Musste der Bundestag die „Homo-Ehe“ auf die Tagesordnung nehmen?
Sachverhalt
Die G-Fraktion hatte im Oktober 2013 einen Gesetzentwurf zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare in den Bundestag eingebracht. Nach der ersten Beratung wurde der Entwurf im Dezember 2013 an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages (Rechtsausschuss) zur weiteren Beratung überwiesen.
Zu dem Gesetzentwurf wurde im September 2015 vom Rechtsausschuss eine öffentliche Anhörung durchgeführt. Danach wurde die Behandlung des Gesetzentwurfs in den Sitzungen des Ausschusses regelmäßig vertagt. Konkret wurde zwischen September 2015 und März 2017 in 25 Fällen eine Vertagung des Gesetzentwurfs im Rechtsausschuss mit einfacher Mehrheit – und gegen die Stimmen der Mitglieder der G-Fraktion – beschlossen. Dadurch kam es auch nicht zu einer weiteren Behandlung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag, insbesondere nicht zu einer zweiten Lesung. Es fand lediglich im März 2017 eine „Aktuelle Stunde“ zum Thema „Ehe für alle“ statt, in der allerdings keine verbindlichen Beschlüsse gefasst wurden.
Nachdem der Gesetzentwurf im Rechtsausschuss am 17.05.2017 erneut vertagt wurde, stellte die G-Fraktion einen Antrag beim BVerfG, im Wege einer einstweiligen Anordnung den Rechtsausschuss dazu verpflichten, über den Gesetzentwurf so zeitnah Beschluss zu fassen, dass im Plenum des Deutschen Bundestages spätestens in der (planmäßigen) letzten Sitzung am 30.06.2017 eine Beschlussfassung über diese Vorlagen möglich ist.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfG kann das BVerfG einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG fehlt das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht in den Fällen, in denen ein Verfahren in der Hauptsache noch nicht anhängig ist.
Begründetheit
Prüfungsmaßstab
Der Maßstab für die Begründetheit eines Antrags nach § 32 Abs. 1 BVerfG unterscheidet sich grundsätzlich von dem des vorläufigen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten nach § 80 Abs. 5 VwGO. Die Gründe, die für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen – also die summarischen Erfolgsaussichten – bleiben grundsätzlich außer Betracht.
Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Hauptsache von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist.
Zweifelhafte Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens in der Hauptsache
Zweifel bestehen hier schon, ob ein Hauptsacheverfahren zulässig wäre. In Betracht kommt grundsätzlich ein Organstreitverfahren nach §§ 63 ff. BVerfGG. Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG ist ein Antrag im Organstreitverfahren zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet.
In diesem Fall hier ist zweifelhaft, ob die G-Fraktion antragsbefugt ist. Denn der Initiant eines Gesetzgebungsverfahrens hat zwar
„Anspruch auf Beratung und Beschlussfassung seiner Vorlage. Dieser Anspruch ergibt sich aus dem Wesen des Gesetzesinitiativrechts und gilt für alle gem. Art. 76 Abs. 1 GG Initiativberechtigten gleichermaßen. Der Befassungsanspruch des Gesetzesinitianten richtet sich aber gegen des Plenum des Bundestages, das als Organ der Gesetzgebung die Gesetze gem. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG beschließt. Demgegenüber ist die Beratung eines Gesetzentwurfs durch die Ausschüsse des Bundestages als bloß vorbereitende Handlung des parlamentarischen Innenbereichs zu qualifizieren“.
Möglicherweise hätte der Antrag also statt gegen den Rechtsausschuss, gegen den Deutschen Bundestag als Gesamtorgan gerichtet werden müssen. Letztlich hat dieser die Verantwortung für die Beschlussfassung und nach den §§ 62 und 80 GO-BT auch ausreichende Möglichkeiten notfalls gegen den Willen des Rechtsausschusses über einen Gesetzentwurf zu beraten und diesen zu beschließen.
Allerdings kann das BVerfG diese Frage offenlassen.
Offensichtliche Unbegründetheit eines Organstreitverfahrens in der Hauptsache
Denn jedenfalls wäre ein Organstreitverfahren in der Hauptsache offensichtlich unbegründet.
Zunächst gibt es grundsätzlich ein Recht des Initiativberechtigten, dass der Bundestag sich mit seinem Vorschlag beschäftigt. Der Bundestag muss darüber beraten und Beschluss fassen. Diese Beschlussfassung darf nicht ohne sachlichen Grund ganz oder auf unbestimmte Zeit verweigert werden.
