Sachverhalt (vereinfacht)
Der A ist Mitglied einer Gruppe von „Ultra-Fans“ des FC Bayern München. Er besuchte im Jahr 2014 ein Auswärtsspiel gegen den MSV Duisburg. Nach dem Ende des Spiels kam es zu erheblichen Ausschreitungen zwischen den Fans beider Vereine mit Personen- und Sachschäden. Zu der Gruppe von mehreren Dutzend Personen, aus der heraus die Straftaten begangen wurden, gehört auch der A. Daher wurde – u.a. – gegen den A ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch und anderer Delikte eingeleitet. Das Verfahren wurde allerdings wegen Geringfügigkeit gem. § 153 Abs. 1 StPO eingestellt. Konkrete Tathandlungen, die zu den Verletzungen und Sachschäden geführt hatten, konnten dem A nicht nachgewiesen werden.
Als Reaktion auf die Vorfälle sprach der MSV Duisburg gegen den A ein bundesweites Stadionverbot bis zum Jahre 2016 aus. Das Stadionverbot beruht auf dem Hausrecht des Vereins für sein Stadion. Die bundesweite Wirkung des Verbots in den Stadien aller Bundesliga-Vereine beruht auf folgendem rechtlichen Hintergrund: Der MSV Duisburg kann das Stadionverbot zugleich im Namen des Deutschen Fußballbundes, des Ligaverbandes und sämtlicher Vereine der Fußball-Bundesliga aussprechen, da diese sich jeweils wechselseitig zu einem solch umfassend wirkenden Hausverbot bevollmächtigt haben. Auch nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens hielt der MSV Duisburg das Stadionverbot gegen den A aufrecht.
A klagte gegen das bundesweite Stadionverbot zunächst vor den Zivilgerichten – allerdings ohne Erfolg. Auch der Bundesgerichtshof wies die Revision des A zurück und bestätigte die Rechtmäßigkeit des Hausverbots.
A fühlt sich durch das Stadionverbot in seinen Grundrechten verletzt. Angesichts der Tatsache, dass das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wurde, sei es willkürlich. Der MSV Duisburg befinde sich ihm gegenüber in einer solchen Machtposition, dass sich dessen Handeln an den Grundrechten messen lassen müsse. Ihm den Zutritt zu sämtlichen Stadien der Bundesliga-Vereine zu verwehren, stelle angesichts der gesellschaftlich herausragenden Bedeutung des Fußballs eine Diskriminierung dar.
A erhebt daraufhin im Jahr 2018 – also erst nach Ablauf des Stadionverbots – form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
A ist als natürliche Person Grundrechtsträger und somit zulässiger Beschwerdeführer. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, mit dem das vom MSV Duisburg ausgesprochene Stadionverbot bestätigt wird (Urteilsverfassungsbeschwerde).
Zumindest unter dem Aspekt der mittelbaren Drittwirkung erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das Urteil die Grundrechte des A verletzt, insbesondere den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG oder die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG.
Nicht ganz unproblematisch ist im Rahmen der Betroffenheit der Aspekt der „gegenwärtigen Beschwer“. Denn das von vornherein befristete Stadionverbot ist zum Zeitpunkt der Verfassungsbeschwerde bereits nicht mehr in Kraft und hat sich somit erledigt. Dazu führt das BVerfG aus:
„Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann das Rechtsschutzbedürfnis jedoch in Form eines Feststellungsinteresses fortbestehen, wenn Wiederholungsgefahr besteht, eine fortwirkende Beeinträchtigung zu beseitigen ist, tiefgreifende und folgenschwere Grundrechtseingriffe in Rede stehen und sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangt werden kann oder von einem Rehabilitierungsinteresse auszugehen ist.“
Dies kann hier unter zweierlei Aspekten bejaht werden:
Zum einen war der A mehrere Jahre davon ausgeschlossen, Bundesliga-Fußballspiele zu besuchen, was wegen der bundesweiten Geltung und Weitergabe der Daten an verschiedene Vereine und Behörden geeignet ist, sein Ansehen zu beeinträchtigen. Zum anderen konnte er bei einem Instanzenzug über drei Instanzen im Zivilprozess typischerweise keine verfassungsgerichtliche Klärung während des Verfahrens erlangen.
