Mit Urteil vom 15. Juni (2 BvE 4/20 und 5/20) entschied der 2. Senat, dass die damalige Bundeskanzlerin Merkel durch eine im Rahmen einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten der Republik Südafrika am 6. Februar 2020 in Pretoria getätigte Äußerung zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen und deren anschließende Veröffentlichung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung die Partei Alternative für Deutschland (AfD) in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt hat.
Zum Hintergrund und Sachverhalt: Im Februar 2020 wurde Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gewählt. Hier lag nahe, dass Kemmerich auch mit Stimmen von Abgeordneten sowohl der AfD- als auch der CDU-Landtagsfraktion ins Amt gelangte, was zu großer öffentlicher Kritik führte. Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich am Tag nach der Wahl auf einer Reise in Südafrika mit folgenden Worten:
„Die Wahl des Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss.“
Diese Äußerung wurde sowohl auf der Internetseite der Bundeskanzlerin als auch auf der Internetseite der Bundesregierung veröffentlicht.
Der 2. Senat urteilte nun: Bundeskanzlerin Merkel hat mit der getätigten Äußerung in amtlicher Funktion die Antragstellerin negativ qualifiziert und damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt. Der damit verbundene Eingriff in das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ist weder durch den Auftrag des Bundeskanzlers zur Wahrung der Stabilität der Bundesregierung sowie des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft gerechtfertigt, noch handelt es sich um eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Durch die anschließende Veröffentlichung der Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wurde außerdem auf Ressourcen zurückgegriffen, die allein ihnen zur Verfügung standen. Indem sie auf diese Weise das in der Äußerung enthaltene negative Werturteil über die [AfD] verbreitet haben, haben sie diese eigenständig in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb verletzt.
Der Senat führt sodann zur in Art. 21 Abs. 1 S. 1 garantierten Chancengleichheit der Parteien und staatlichen Neutralität (Art. 33 Abs. 3 GG) aus: „Um die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Dies macht es erforderlich, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren. Das Recht, gleichberechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung teilzunehmen, wird regelmäßig verletzt, wenn Staatsorgane als solche zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern auf den Wahlkampf einwirken.“
Im Weiteren stellt das Urteil klar, inwieweit die Äußerung Merkels als amtliche zu qualifizieren und der Regierung zuzurechnen sei. Hierbei weicht die Begründung nicht von bereits bekannten Urteilen ab: „Für die Äußerungsbefugnisse eines einzelnen Mitglieds der Bundesregierung gilt nichts Anderes als für die Bundesregierung als Ganzes. Handelt das Regierungsmitglied in Wahrnehmung seines Ministeramtes, hat es in gleicher Weise wie die Bundesregierung den verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien zu beachten. Dies schließt nicht aus, dass Regierungsmitglieder außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teilnehmen. Es muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten, die den politischen Wettbewerbern verschlossen sind, unterbleibt. Demgemäß verstößt eine Partei ergreifende Äußerung eines Bundesministers im politischen Meinungskampf gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und verletzt die Integrität des freien und offenen Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, wenn sie unter Einsatz der mit dem Ministeramt verbundenen Ressourcen oder unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine aus der Autorität des Amtes fließende besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen.
Für das Amt des Bundeskanzlers gelten diese Maßgaben grundsätzlich in gleicher Weise. Er wirkt entscheidend an der Aufgabe der Regierung zur Staatsleitung mit, aus der jene Autorität und Ressourcenvorteile erwachsen, die für die Bindung an den Grundsatz der Chancengleichheit und die sich daraus ergebenden Neutralitätspflichten ursächlich sind. Soweit seine Äußerungsbefugnisse gegenständlich weiterreichen als die des einzelnen, auf seinen jeweiligen Ressortbereich beschränkten Bundesministers und die Gesamtheit des Regierungshandelns umfassen, entbindet ihn dies bei der Wahrnehmung seiner Rechte nicht von der Pflicht, den Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb und damit das Neutralitätsgebot zu beachten.“ Der Senat betont erneut die Wichtigkeit der Chancengleichheit in der Demokratie. Zudem bleibt es beim Grundsatz: wenn für die Verbreitung einer Meinung staatliche Mittel genutzt werden oder die Äußerungen im amtlichen Kontext fallen sind sie als Eingriff zu werten.
