Der Entscheidung des BVerfG (NJW 1985, 2395) lag folgender Sachverhalt (gekürzt) zugrunde:
Im Mai 1976 fanden erste - teils gewaltsame - Demonstrationen gegen das im Bau befindliche Kernkraftwerk in Brokdorf statt. Am 14. Februar 1981 beschlossen dann mehrere Bürgerinitiativen (A), am 28. Februar eine gemeinsame Großdemonstration abzuhalten, die am 23. Februar 1981 offiziell angemeldet werden sollte und bewarben den Plan. An diesem Tag erließ der Landrat des Kreises Steinburg eine Allgemeinverfügung, durch die im Zeitraum vom 27. 02 bis zum 01. 03. 1981 alle gegen das Kernkraftwerk gerichteten Demonstrationen am Baugelände und dem umliegenden Gebiet verboten, sofortige Vollziehung der Allgemeinverfügung wurde angeordnet.
Als Begründung wurde ausgeführt, dass entgegen der gesetzlichen Regelung von § 14 Versammlungsgesetz bisher keine Anmeldung erfolgt sei. Selbst wenn die Demonstration bereits angemeldet gewesen wäre, hätte sie aber untersagt werden müssen, da davon auszugehen sei, dass es zu unfriedlichen Handlungen kommen werde. Hierbei stütze sich das Landratsamt auf Zeitungsberichte, Angaben in Flugblättern verschiedener Gruppierungen und Erfahrungen bei anderen Demonstrationen.
Dieses Verbot wurde letztinstanzlich vom zstdg. OVG bestätigt. Das OVG begründete seine Entscheidung damit, dass fraglich sei, inwieweit eine nicht angemeldete Versammlung überhaupt den Schutz von Art. 8 GG genießen könne.
Der potentielle Anmelder der Versammlung, ein volljähriger Deutscher (A) legte Verfassungsbeschwerde ein.
Hat die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers A Aussicht auf Erfolg?
Hinweis
Von der formellen Verfassungsmäßigkeit der §§ 14, 15 VersG ist auszugehen. Der Landrat war zuständig.
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BverfGG.
II. Beschwerdeberechtigung
Der Beschwerdeführer A müsste auch beschwerdeberechtigt sein. Beschwerdeberechtigt ist nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG „Jedermann“. „Jedermann“ i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist derjenige, der Träger der im konkreten Fall in Betracht kommenden Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ist. Ebenso müsste der A prozessfähig sein. Prozessfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch selbstbestimmte Bevollmächtigte vorzunehmen. Von beiden Eigenschaften ist beim volljährigen Deutschen A auszugehen, damit ist A beschwerdefähig.
III. Beschwerdegegenstand
Tauglicher Beschwerdegegenstand kann nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Erfasst sind alle Maßnahmen der Gesetzgebung, der Verwaltung oder der Rechtsprechung. A wendet sich hier gegen das verbotsbestätigende Urteil des OVG und damit gegen eine Maßnahme der Rechtsprechung. Das Urteil stellt somit einen tauglichen Beschwerdegegenstand dar.
IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG
Der Beschwerdeführer muss gemäß Art. 93 I Nr. 4 a, § 90 I BVerfGG geltend machen, durch den Beschwerdegegenstand möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein. Das angegriffene belastende Urteil ist an A gerichtet und ohne weiteren Umsetzungsakt ihm gegenüber wirksam, so dass er gegenwärtig und unmittelbar in seinen eigenen Grundrechten betroffen ist. In Betracht kommt eine Verletzung seines Rechts aus Art. 8 I GG. Schutzgut des Art.8 I GG ist die Versammlungsfreiheit und auch die kollektive Meinungsäußerung. Grundlage des Urteils war der Umstand, dass die Versammlung des A nicht angemeldet war und verboten wurde. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Gericht die Relevanz der Art. 8 I GG für seine Entscheidung übersehen bzw. Bedeutung oder Inhalt der Grundrechte verkannt und damit A in seinen Grundrechten verletzt hat. Folglich ist A beschwerdefähig.