Diese Pflicht konkretisiert das BVerfG näher:
„In zeitlicher Hinsicht beinhaltet das Befassungsrecht des Gesetzesinitianten die Pflicht der Gesetzgebungsorgane über Vorlagen in angemessener Pflicht zu beraten und Beschluss zu fassen. Soweit Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG diese Pflicht ausdrücklich nur auf Gesetzesvorlagen des Bundesrates bezieht, handelt es sich um die deklaratorische Feststellung einer gegenüber allen Initiativberechtigten gleichermaßen bestehenden Pflicht. (…) Allerdings enthält das Grundgesetz keine konkreten Vorgaben zur Bestimmung der Angemessenheit der Dauer der Gesetzesberatung. Ebenso wenig lassen sich der Geschäftsordnung des Bundestages Anhaltspunkte zur Konkretisierung der Frist entnehmen, die hinsichtlich der Beratung einer konkreten Gesetzesvorlage als angemessen angesehen werden kann. Stattdessen bedarf es einer Berücksichtigung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalles sowohl hinsichtlich des konkreten Gesetzentwurfs (Umfang, Komplexität, Dringlichkeit, Entscheidungsreife) als auch hinsichtlich weiterer die Arbeitsabläufe des Parlaments beeinflussender Faktoren. Dabei ist es grundsätzlich dem Parlament vorbehalten, die Prioritäten bei der Bearbeitung der ihm vorliegenden Angelegenheiten selbst zu bestimmen.“
Wie weit das BVerfG hier den Einschätzungs- und Handlungsspielraum des Parlaments als Ganzes fasst, wird insbesondere daran deutlich, dass das BVerfG es ausdrücklich für hinnehmbar erachtet, dass bestimmte Gesetzentwürfe mit dem Ende der Legislaturperiode gem. § 125 S. 1 GO-BT der Diskontinuität unterfallen und damit überhaupt nicht behandelt werden.
Anhand dieses Maßstabs kommt eine Verletzung des Anspruchs auf Beratung und Beschlussfassung über einen Gesetzentwurf also nur in Ausnahmefällen in Betracht.
Einen solchen Ausnahmefall sieht das BVerfG hier nicht als gegeben an, da weder eine willkürliche Verschleppung der Beschlussfassung über den Gesetzentwurf der G-Fraktion noch eine Entleerung des Gesetzesinitiativrechts festgestellt werden kann.
Dies begründet das BVerfG näher:
„Gegen die Annahme einer Verschleppung der Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe ohne jeden sachlichen Grund spricht, dass die regelmäßige Vertagung der Beratung und Beschlussfassung der Gesetzentwürfe durch den Rechtsausschuss Teil eines nicht abgeschlossenen politischen Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozesses gewesen sein könnte. (…) Vor diesem Hintergrund erscheint es denkbar, dass der Verzicht auf die Beschlussfassung über die Gesetzentwürfe mit dem Ziel der Herstellung oder Verbreiterung einer mehrheitlichen Unterstützung für das Projekt der gleichgeschlechtlichen Ehe und damit nicht ohne sachlichen Grund erfolgte. (…)
Einer Verletzung des Gesetzesinitiativrechts aus Art. 76 Abs. 1 GG steht ferner entgegen, dass die Gesetzentwürfe Gegenstand mehrfacher und ausführlicher Beratungen im Plenum des Deutschen Bundestags waren. Sie wurden zunächst bei der Einbringung und Überweisung an den Rechtsausschuss im Dezember 2013 diskutiert. (…) Außerdem führte der Antragsgegner am 28.09.2015 eine öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Antragstellerin durch. Schließlich fand am 8.3.2017 zu dem Regelungsgegenstand des Gesetzentwurfs eine Aktuelle Stunde „Ehe für alle“ im Plenum des Deutschen Bundestages statt.“
Klausurrelevanz und weitere Hinweise
Politisch hat sich die Frage, die dieser Eilentscheidung des BVerfG zu Grunde lag inzwischen erledigt. Der Bundestag hat die Einführung der Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare beschlossen. Die hier vom BVerfG aufgestellten staatsorganisationsrechtlichen Grundsätze verlieren aber dadurch nicht an Bedeutung für Klausuren und Prüfungsfälle. Das Gericht hat herausgearbeitet, dass die Frage, wann im Bundestag über ein Gesetzesvorhaben abzustimmen ist, sich nach Gesichtspunkten bestimmt, die in stärkerem Maße das Ergebnis einer politischen Mehrheitsbildung als dasjenige einer rechtlich strukturierten und gerichtlich überprüfbaren Entscheidung ist.
Völlig unproblematisch kann die Konstellation in staatsrechtlichen Sachverhalten auf jedes andere Gesetzgebungsvorhaben übertragen und damit zum Gegenstand einer (Examens-)Klausur werden.
Mit Spannung kann erwartet werden, ob das BVerfG Gelegenheit erhält, die Fragen der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Einführung der „Ehe für alle“ zu entscheiden. Laut Presseberichten prüft die bayerische Landesregierung die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs. Als Landesregierung wäre sie zulässiger Antragsteller im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle.