Der BGH (Urteil vom 04.02.2021 – 4 StR 403/20) musste sich jüngst mit folgendem Sachverhalt auseinandersetzen:
Der sich in persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten befindliche A fasste spontan den Entschluss, sich umzubringen. Nach erheblichem Alkoholkonsum steuerte er sein Fahrzeug mit einem BAK Wert von mindestens 1,8 ‰ und höchstens 2,65 ‰ mit einer Geschwindigkeit von mindestens 120 km/h bei erlaubten 100 km/h auf die spätere Unfallkreuzung mit einer - wie ihm bekannt war - vorfahrtsberechtigten Straße zu. Wegen dichten Bewuchses am Straßenrand war es ihm nicht möglich, von rechts in den Kreuzungsbereich einfahrende, vorfahrtsberechtigte Fahrzeuge rechtzeitig wahrzunehmen und sein Fahrzeug gegebenenfalls abzubremsen, was er aufgrund seines Suizidentschlusses ohnehin nicht vorhatte. A hielt zumindest für möglich, dass es im Kreuzungsbereich zu einer Kollision mit einem anderen Fahrzeug kommen und Insassen desselben hierdurch zu Tode kommen könnten, was ihm gleichgültig war. Tatsächlich prallte das Fahrzeug des A ungebremst mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h im rechten Winkel auf ein aus einem Kleintransporter und Anhänger bestehendes vorfahrtsberechtigtes Fahrzeuggespann. In der Folge wurde der Kleintransporter gegen eine Holzhütte geschleudert. Seine Fahrerin F erlitt Prellungen und Schnittwunden.
A könnte sich zunächst gem. §§ 212, 211, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben, indem er unter Missachtung der Vorfahrt in die Kreuzung einfuhr.
Dann müsste sich sein Tatentschluss auf die Tötung der von rechts kommenden F gerichtet haben. In Betracht kommt dolus eventualis, der von der bewussten Fahrlässigkeit abzugrenzen ist. Der BGH hat zunächst ausgeführt, wie dolus eventualis zu definieren und von der Fahrlässigkeit abzugrenzen ist:
„In rechtlicher Hinsicht ist nach ständiger Rechtsprechung bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement) ….. Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.“
Sowohl beim bedingten Vorsatz als auch bei der bewussten Fahrlässigkeit hält also der Täter den Erfolgseintritt für möglich. Der Unterschied liegt im subjektiven: beim Vorsatz findet sich der Täter mit dem Erfolgseintritt ab, bei der Fahrlässigkeit vertraut er auf dessen Ausbleiben.
Sofern der Täter sich nicht dazu einlässt, was er sich gedacht hat, ist das innere Vorstellungsbild anhand objektiver Kriterien zu ermitteln. Je gefährlicher die Tathandlung und je wahrscheinlicher der Tötungserfolg ist, desto eher wird man dem Täter dolus eventualis unterstellen können. Aufgrund der bei einer Tötung zu überwindenden Hemmschwelle sind aber an die Begründung des Tötungsvorsatzes besonders hohe Anforderungen zu stellen. Insbesondere müssen sich die Gerichte – und damit auch Sie in einer Klausur – mit den vorsatzkritischen Aspekten auseinandersetzen. Dazu gehören affektive Erregungszustände und alkoholbedingte Verwirrung ebenso dazu wie vor allem bei den Verkehrsunfällen eine mögliche Eigengefährdung.
Nach Auffassung des BGH hat sich das LG überzeugend mit allen Aspekten auseinandergesetzt und den Tötungsvorsatz nachvollziehbar begründet:
„Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts - unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts - rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat die die Tat kennzeichnenden besonderen Umstände, namentlich die Alkoholisierung des Angeklagten … sowie die spontane und in affektiver Erregung erfolgte Tatbegehung … in Betracht gezogen und sich mit ihnen vorsatzkritisch auseinandergesetzt.
