Sachverhalt (vereinfacht)
(nach VG Gelsenkirchen, Urt. v. 23.10.2018, Az. 14 K 3543/18)
B hat eine Versammlung zum Thema „Freiheit für Ferkel“ angemeldet, mit der er gegen das „schreiende Unrecht“ in der Massen-Tierhaltung demonstrieren will.
Seinem Aufruf folgen ca. 200 Bürger, die sich am 1.3.2019 auf dem Marktplatz der Gemeinde X versammeln.
Die Polizei – als nach dem Landesrecht zuständige Versammlungsbehörde – begleitete die Versammlung, die insgesamt friedlich und ohne besondere Vorkommnisse verlief.
Zwei Polizeibeamte machten mit einer Digitalkamera Fotos von der Versammlung, auf denen auch der B zu sehen war. Auf diese Maßnahme angesprochen beruhigte der Polizist den B: Die Aufnahmen dienten nicht zur Vorbereitung polizeilicher Maßnahmen und würden auch nicht in polizeilichen Datenbanken gespeichert. Er sei Mitglied des „Social Media“-Teams der Polizei. Die Fotos würden – was zutrifft – ausschließlich im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit auf den üblichen Social-Media-Kanälen verbreitet. In modernen Zeiten sei diese Form der Pressearbeit auch zur Nachwuchsgewinnung erforderlich und im Übrigen auch vom Informationsauftrag des Staates gedeckt.
B fordert die Polizisten auf, das Fotografieren einzustellen. Einige Versammlungsteilnehmer hätten ihn bereits auf die „Fotografiererei“ angesprochen. Unabhängig von der weiteren Verwendung der Fotos, fühle er sich durch solche polizeilichen Maßnahmen überwacht. Die Polizisten lassen sich davon nicht beeindrucken und erstellen weitere Fotos. Auf diesen sind ganz überwiegend Polizeibeamte und Polizeifahrzeuge zu sehen. Die Versammlungsteilnehmer erscheinen im Hintergrund. Aufgrund der Art der Aufnahmen sowie der (geringen) Bildqualität sind Versammlungsteilnehmer nicht individuell zu erkennen.
Grundlage der Pressearbeit der Polizei ist ein Runderlass des Innenministeriums, der Ziele und Instrumente der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Polizei näher regelt.
Nach Abschluss der Versammlung erhebt B, der weitere Versammlungen plant, Klage gegen die Polizei, da er das Fotografieren für rechtswidrig hält.
Zulässigkeit
Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, so dass der Verwaltungsrechtsweg nach
§ 40 VwGO eröffnet ist. Insbesondere liegt keine überwiegend strafprozessual begründete Maßnahme der Polizei vor, die als Justizverwaltungsakt gem. § 23 EGGVG ggf. den ordentlichen Gerichten zugewiesen wäre.
Die Klage ist statthaft als Feststellungsklage gem. 43 Abs. 1 VwGO analog. Denn bei der Maßnahme der Polizei handelt es sich um einen Realakt. Für einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG fehlt es beim Fotografieren an der regelnden Wirkung. Vielmehr wird über das feststellungsfähige Rechtsverhältnis gestritten, kraft dessen die Polizei berechtigt war, die beschriebenen Aufnahmen von der Versammlung zu machen.
Dass das Rechtsverhältnis bereits in der Vergangenheit liegt, ist für die Zulässigkeit unschädlich. Auch vergangene, bereits „erledigte“ Rechtsverhältnisse können Gegenstand einer Feststellungsklage sein.
Allerdings ergeben sich in diesem Fall besondere Anforderungen an das Feststellungsinteresse, wobei man sich an den Fallgruppen für die Fortsetzungsfeststellungsklage orientieren kann.
„Es ist anerkannt, dass bei erheblichen Grundrechtseingriffen, hier jedenfalls in Art. 8 GG, die sich aus ihrer Natur heraus kurzfristig erledigen, ein Interesse an der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit besteht, da andernfalls effektiver Rechtsschutz i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG nicht gewährleistet wäre. Eine solche kurzfristige Erledigung der Grundrechtsbeeinträchtigung erfolgt typischerweise im Versammlungsrecht, so dass die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle in diesem Bereich nicht davon abhängig gemacht werden kann, ob die Beeinträchtigung erledigt ist oder nicht. Das Feststellungsinteresse wird hier nach allgemeiner Auffassung durch das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG begründet.“
Schließlich will B weitere Versammlungen durchführen, so dass eine konkrete Wiederholungsgefahr vorliegt.
Die für die Feststellungsklage in analoger Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis folgt aus einer möglichen Verletzung des B in seinen Rechten aus Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit) und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht).
Die Vorschriften über die Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62 VwGO) und den richtigen Klagegegner (§ 78 Nr. 1 VwGO) stehen der Zulässigkeit der Klage des B hier nicht entgegen.
Somit ist die Klage des B zulässig.
Begründetheit:
Die Feststellungsklage des B ist begründet, wenn die Anfertigung von Fotos der Versammlung rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes ist für staatliche Maßnahmen, die einen Grundrechtseingriff darstellen, eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich.