V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II 1 BVerfGG
Darüber hinaus statuiert § 90 II 1 BVerfGG das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung. Soweit dem Beschwerdeführer der ordentliche Rechtsweg offensteht, muss dieser vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich durchlaufen werden. Der A hat, bevor er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben hat, erst den gesamten Instanzenzug (bis zum OVG) erfolglos durchlaufen. Damit ist der ordentliche Rechtsweg für das Begehren des A ausgeschöpft. Das Kriterium der Rechtswegerschöpfung ist für die Verfassungsbeschwerde des A infolgedessen erfüllt.
VI. Subsidiarität
Über die Rechtswegerschöpfung hinaus sind alle Möglichkeiten, gerichtlichen Rechtsschutz mittelbar oder außergerichtlichen Rechtsschutz zu erhalten, auszuschöpfen. Der A hat keine anderen Möglichkeiten sich gegen das Urteil zur Wehr zu setzen, somit ist auch die Subsidiarität gegeben.
VII. Frist und Form, §§ 93, 23 BVerfGG
A muss die Verfassungsbeschwerde fristgerecht, d.h. gemäß § 93 I 1 BVerfGG innerhalb eines Monats erheben, und nach §§ 23 I, 92 BVerfGG schriftlich und begründet einreichen.
VIII. Zwischenergebnis
Damit ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Sie bedarf der Annahme zur Entscheidung, § 93 a) BVerfGG.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde müsste auch begründet sein. Dies ist der Fall, wenn der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
Es kommt eine Verletzung von Grundrechten durch das letztinstanzliche Urteil in Betracht.
I. Verletzung der Versammlungsfreiheit gem. Artikel 8 I GG
Der Beschwerdeführer A könnte in seinem Grundrecht aus Art. 8 I GG verletzt worden sein. Dafür müsste der Schutzbereich eröffnet sein und es müsste ein Eingriff vorliegen, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste eröffnet sein.
a) Persönlicher Schutzbereich
Art. 8 I GG ist ein Deutschen- Grundrecht. A ist Deutscher nach Art. 116 GG, sodass der persönliche Schutzbereich eröffnet ist.
b) Sachlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob auch der sachliche Schutzbereich eröffnet ist. Art. 8 I GG schützt „Versammlungen“. Eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG ist ein Zusammenschluss mehrerer Personen jedenfalls für eine gewisse Dauer und zu einem gemeinsamen Zweck.
Die weiteren Anforderungen an die einzelnen Begriffsmerkmale sind umstritten. Insbesondere ist streitig, wie hoch die notwendige Teilnehmerzahl sein muss, um eine Versammlung bejahen zu können.
Eine Ansicht stellt auf § 56 BGB ab und verlangt mind. 7 Personen. Nach einer anderen Ansicht sollen mind. 3 Personen anwesend sein. Die überwiegende Ansicht bejaht eine Versammlung bereits bei 2 Personen.
Die erste Ansicht nimmt eine viel zu große Einschränkung vor. Auch der Verweis auf § 56 BGB überzeugt nicht, da dieser für Vereine konzipiert ist und auf eine Versammlung i.S.d. Artikels 8 GG nicht übertragen werden kann. Hier haben sich mit A noch viele weitere Personen versammelt, sodass zumindest nach den beiden anderen Ansichten eine ausreichende Teilnehmerzahl vorlag.
Streitig ist auch, welche Anforderungen an den gemeinsamen Zweck zu stellen sind. Nach dem weiten Versammlungsbegriff, ist jeder Zweck beliebiger Art ausreichend, sodass ein Meinungsbildungsprozess nicht zwingend vorliegen muss. Nach dem engen Versammlungsbegriff muss sich der Zweck auf eine öffentliche Angelegenheit beziehen. Der erweiterte Versammlungsbegriff lässt jeden Zweck ausreichen, solange er sich auf irgendeinen Meinungsbildungsprozess bezieht. Ein Streitentscheid kann jedoch dahinstehen, wenn schon nach der engsten Ansicht ein gemeinsamer Zweck vorliegt.