Dass das Landgericht eine alkoholbedingte Beeinträchtigung des Wissens- oder des Willenselements des bedingten Vorsatzes im Hinblick auf die Alkoholgewöhnung des Angeklagten und seine unbeeinträchtigte Fähigkeit, sein Fahrzeug auch bei schneller Kurvenfahrt zu beherrschen, verneint hat, liegt im Rahmen der revisionsrechtlich hinzunehmenden tatrichterlichen Würdigung. Seine Überzeugung, dass der Angeklagte die als möglich erkannte Tötung eines Unfallgegners durch den Zusammenstoß auch billigte, hat das Landgericht maßgeblich mit darauf gestützt, dass der Angeklagte sich selbst töten wollte und es ihm dabei gleichgültig war, dass ein etwaiger Unfallgegner ebenfalls zu Tode kommen könnte. Dies hat die Strafkammer in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als durch Äußerungen des Angeklagten vor und nach der Tat belegt angesehen. Insbesondere räumte der Angeklagte unmittelbar nach dem Unfall während seiner medizinischen Erstversorgung Zeugen gegenüber ein, dass er sich habe umbringen wollen und es ihm „egal“ sei, dass ein Unfallbeteiligter getroffen worden sei….
Vor diesem Hintergrund ist die Beweiswürdigung auch nicht deshalb lückenhaft, weil das Landgericht die durch einen Unfall drohende Gefahr für die eigene körperliche Integrität des Angeklagten nicht als wesentlichen vorsatzkritischen Umstand erwogen hat. Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, zwar zu beachten, dass eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen kann, dass er auf einen guten Ausgang vertraut hat (BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 - 4StR 482/19, NStZ 2020, 602, 605; vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 95; Beschluss vom 6. August 2019 - 4 StR 255/19, NStZ-RR 2019, 343, 344). Die riskante und letztlich unfallursächliche Fahrweise des Angeklagten beruhte nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts hier aber gerade darauf, dass er einen Unfall herbeiführen wollte, bei dem er selbst zu Tode kommen wollte und weitere Beteiligte geschädigt werden konnten.“
Expertentipp
In einer Klausur wird es in Fällen wie diesen – vgl. dazu auch den Berliner „Raserfall“ (NStZ 2020, 602) – darauf ankommen, sauber den Unterschied zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit herauszuarbeiten und dann anhand des Sachverhalts plausibel zu argumentieren unter Ausschöpfung aller Aspekte, die Ihnen der Sachverhalt mitteilt.
Damit bezog sich der Tatentschluss des A auf die Tötung der F. Fraglich ist, ob er sich darüber hinaus auch auf Mordmerkmale bezog. In Betracht kommt vor allem die Heimtücke. Heimtücke ist das bewusste Ausnutzen der Arg- und darauf beruhenden Wehrlosigkeit. Sicherlich kann davon ausgegangen werden, dass F objektiv arg- und wehrlos war. Beim Versuch kommt es aber auf die Vorstellung des Täters an.
Anders als beim Berliner „Raserfall“ hat der BGH in diesem Fall die Heimtücke verneint.
„Eine Verurteilung wegen eines Heimtückemordes setzt neben dem - vom Landgericht bejahten - objektiven Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers ein subjektives Element in Gestalt eines Ausnutzungsbewusstseins voraus. Hierfür genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu … An diesem Bewusstsein kann es bei affektiven Durchbrüchen oder sonstigen heftigen Gemütsbewegungen allerdings fehlen … Wenn auch nicht jeder dieser Zustände einen Täter daran hindert, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tatbegehung zu erkennen, so kann doch insbesondere die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass er ohne das erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gehandelt hat ….
