Sachverhalt:
Die Firma A betreibt eine Verkaufsstelle der Möbelbranche. Sie hält § 12 III ThürLadÖffG für verfassungswidrig. Sie meint, das Gesetz hätte vom Land Thüringen nicht erlassen werden dürfen, da die Regelung der Arbeitszeit in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes liege und nicht durch die Föderalismusreform 2006 als Teil des Ladenschlusses auf die Länder übertragen wurde.
Wie wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden?
Auszug aus dem § 12 ThürLadÖffG:
(3) