Die einstimmige Entscheidung des 1. Senats (Beschl. v. 19.11.2021, Az. 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21) billigt die Maßnahmen der sog. „Bundesnotbremse“ vom Frühjahr letzten Jahres in der Gesamtheit. Diese wurde als Teils des Maßnahmen-Katalog von § 28b Infektionsschutzgesetz eingefügt und blieb bis Ende Juni in Kraft. So sollte sichergestellt werden, dass überall im Bund gleiche Maßnahmen greifen, sobald die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen die 100 überschritt.
So gab es nächtliche Ausgangssperren zwischen 22 und fünf Uhr; Personen aus einem Haushalt durften sich nur mit einer anderen Person treffen, für Kinder bis 14 gab es Ausnahmen. Schulen mussten ab dem Schwellenwert 100 auf Wechselunterricht umstellen; ab 165 war, mit einigen Ausnahmen, Präsenzunterricht untersagt.
Die Einführung der Regelungen hatte eine Flut von Beschwerde in Karlsruhe ausgelöst. Bis Ende August waren über 300 Verfassungsbeschwerden und Eilanträge eingegangen Zahlreiche Eilanträge hatte das BVerfG bereits abgelehnt. Über ca. 100 Verfassungsbeschwerden will der Erste Senat später entscheiden, sie betreffen z.B. die Einschränkungen und Schließungen im Einzelhandel und dem Hotelgewerbe und Verbote von Präsenz-Kulturveranstaltungen.
Die Beschränkungen hätten „in der Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz“ und dem Schutz des Gesundheitssystems gedient, so die Begründung. Zugrunde gelegt für die Abwägung hat der Senat den Zeitpunkt der Einführung am 22. April 2021.
Bei Eingriffen in Freiheitsrechte ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig, und da bleibt die Begründung der Karlsruher Richterinnen und Richter vage – denn: die einzelnen Maßnahmen werden im Zusammenhang mit einem Gesamtkonzept geprüft, die konkrete Geeignetheit der einzelnen Maßnahmen aber bleibt offen: ihre Wirksamkeit eher gering, die Schwere des Eingriffs ist hoch, damit einzelmaßnahmenbezogen unverhältnismäßig, in der Gesamtschau aber rechtmäßig.
So etwa bei den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen. Hier war offenkundig, dass es gar nicht um den Aufenthalt im Freien ging, sondern Gruppentreffen und dem Weg dorthin einen Riegel vorzuschieben. Die Regelung war also für sich genommen ungeeignet, aber unterstützender Teil der Kontaktbeschränkungen, das BVerfG selbst benennt lediglich eine „unterstützende Funktion“. Dies rechtfertigt der Senat trotz schwerwiegenderer Eingriffsintensität: „Dass der Gesetzgeber sich angesichts seiner Erwägung, dass es zur Abend- und Nachtzeit gelöstes und geselliges Verhalten gibt, verbunden mit dem verstärkten Gefühl, im privaten Rückzugsbereich unbeobachtet zu sein, dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren, ist bei dieser Erkenntnislage nicht zu beanstanden.“
Die Verhältnismäßigkeits-, insbesondere Geeignetheitsprüfung fällt dabei sehr unscharf aus: „Ungeachtet fachwissenschaftlich nicht abschließender Klärung, welchen genauen Beitrag Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens leisten können, lassen die wissenschaftlichen Untersuchungen über die Wirkungen von nächtlichen Ausgangsbeschränkungen, auf die der Gesetzgeber ausdrücklich Bezug genommen hat […], die Maßnahme nicht als offensichtlich wirkungslos oder gar kontraproduktiv erscheinen.“ Das aber träfe und traf auch auf andere Konzepte zu, d.h. es wäre zu prüfen ob nicht andere, ebenso gut oder gar besser geeignete, mildere Mittels den Vorzug hätten erhalten sollen oder künftig erhalten sollten?
Am Nachmittag beriet eine erneute Bund-Länder-Gruppe der Ministerpräsidenten und -innen der Länder unter Leitung der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihres designierten Nachfolgers Olaf Scholz (SPD) über die Lagebewertung unter Beachtung der Entscheidung aus Karlsruhe. Angesichts der hohen Auslastung der Kliniken und der Ausbreitung der neuen Omikron-Variante zeigten sich dabei Bewegungen hin zu einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus. Aus dem Gespräch verlautet, dass die SPD-Seite bereit sei, das erst kürzlich geänderte Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu verschärfen. Weiträumige Schließungen von Gastronomie, Handel oder Schulen sind derzeit nicht mehr möglich, jedoch könnten „zeitlich befristete Schließungen von Restaurants“ als Maßnahme aufgenommen werden. Zudem soll laut SPD-Seite die 2G-Regel auf den Einzelhandel ausgeweitet werden, ausgenommen Geschäfte des täglichen Bedarfs. Diskotheken, Clubs und Bars sollen nach den Konzepten der Unions- oder Grünen-geführten Länder geschlossen werden können. Großveranstaltungen wollen alle Seiten deutlich einschränken, in Schulen soll nach den SPD-Vorschlägen generell wieder die Maskenpflicht eingeführt werden.
Noch-Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) plädierte unter Berufung auf den Beschluss für eine erneute bundesweit einheitliche „Notbremse“: „Wir brauchen jetzt eine Notbremse, die bundesweit nach einheitlichen und für die Bürger nachvollziehbaren Regeln funktioniert“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schloss sich dem an.
Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zog aus der Entscheidung des BVerfG Klarheit für weitere Krisenmaßnahmen; betonte aber auch, der Beschluss sei kein Freibrief für willkürliche Eingriffe in Grundrechte. Bundesweite Einschränkungen des öffentlichen Lebens müssten nach den Karlsruher Vorgaben zeitlich befristet und regional ausdifferenziert werden und sich am Pandemiegeschehen orientieren.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Dirk Wiese, bezeichnete die Entscheidung als „ein wichtiges Grundsatzurteil, das die Rahmenbedingungen für die Gesetzgebung in der Pandemiebekämpfung setzt. Es stuft die ergriffenen flächendeckenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen als mit dem Grundgesetz vereinbar und verhältnismäßig ein“. Johannes Fechner, rechtspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag, ergänzte: „Die erheblichen Bedenken, die das Bundesverfassungsgericht gegen die Schulschließungen aufzeigt, werden wir ernst nehmen“. Der designierte Justizminister Marco Buschmann (FDP) konnte keine Notwendigkeit für eine Kurskorrektur der künftigen Ampel-Koalition erkennen. Da die FDP selbst sich als Beschwerdeführerin nach Karlsruhe gewendet hatte fügte er hinzu man habe sich „natürlich insbesondere mit Blick auf die Ausgangssperren ein anderes Ergebnis gewünscht."