Nach diesen Grundsätzen ist die Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke durch das Landgericht aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Das Landgericht hat den rechtlichen Maßstab nicht verkannt; es hat ausdrücklich zugrunde gelegt, dass aus einer festgestellten starken affektiven Erregung nicht ohne weiteres auf ein fehlendes Ausnutzungsbewusstsein geschlossen werden darf. Dass es sich angesichts der Umstände des Falles nicht davon zu überzeugen vermocht hat, dass der mit spontan gefasstem Selbsttötungsentschluss und in starker affektiver Erregung handelnde, zudem erheblich alkoholisierte Angeklagte sich der Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des (potentiellen) Tatopfers nicht bewusst wurde, hält sich im Rahmen der dem Tatrichter vorbehaltenen Würdigung und ist vom Revisionsgericht hinzunehmen.
Die dieser Bewertung zugrundeliegende Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Sie weist keine durchgreifenden Lücken, Widersprüche oder sonstigen Rechtsfehler auf. Insbesondere ist sie nicht deshalb lückenhaft, weil das Landgericht unberücksichtigt gelassen hat, dass die Umsetzung des Suizidentschlusses des Angeklagten zwingend voraussetzte, einen etwaigen Unfallgegner so zu überraschen, dass dieser eine Kollision nicht mehr vermeiden kann. Denn das Landgericht hat gerade nicht festgestellt, dass der Angeklagte allein darauf zielte, seinen Selbsttötungsentschluss durch einen Zusammenstoß mit einem kreuzenden Fahrzeug umzusetzen.
Auch der Umstand, dass der Angeklagte sich schon vor dem Tattag mit Selbsttötungsgedanken getragen hatte, bedurfte keiner näheren Erörterung. Das Landgericht hat bei seiner Bewertung der subjektiven Seite eines Heimtückemordes zu Recht erst auf den Zeitpunkt abgestellt, in dem sich diese Gedanken spontan zu einem Tatentschluss verdichtet hatten.
Es ist schließlich auch nicht widersprüchlich, sondern eine zulässige tatrichterliche Schlussfolgerung, dass das Landgericht den Angeklagten aufgrund der festgestellten psychischen Ausnahmesituation zwar noch in der Lage gesehen hat, den Erfolg des § 212 StGB als mögliche Folge seiner Handlung zu erkennen und das Unrecht der Tat einzusehen, nicht aber auch eine darüber hinausgehende „Bedeutungskenntnis“ zu erlangen und sich der Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zu werden.“
Expertentipp
Sollte Ihnen ein vergleichbarer Fall in einer Klausur begegnen, dann achten Sie darauf, was der Täter sich vorgestellt hat. Hat er sich vorgestellt, gerade infolge einer Kollision mit einem anderen Fahrzeug zu sterben, dann kann das Ausnutzungsbewusstsein bejaht werden. Ist es hingegen auch möglich, dass er sich vorstellte, bei einem Ausweichmanöver oder nach einem leichten Touchieren mit einem anderen Fahrzeug mit einem Laternenpfahl zu kollidieren und infolgedessen zu sterben, dann fehlt das Ausnutzungsbewusstsein. Fälle wie der vorliegende, bei welchen der Täter den Tod eines anderen infolge einer Kollision in Kauf nimmt aber zugleich nicht über die Arg- und Wehrlosigkeit des anderen nachdenkt, sind allerding selten und hier sicherlich nur durch den psychischen Ausnahmezustand und die Alkoholisierung zu erklären.
Da andere Mordmerkmale nicht ersichtlich sind, hat sich A gem. §§ 212, 22, 23 StGB strafbar gemacht.