Hier wollte der Beschwerdeführer gegen den Bau eines Kernkraftwerkes demonstrieren und somit eine öffentliche Angelegenheit ansprechen. Damit liegt schon nach dem engen Versammlungsbegriff ein gemeinsamer Zweck vor, sodass ein Streitentscheid dahinstehen kann.
Art. 8 I GG schützt jedoch nur friedliche Versammlungen und ohne Waffen. Hier geschah die Demonstration ohne Waffen. Fraglich ist, ob sie friedlich war. Wann eine Versammlung friedlich ist, wird negativ definiert. Eine Versammlung ist dann friedlich, wenn sie insgesamt keinen aufrührerischen Verlauf nimmt. Vorliegend war zwar die erste Versammlung im Jahre 1976 gewaltsam, selbiges gilt jedoch nicht für die geplante Versammlung am 28.2. 1981. Sogar eine vorherige unfriedliche Versammlung lässt nicht automatisch darauf schließen, dass es auch bei weiteren Demonstrationen zu Gewalthandlungen kommen wird.
Somit liegt hier eine Versammlung vor. Damit ist auch der sachliche Schutzbereich eröffnet.
2. Eingriff
Es müsste auch ein Eingriff vorliegen. Ein Eingriff liegt vor, soweit das Recht sich zu versammeln durch eine staatliche Maßnahme erschwert oder unmöglich gemacht wird. Durch das letztinstanzliche Urteil wird dem A sein Verhalten, das in den Schutzbereich des Art. 8 I GG fällt, unmöglich gemacht. Damit liegt ein Eingriff vor.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Dies ist der Fall, wenn eine den Schrankenbestimmungen des Grundrechts entsprechende Schranke vorliegt, die ihrerseits verfassungsgemäß ist und im Einzelfall verfassungsgemäß angewandt wurde.
a) Schranke des Art. 8 II GG
Es müsste eine Schranke vorliegen. Art. 8 II GG enthält einen qualifizierten Schrankenvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel. Maßgebend ist dabei ausschließlich die seitliche Begrenzung des in Frage stehenden Versammlungsortes. Hier sollte die Versammlung vor dem Kraftwerk, mithin unter freiem Himmel stattfinden. Daher kann Art. 8 I GG durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Hier kommen §§ 14, 15 VersG in Betracht.
b) Verfassungsmäßigkeit der §§ 14, 15 VersG
Fraglich ist, ob die §§ 14, 15 VersG selbst verfassungsgemäß sind.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Ausweislich des Bearbeitervermerks ist von der formellen Verfassungsmäßigkeit der §§ 14, 15 VersG auszugehen.
bb) materielle Verfassungsmäßigkeit
Problematisch ist, ob auch die materielle Verfassungsmäßigkeit der §§ 14, 15 VersG vorliegt.
(1) Verhältnismäßigkeit
Die §§ 14, 15 VersG könnten gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, welches aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GG abgeleitet wird.
Die §§ 14, 15 VersG sind verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sind.
Legitimer Zweck
§§ 14, 15 VersG müssten zunächst einen legitimen Zweck verfolgen. Die §§ 14, 15 VersG dienen dem Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von Versammlungen ausgehen, und dem Schutz der Versammlung und ihrer Teilnehmer selbst. Damit liegt ein legitimer Zweck vor.
Die §§ 14, 15 VersG sind auch geeignet den Zweck zumindest zu fördern.
Es sind auch keine milderen und gleich geeigneten Maßnahmen ersichtlich, um diesen Zweck zu fördern.
Die gesetzlichen Grundlagen der §§ 14, 15 VersG müssten jedoch auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinn sein.
Problematisch könnte die generelle Anmeldepflicht in § 14 VersG sein. Dagegen spricht jedoch, dass eine generelle Anmeldepflicht noch keine Erlaubnispflicht darstellt und daher i.d.R auch nicht so schwerwiegende Nachteile für geplante Versammlungen mit sich bringt.
