Der 2. Senat des BVerfG hat im einstweiligen Verfahren die 2. und 3. Lesung zum Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetz (GEGÄndG) gestoppt (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 05. Juli 2023, - 2 BvE 4/23 -)
I. Sachverhalt
Der Antragsteller und die dem Antrag beigetretenen sind Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Der ursprüngliche Antragsteller hatte im Organstreitverfahrens die Feststellung der Verletzung seiner Rechte als Mitglied des Deutschen Bundestages durch einzelne Verfahrensschritte im Gesetzgebungsverfahren zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung beantragt.
Der nun verhandelte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zielt darauf ab, dem Deutschen Bundestag vorläufig zu untersagen, die zweite und dritte Lesung des vorgenannten Gesetzentwurfs auf die Tagesordnung zu setzen, solange nicht allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des für die zweite Lesung maßgeblichen Gesetzentwurfs mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind
Zur Begründung wird vorgetragen:
„1. Zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten die Abgeordneten, die nicht zu den Teilnehmern der koalitionsinternen Verhandlungsrunden gehörten, keine belastbare Kenntnis über die geplanten weitreichenden, politisch sehr relevanten und inhaltlich komplexen Regelungen der angekündigten Änderungsanträge, die faktisch einen neuen Gesetzentwurf darstellen würden. Die Informationen beschränkten sich auf zwei Seiten sogenannter Leitplanken und auf unklare, sich zum Teil widersprechende Äußerungen einzelner Abgeordneter der Koalition sowie spekulative Zeitungsartikel.
2. Der Feststellungsantrag in der Hauptsache sei statthaft. Der Antragsteller mache die Verletzung seiner Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 76 f. GG geltend. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei nach § 32 BVerfGG im Organstreit zulässig.“
Zur Verletzung seiner Rechte als Abgeordneter führt der Antragssteller aus, er würde in seinem Recht „zu verhandeln“ aus Art. 42 GG verletzt, das Verfahren sei nicht mehr öffentlich und zurechenbar und unterlaufe die in Art. 76 Abs. 3 S. 5 geregelte „angemessene Frist“.
Der Deutsche Bundestag als Antragsgegner erwiderte, der Antrag sei unzulässig, da die Hauptsache vorweggenommen würde und der Antrag überdies offenkundig unbegründet sei, jedenfalls unbegründet, denn es gelte der Grundsatz der „Legitimation durch Legalität“ und das Verfahren sei - wenn auch kurz – weder eine „zielgerichtete Beschränkung von Abgeordnetenrechten“ noch die „geltend gemachte unzumutbare Erschwernis der Wahrnehmung seiner Mitwirkungsrechte als Abgeordneter“.
II. Entscheidung
Der 2. Senat folgte dem Antrag und gab dem Bundestag auf, die zweite und dritte Lesung zum Gesetzentwurf nicht innerhalb der laufenden Sitzungswoche durchzuführen. Er wich mit der tenorierten einstweiligen Anordnung von dem Antrag des Antragstellers ab, „um die nach der Folgenabwägung betroffenen Rechte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Hierbei berücksichtigt der Senat insbesondere, dass der Eingriff in die Autonomie des Parlaments über die Bestimmung seiner Verfahrensabläufe so gering wie möglich zu halten ist und der Antragsgegner die weitere Terminierung der Verfahrensschritte des vorliegend in Streit stehenden Gesetzgebungsverfahrens unter Beachtung der hier in die Folgenabwägung eingestellten Rechte vornehmen wird.“
Der Senat äußerte sich zunächst zu den Grundlagen einer einstweiligen Anordnung:
„Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erweist sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.
Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.“
Hinweis
So ist im einstweiligen Rechtsschutz immer vorzugehen – 1) ist der Antrag in der Hauptsache unzulässig oder ofenkundig unbegründet? Wenn ja, dann keine einstweilige Anordnung. Falls nein, dann 2) Abwägung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Dabei ist zu beachten, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache regelmäßig unzulässig ist.
Der Senat legt dann dar, wieso keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache vorliegt: „[…] begehrt der Antragsteller mit dem Eilantrag keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache. Gegenstand seines Eilantrags ist die vorläufige Sicherung seiner geltend gemachten Mitwirkungsrechte im Verfahren zum Erlass des Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetzes. Hierzu beantragt er eine Regelungsanordnung, obwohl eine solche in dem auf Feststellung gerichteten Hauptsacheverfahren grundsätzlich nicht ergehen kann. Vorliegend bedarf es einer solchen Regelungsanordnung jedoch, um die Schaffung vollendeter Tatsachen im Sinne eines möglicherweise eintretenden endgültigen Rechtsverlusts zum Nachteil des Antragstellers zu verhindern.“
Hinweis
Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist im einstweiligen Rechtsschutz regelmäßig unzulässig. Anders jedoch, wenn ohne die Regelung ein endgültiger Rechtsverlust droht.