Somit ist der A also auch gegenwärtig (sowie selbst und unmittelbar) betroffen.
Der Rechtsweg wurde durch den B vor der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft (§ 90 BVerfGG), ein Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist nicht ersichtlich. Die form- und fristgerecht (vgl. §§ 23, 93 Abs. 1 BVerfGG) eingelegte Verfassungsbeschwerde ist somit zulässig.
Begründetheit:
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.
Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen eine zivilgerichtliche Entscheidung ist zu beachten, dass das BVerfG nicht das einfache Recht auslegt, sondern sich darauf beschränkt, die Entscheidung des Zivilgerichts auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz und zivilgerichtliche Urteile werden nur auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hin geprüft. Eine solche Verletzung liegt insbesondere vor, die Gerichte Schutzbereich und Bedeutung der Grundrechte verkannt haben.
In Betracht kommt hier insbesondere eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG. Indem der MSV Duisburg dem A gegenüber ein Stadionverbot verhängt, sein Hausrecht also so ausübt, dass A nicht weiter als Besucher an Fußball-Bundesliga-Spielen teilnehmen kann, wird der A gegenüber anderen Fußballfans – die das Stadion besuchen dürfen – ungleich behandelt.
Bindung des MSV Duisburg an den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz – Mittelbare Drittwirkung
Fraglich ist aber, ob der MSV Duisburg überhaupt an die Grundrechte wie den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gebunden ist. Denn nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte grundsätzlich nur Hoheitsträger. Allerdings kommt eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in Betracht.
„Die angegriffenen Entscheidungen betreffen einen Rechtsstreit zwischen Privaten über die Reichweite der zivilrechtlichen Befugnisse aus Eigentum und Besitz gegenüber Dritten. Nach ständiger Rechtsprechung können die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten. Danach verpflichten die Grundrechte die Privaten grundsätzlich nicht unmittelbar untereinander selbst. Sie entfalten jedoch auch auf die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen Ausstrahlungswirkung und sind von den Fachgerichten insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte strahlen so als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen in das Zivilrecht ein.“
Anschließend stellt das BVerfG klar, welche zivilrechtlichen Normen hier konkret als „Einfallstor“ für die Grundrechte in Betracht kommen. Die zivilgerichtlichen Entscheidungen stützen sich auf die §§ 862, 1004 BGB. Aus verfassungsrechtlicher Sicht geht es um eine Abwägung zwischen der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsgarantie der Vereine einerseits und dem Schutz vor Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG andererseits.
Dabei stellt das BVerfG klar, dass es grundsätzlich zur Freiheit jeder Person gehört, selbst darüber zu bestimmen, mit wem und unter welchen Bedingungen sie welche Verträge abschließen will. Diese Privatautonomie ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.
Allerdings können sich – so das BVerfG – gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen privaten aus Art. 3 Abs. 1 GG für bestimmte Konstellationen ergeben:
„Maßgeblich für die mittelbare Drittwirkung des Gleichbehandlungsgebots ist dessen Charakter als einseitiger, auf das Hausrecht gestützter Ausschluss von Veranstaltungen, die aufgrund eigener Entscheidung der Veranstaltereinem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Indem ein Privater eine solche Veranstaltung ins Werk setzt, erwächst ihm von Verfassungs wegen auch eine besondere rechtliche Verantwortung. Er darf seine hier aus dem Hausrecht – so wie in anderen Fällen möglicherweise aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit – resultierende Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen.“
Im Kern geht es hier also um eine Abwägung zwischen der Eigentumsgarantie und dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser verlangt in seiner Ausprägung als Willkürverbot vor allem, dass das Hausrecht nicht ohne sachlichen Grund ausgeübt wurde.
Bei der Abwägung ist wiederum der spezifische Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts zu beachten: Die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Eigentumsgarantie und dem Gleichbehandlungsverbot bei einem Stadionverbot ist in erster Linie Aufgabe der Zivilgerichte, denen das BVerfG hier einen weiten Spielraum einräumt.