Etwas anderes gilt freilich jedoch dann, wenn die Norm uneingeschränkt und pauschal zum Einsatz kommt und dadurch den Anwendungsbereich des Art. 8 I GG zu stark einschränkt.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Spontanversammlung faktisch nicht mehr stattfinden kann, ohne gegen die Anmeldepflicht aus § 14 VersG zu verstoßen.
Eine Spontanversammlung liegt vor, wenn die Versammlung nicht geplant ist und keinen Veranstalter hat, sondern sich „aus dem Augenblick heraus” entwickelt, also Entschluss und Durchführung unmittelbar zusammenfallen.
Es ist jedoch mit Hinblick auf den konstitutiven Charakter des Art. 8 I GG schlichtweg nicht nachvollziehbar, warum Spontanversammlungen vom Schutz des Art. 8 I GG ausgeschlossen werden sollen. Es besteht mithin jedoch die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung des § 14 VersG, sodass das Anmeldeerfordernis für Spontanversammlungen entfällt. Somit ist § 14 VersG nicht per se unangemessen.
Für eine Unangemessenheit des § 15 VersG liegen ebenfalls keine Bedenken vor.
(2) Zwischenergebnis
Damit sind die §§ 14, 15 VersG angemessen und verhältnismäßig.
cc) Zwischenergebnis
Die § 14, 15 VersG sind formell und materiell verfassungsgemäß.
Damit liegt auch eine taugliche Schranke vor.
c) Verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall (VHM)
Diese müsste auch im Einzelfall verfassungsgemäß zur Anwendung gekommen sein. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz und prüft daher nur Verstöße gegen spezifisches Verfassungsrecht.
Das Verbot könnte hier unverhältnismäßig gewesen sein.
Hier brachte das Berufungsgericht zunächst vor, dass die Demonstration nicht angemeldet gewesen sei und daher bereits der Schutzbereich des Art. 8 I GG fraglich sei. Dies überzeugt schon deshalb nicht, da der Schutzbereich des Art. 8 I GG unabhängig vom Vorliegen der Erlaubnis aus § 14 I VersG eröffnet ist und daher auch vollumfänglichen Schutz genießt. Anders als das Berufungsgericht meinte, liegt daher eine Versammlung vor.
Überdies wurde das Versammlungsverbot mit einer drohenden gewalttätigen Auseinandersetzung begründet. Zwar ist richtig, dass eine Versammlung iSd Art. 8 I GG nur geschützt wird, wenn sie friedlich und ohne Waffen stattfindet, jedoch muss bzgl. eines Verbots für die Zukunft ein strenger Prognosemaßstab angesetzt werden.
Es wurde nicht berücksichtigt, dass die ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen bereits 5 Jahre zurückliegen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist jedoch in diesem Fall nur dann gewahrt, wenn aus erkennbaren Umständen herleitbare und unmittelbare Gefährdungen gleichrangiger Rechtsgüter vorliegen. Die Behörden sind daher dazu gehalten möglichst versammlungsfreundlich zu verfahren, um die Grundrechtsverwirklichung des schlichtweg konstitutiven Grundrechts aus Art. 8 GG zu gewährleisten. Dies ist, wie bereits beschrieben, hier nicht erfolgt. Auch ist es nicht ausreichend, wenn sich diese Informationen auf mögliche gewalttätige Auseinandersetzungen aus Zeitungsberichten und Flugblätter stützen. Vielmehr muss ein strengerer Maßstab zur Gefahrenprognose gelten, damit genug Anlass besteht die konkret geplante Demonstration zu verbieten.
Somit war die Anwendung der §§ 14, 15 VersG im konkreten Einzelfall und damit das hierauf gestützte generelle Versammlungsverbot unverhältnismäßig und verfassungswidrig.
II. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Sie wird damit Erfolg haben.