Auch sei keine offensichtliche Unbegründetheit festzustellen: „Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert den Status der Gleichheit der Abgeordneten in einem formellen und umfassenden Sinn. Danach sind alle Abgeordneten berufen, gleichermaßen an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken. Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bundestag abzustimmen (zu „beschließen“, vgl. Art. 42 Abs. 2 GG), sondern auch das Recht zu beraten (zu „verhandeln“, vgl. Art. 42 Abs. 1 GG). Dies setzt eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand voraus). Die Abgeordneten müssen dabei Informationen nicht nur erlangen, sondern diese auch verarbeiten können.“
Der Senat führt dann aus, dass es keine klaren Regelungen zur zeitlichen Länge des Verfahrens gibt: „Dies ist Folge des Umstandes, dass eine abstrakte Bestimmung der Angemessenheit der Dauer einer konkreten Gesetzesberatung nicht möglich ist. Vielmehr bedarf es der Berücksichtigung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls sowohl hinsichtlich des konkreten Gesetzentwurfs als auch hinsichtlich weiterer, die Arbeitsabläufe des Parlaments bestimmender Faktoren.
Auch wenn der Parlamentsmehrheit ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament zusteht, spricht einiges dafür, dass die Verfahrensautonomie die Parlamentsmehrheit nicht von der Beachtung des durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Status der Gleichheit der Abgeordneten entbindet und das Abgeordnetenrecht verletzt wird, wenn es bei der Gestaltung von Gesetzgebungsverfahren ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem Umfang missachtet wird.
Hieran gemessen ist der Antrag auf Feststellung einer Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht offensichtlich unbegründet. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens erscheint offen. Aufgrund der besonderen Umstände bei der Durchführung des streitgegenständlichen Gesetzgebungsverfahrens bedarf die Frage, ob die Wahrnehmung der Verfahrensautonomie der Parlamentsmehrheit vorliegend in ausreichendem Umfang den verfassungsrechtlich garantierten Beteiligungsrechten des Antragstellers Rechnung getragen hat, eingehender Prüfung.“
Hinweis
Um unzulässig zu sein müsste der Antrag offenkundig unbegründet sein. D.h. er kann nach keiner in Betracht kommenden Sichtweise Erfolg haben.
Kurzum: ob tatsächlich Abgeordnetenrechte verletzt wurden kann und wird erst im Hauptsacheverfahren entschieden werden. Nunmehr galt es daher, eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese fiel zu Gunsten der Abgeordneten aus: „Erginge die einstweilige Anordnung und bliebe dem Antrag in der Hauptsache der Erfolg versagt, käme es zu einem erheblichen Eingriff in die Autonomie des Parlaments beziehungsweise der Parlamentsmehrheit und damit in die originäre Zuständigkeit eines anderen obersten Verfassungsorgans. Von einem solchen Eingriff ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich abzusehen. In der vorliegenden Konstellation ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetzes zu einem sein Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2024 nicht berührenden Zeitpunkt ohne Weiteres möglich bliebe.“ Will sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und eine Verschiebung der Lesungen ermöglicht weiterhin eine zeitgerechte Verabschiedung.
„Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte der Antrag in der Hauptsache (jedenfalls) hinsichtlich des geltend gemachten Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe des Antragstellers an der parlamentarischen Willensbildung Erfolg, käme es zu einer irreversiblen, substantiellen Verletzung dieses Rechts. Dem Antragsteller wäre unwiederbringlich die Möglichkeit genommen, bei den Beratungen und der Beschlussfassung über das Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetz seine Mitwirkungsrechte in dem verfassungsrechtlich garantierten Umfang wahrzunehmen. Die irreversible und mit Blick auf die außergewöhnliche Verdichtung des Gesetzgebungsverfahrens substantielle Verletzung seiner Beteiligungsrechte wirkt sich im Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen zulasten des Parlaments und seiner Autonomie aus.“ Die Nachteile bei Nicht-Erlass der Anordnung wären also massiv und ggf. irreversibel.
Hinweis
Das ist die klassische Abwägung – was wäre wenn?
Schlussendlich entschied der Senat sodann mit 5:2 Stimmen, dem Antrag statt zu geben: „Im Ergebnis überwiegt daher unter den der besonderen Umständen des vorliegenden Einzelfalls das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Antragsgegners, der der Umsetzung des konkret verfolgten Gesetzgebungsverfahrens letztlich nicht entgegensteht.“
Die Entscheidung bestätigt erneut die hohen Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung, das bekannte Vorgehen hierbei, und den Standpunkt des BVerfG, sich einerseits nicht in interne Abläufe das Bundestags „einzumischen“, auf der anderen Seite aber die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie und die Rechte der Abgeordneten hoch zu halten.