Fraglich ist, ob die Aufnahmen, die den B nicht individuell erkennen lassen und auch nicht Grundlage weitergehender polizeilicher Maßnahmen sind, bereits als Grundrechtseingriff zu qualifizieren sind.
In Betracht kommt hier ein Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG, dessen persönlicher und sachlicher Schutzbereich eröffnet ist.
Zu der hier entscheidenden Frage, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt und daher eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist führt das VG Gelsenkirchen unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des BVerfG aus:
„Die Anfertigung von Fotos oder auch von Videoaufzeichnungen einer Versammlung durch die Polizei ist nach heutigem Stand der Technik für die Aufgezeichneten ein Grundrechtseingriff, da auch in Übersichtsaufzeichnungen die Einzelpersonen in der Regel individualisierbar erfasst sind. Denn ein Versammlungsteilnehmer muss mit der Möglichkeit rechnen, auf den von der Polizei gefertigten Lichtbildern eindeutig identifiziert werden zu können. (…) Bereits die Erstellung von Übersichtsaufzeichnungen durch Polizeibeamte führt zu gewichtigen Nachteilen. Sie begründet für die Teilnehmer an einer Versammlung das Bewusstsein, dass ihre Teilnahme unabhängig von einem zu verantwortenden Anlass festgehalten werden können und die gewonnenen Daten über die konkrete Versammlung hinaus verfügbar bleiben. (…) Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise „staatlich“ festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Denn wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Derartige Einschüchterungseffekte können bereits durch die bloße Präsenz einer aufnahmebereiten Kamera entstehen, auch wenn das Geschehen nicht durch Speicherung festgehalten wird.“
Somit liegt hier ein Grundrechtseingriff vor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es für B und die anderen Teilnehmer der Versammlung nicht zu erkennen ist, ob und welche Bilder gemacht werden und wie diese weiter gespeichert und ggf. verarbeitet werden.
Es ist also eine Ermächtigungsgrundlage für den Kameraeinsatz erforderlich.
Diese könnte sich zum einen aus dem Versammlungsgesetz ergeben, da es sich bei der Veranstaltung um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG handelt.
Im VersG ist die Zulässigkeit von Bild- und Tonaufnahmen in den §§ 12a und 19a VersG geregelt. Danach sind solche Aufnahmen nur zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zulässig. Dies ist hier aber nicht der Fall: Weder lag objektiv eine Gefahr vor, die von der Versammlung ausging, noch wurde die Polizei subjektiv zur Abwehr einer Gefahr tätig.
Nach dem Grundsatz der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ kommen andere Ermächtigungsgrundlagen, insbesondere solche aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht nicht in Betracht.
Hilfsweise prüft das VG Gelsenkirchen noch eine mögliche Rechtfertigung des Eingriffs über § 23 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (KunstUrhG). Die Regelung des § 23 KunstUrhG sei jedoch nicht isoliert zu sehen, sondern im Lichte der Grundrechte verfassungskonform auszulegen:
„Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Veröffentlichung von Bildern (…) stellt maßgeblich auf die in diesem Zusammenhang relevante Pressefreiheit ab, wägt diese jedoch mit dem grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht der abgebildeten Personen ab. Gleiches muss für die durch Art. 8 GG geschützte Versammlungsfreiheit gelten, die zu einer Einschränkung der generellen Berechtigung solche Bilder anzufertigen und zu veröffentlichen jedenfalls dann führt, wenn die Bilder von der Versammlung durch staatliche Stellen aufgenommen werden. (…) Der Schutzbereich des Grundrechts kann nicht dadurch umgangen werden, dass die Anfertigung der Aufnahmen durch die Polizei mit dem Argument einer zeitgerechten Öffentlichkeitsarbeit begründet wird.“
Insgesamt ergibt sich, dass für die polizeiliche Aufnahme von Fotos keine Ermächtigungsgrundlage einschlägig ist, obwohl diese wegen der Eingriffsqualität der Maßnahme erforderlich gewesen wäre. Die Feststellungsklage ist daher zulässig und begründet und hat daher Aussicht auf Erfolg.
Hinweis
Fazit und Hinweise:
Die Entscheidung zeigt erneut, welche polizei-, versammlungs- und verfassungsrechtlichen Fragestellungen sich durch den Einsatz von Videokameras ergeben. Die dogmatischen Grundlagen sowie die Einwirkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aus Art. 5 und Art. 8 GG sollten Sie unbedingt beherrschen.
Vom Verwaltungsgericht nicht zu entscheiden, aber doch naheliegend, ist die Frage, ob – neben dem Eingriff in die Versammlungsfreiheit – hier zugleich ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vorliegt, das grundsätzlich auch das Recht am eigenen Bild umfasst.
In weiteren Ausführungen zieht das VG Gelsenkirchen zudem noch eine Rechtfertigung nach dem Landespressegesetz (§ 4 LPresseG NRW) sowie dem Landesdatenschutzgesetz (§ 3DSG NRW) in Betracht. Auch wenn die Vorschriften hier im Ergebnis nicht greifen, ist die Entscheidung ein guter Anlass einmal einen Blick in das Presse- und Datenschutzgesetz Ihres Landesrechts zu werfen.