckungsrecht die Duldungspflicht des Betroffenen ende.
Die teilweise Entkoppelung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs hat im Schrifttum teilweise erhebliche Kritik erfahren. Einen Überblick zum Streitstand finden Sie bei Engländer, NStZ 2015, 574 ff.