Im konkreten Fall führt das BVerfG dazu aus:
„Verfassungsrechtlich ist nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte einen sachlichen Grund zur Verhängung eines Stadionverbots in der begründeten Besorgnis sehen, dass von einer Person die Gefahr künftiger Störungen ausgeht. Angesichts des berechtigten Interesses der Stadionbetreiber an einem störungsfreien Verlauf der Fußballspiele und ihrer Verantwortung für die Sicherheit von Sportlern und Publikum bedarf es hierfür nicht der Erweislichkeit vorheriger Straftaten oder rechtswidrigen Handelns.“
Nach diesem Maßstab sind die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen der Zivilgerichte nicht zu beanstanden. Das zivilgerichtlich bestätigte Stadionverbot kann sich auf einen sachlichen Grund stützen. Die objektive Tatsache, die das Stadionverbot rechtfertigen kann, ist zunächst die Einleitung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Aber auch für die Zeit nach der Einstellung des Verfahrens auf der Grundlage des § 153 StPO liegt ein ausreichender sachlicher Grund vor.
„Zwar kann nach Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer selbst Straftaten begangen hat. Mit der Einstellung des Verfahrens sind jedoch nicht die Umstände entfallen, die zunächst den Anfangsverdacht für die Einleitung des Verfahrens und auch die weitere Besorgnis künftiger Störungen seitens des Beschwerdeführers begründeten: Der Beschwerdeführer hat sich wissentlich in einem zu Gewalttätigkeiten neigenden Umfeld bewegt, aus dem heraus auch tatsächlich erhebliche Gewalttaten begangen wurden.“
Somit liegt keine Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes gem. Art. 3 Abs. 1 GG vor. Die Verfassungsbeschwerde des A ist zulässig, aber unbegründet.
Fazit und Hinweise:
Die Entscheidung dürfte schon allein deshalb Gegenstand von Examens- und Prüfungsklausuren werden, weil der Sachverhalt von großem allgemeinem Interesse ist.
Aber auch grundrechtsdogmatisch handelt es sich um eine sehr wichtige Entscheidung. Das BVerfG erhielt Gelegenheit, sich wieder einmal ausführlich zur Frage der Grundrechtsbindung und Grundrechtswirkung zwischen Privaten zu äußern. Auffällig ist, dass das BVerfG sich ausdrücklich – auch von der Terminologie her – zur Figur der „mittelbaren Drittwirkung“ bekennt. Ansätze in der Literatur, die das Phänomen der Grundrechtswirkung zwischen Privaten allein mit Rückgriff auf die sog. „Schutzpflichtfunktion“ der Grundrechte zu erklären versuchen, können sich also jedenfalls in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht durchsetzen.
Für Studierende stellen grundrechtliche Klausuren zu dieser Problematik eine besondere Herausforderung dar: Es geht darum, den bekannten Prüfungsaufbau zu modifizieren, um das Problem der „mittelbaren Drittwirkung“ angemessen behandeln zu können.
Im Hinblick auf eine mittelbare Drittwirkung bei der Prüfung von Freiheitsgrundrechten halten wir – unter der Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge – folgende zwei Punkte für am wichtigsten:
Die Problematik sollte – spätestens – beim Eingriff angesprochen werden. Denn hier liegt niemals eine klassische „staatliche“ Maßnahme vor. Von wenig Problembewusstsein zeugen insbesondere knappe Formulierungen, die es schlicht ausreichen lassen, dass hier das Urteil eines staatlichen Gerichts vorliegt: damit wird die Problematik der Drittwirkung der Grundrechte zwischen Privaten schon im Ansatz verkannt.
Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist keine strikte Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen. Private sind daran nicht in gleichem Maße wie der Staat gebunden und dürfen – gerade im Rahmen ihrer Privatautonomie – auch „ungeeignete“ Maßnahmen ergreifen. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt hier also darauf, ob die Zivilgerichte eine nachvollziehbare Abwägung der verschiedenen betroffenen Grundrechtspositionen vorgenommen haben – oder aber die Bedeutung der Grundrechte grundlegend verkannt haben.