Des Weiteren hat sich A auch gem. §§ 223, 224 I Nr. 2 und 5 StGB strafbar gemacht. Das Auto ist in diesem Zusammenhang ein gefährliches Werkzeug. Dazu der BGH:
„Zwar erfordert eine Verurteilung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nach der ständigen Rechtsprechung des BGH, dass die Körperverletzung durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel eingetreten ist. Wird ein Kraftfahrzeug als Werkzeug eingesetzt, muss die körperliche Misshandlung also bereits durch den Anstoß selbst ausgelöst sein. Verletzungen, die erst durch ein anschließendes Sturzgeschehen oder eine Ausweichbewegung des Tatopfers verursacht worden sind, genügen insoweit nicht … Die Feststellungen zum Unfallgeschehen, namentlich zu der Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Angeklagten im Moment des Aufpralls und zum Schadensbild an dem Transporter der Geschädigten, belegen aber noch hinreichend, dass deren Verletzungen wenigstens zu einem Teil bereits unmittelbar durch das Auftreffen des Fahrzeugs des Angeklagten auf das Gespann der Geschädigten und nicht erst durch den anschließenden Anstoß des Kleintransporters der Geschädigten an die Holzhütte bewirkt wurden.“
Schließlich kommen noch Straßenverkehrsdelikte und hier vor allem aufgrund der Alkoholisierung § 315c I Nr. 1a StGB in Betracht. Mit mindestens 1,8 % war A absolut fahruntauglich und damit nicht mehr in der Lage, ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr sicher zu führen. Auch bestand für F eine konkrete Gefahr, die sich in ihrer Verletzung realisiert hat. Diese Gefahr muss aber „dadurch“ entstanden sein, also kausal und unmittelbar auf der Alkoholisierung und der damit einhergehenden Fahruntauglichkeit beruhen. Das Einfahren in die Kreuzung und die Missachtung der Vorfahrt beruhten aber auf dem Selbsttötungsentschluss und nicht auf der Alkoholisierung. Es hat sich also nicht das typische Risiko des Fahrens unter Alkoholeinfluss, sondern ein anderes Risiko verwirklicht. § 315c I Nr. 1a ist nicht verwirklicht. A hat sich aber natürlich gem. § 316 StGB strafbar gemacht.
Daneben hat er sich gem. § 315c I Nr. 2 a und d StGB strafbar gemacht, indem er mit überhöhter Geschwindigkeit grob verkehrswidrig und rücksichtslos in die nicht einsehbare Kreuzung einfuhr und dabei die Vorfahrt der F missachtete.
Fraglich ist, ob sich A auch gem. § 315b I Nr. 3 strafbar gemacht hat.
Dann müsste er die Sicherheit des Straßenverkehrs durch einen ebenso gefährlichen Eingriff und dadurch zugleich Leib und Leben eines anderen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert gefährdet haben.
Grundsätzlich erfasst § 315b I nur Eingriffe, die von außen in den Straßenverkehr hineinwirken, wie z.B. das Hinabwerfen von Steinen auf der Autobahn. Ausnahmsweise werden aber auch Eingriffe erfasst, die aus dem Straßenverkehr heraus vorgenommen werden, jedoch nicht mit den typischen Gefahren des Straßenverkehrs zusammenhängen und deswegen wie Außeneigriffe anzusehen sind. Voraussetzung für diese Gleichsetzung ist, dass der Täter das Fahrzeug absichtlich pervertiert und darüber hinaus nicht nur einen Gefährdungsvorsatz, sondern einen Verletzungsvorsatz bzgl. Leib, Leben oder einer fremden Sache hat.
Hier hat A das Fahrzeug eingesetzt, um zum einen sich selbst zum anderen aber auch einen anderen durch eine Kollision zu verletzen. Er hat es damit verkehrsatypisch als Waffe zweckentfremdet = pervertiert und tat das auch absichtlich. Bzgl. einer Verletzung sogar Tötung der F handelte er zudem mit dolus eventualis, wie bereits ausgeführt. Durch diese Pervertierung hat er auch kausal und unmittelbar eine konkrete Gefahr für das Leben der F und deren Eigentum herbeigeführt, sodass der Tatbestand verwirklicht ist.
Da alle anderen Voraussetzungen ebenfalls gegeben sind, hat A sich auch gem. § 315b I Nr. 3 StGB strafbar gemacht. Nach Auffassung des BGH (a.a.O.) verdrängt der § 315b I Nr. 3 den § 315c I Nr. 2 a und d StGB.