Zunächst qualifiziert das Urteil die Äußerung als amtlich und eben nicht von Angela Merkel als Politikerin der CDU oder gar Privatperson: „Sie fiel im ausschließlich amtsbezogenen Rahmen einer Regierungspressekonferenz, deren Anlass sowie vorgesehener Gegenstand Gespräche waren, welche [Frau Merkel] in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika geführt hatte. Aus der Ankündigung eine ‚Vorbemerkung‘ zu machen, folgt nichts Anderes. Daraus ergibt sich zunächst nur, dass die Äußerung den folgenden Aussagen zu den Inhalten der Gespräche mit den Vertretern der Republik Südafrika vorgelagert sein, nicht jedoch, dass sie außerhalb der Ausübung der Dienstgeschäfte erfolgen sollte. Der Hinweis, die Vorbemerkung ‚aus innenpolitischen Gründen‘ zu machen, ändert am amtlichen Charakter der Äußerung ebenfalls nichts. Denn der Bundeskanzler ist zur verantwortlichen Leitung sowohl der inneren wie auch der äußeren Politik berufen. Inhaltlich lässt die Äußerung keine hinreichende Distanzierung von ihrem Amt erkennen. Sofern sie auf eine Grundüberzeugung der CDU verweist, ist zwar erkennbar, dass sie die Ministerpräsidentenwahl in erster Linie mit Blick auf das Verhalten der Landtagsabgeordneten ihrer eigenen Partei kritisierte. Dies allein rechtfertigt aber nicht den Rückschluss, dass sie sich ausschließlich als Parteipolitikerin äußerte. Gleiches gilt für den Umstand, dass die Äußerung sich auf einen Sachverhalt außerhalb der Regelungszuständigkeit der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers bezog. Die Frage der Kompetenz ist für die Abgrenzung zwischen amtlichem und nichtamtlichem Handeln nicht von Bedeutung. Es wäre ihr unbenommen gewesen, mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde. Von dieser Möglichkeit hat sie keinen Gebrauch gemacht.“ Es ist also auch einer amtlichen Stelle möglich, losgelöst hiervon Meinungen darzutun. Dies muss aber von dieser absolut klar gemacht werden.
Im Folgenden bewertet der Senat die Äußerungen von Frau Merkel: „Die streitgegenständliche Äußerung beinhaltet negative Qualifizierungen der [AfD]. [Bundeskanzlerin Merkel] beschränkt sich in der streitgegenständlichen Äußerung nicht auf eine Bewertung der Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten und des diesbezüglichen Verhaltens der Landtagsabgeordneten der CDU. Vielmehr beinhaltet die Äußerung auch eine grundsätzliche Stellungnahme zum Umgang mit der Antragstellerin und zu deren Verortung im demokratischen Spektrum. Die Aussage, dass die Ministerpräsidentenwahl mit der ‚Grundüberzeugung‘ gebrochen habe, mit ‚der AfD‘ keine Mehrheiten zu bilden, qualifiziert die Antragstellerin insgesamt als eine Partei, mit der jedwede (parlamentarische) Zusammenarbeit von vornherein ausscheidet. Diese Bewertung wird dadurch verstärkt, dass sie den Vorgang als ‚unverzeihlich‘ bezeichnete und forderte, dessen Ergebnis rückgängig zu machen. Indem sie schließlich äußerte, die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen sei ‚ein schlechter Tag für die Demokratie‘ gewesen, hat sie deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der [AfD] an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet, und implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit dieser im demokratischen Gemeinwesen gefällt.“
Diese negative Bewertung ist somit ein Eingriff in das Recht der AfD auf Chancengleichheit und nicht gerechtfertigt. Die Urteilsbegründung erläutert dann, wie Art. 21 Abs.1 S. 1 GG zu werten sei: „Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien unterliegt keinem absoluten Differenzierungsverbot. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen aber durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. Dabei ist jedenfalls den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Erreichung der verfassungsrechtlich legitimierten Zwecke Rechnung zu tragen.“ Einschränkend ist aber zu beachten: „Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Bundesregierung nicht gehindert, sondern sogar verpflichtet ist, für die Grundsätze und Werte der Verfassung einzutreten, und sich im Rahmen ihrer Pflicht zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch mit verfassungsfeindlichen Parteien zu befassen hat.“ Es kann also Fälle gegeben, in denen auch amtliche Stellen negative Formulierungen verwenden dürfen. Hierfür müssen aber gute und wichtige Gründe vorliegen.
Nach Abwägung kommt der Senat im konkreten Fall zum Ergebnis, dass hier diese Vorgaben verletzt wurden. Hierzu heißt es im Urteil: „Es ist nicht erkennbar, dass die Äußerung zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung geboten war. Dass dem Bundeskanzler bei der Beurteilung der Frage, welcher Maßnahmen es zur Erhaltung der Stabilität und der Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung bedarf, ein weiter Einschätzungsspielraum zusteht, entbindet nicht davon, dass plausibel dargelegt werden oder in sonstiger Weise ersichtlich sein muss, dass die Stabilität der Bundesregierung im Einzelfall tatsächlich betroffen gewesen ist und einen Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG erforderlich gemacht hat. Daran fehlt es. […] Ebenso wenig ist erkennbar, dass infolge der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen das Ansehen der und das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in einer Weise betroffen waren, welche die mit der öffentlichen Erklärung verbundene Parteinahme zulasten der Antragstellerin hätte rechtfertigen können.“ Eine Rechtfertigung für den Eingriff ist damit nicht gegeben.
Auch durch die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit sind die Äußerungen nicht gerechtfertigt. Zudem stellt auch die Veröffentlichung der Rede auf den Internetseiten der Regierung sowie des Bundeskanzleramts eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien dar.
Hinweis
Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen, es gab ein Sondervotum der Richterin Wallrabenstein. Diese kam zur Auffassung, die Bundeskanzlerin hat keinen Verfassungsverstoß begangen. Äußert sie sich zu politischen Fragen, unterliegt der Aussageinhalt keiner Neutralitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.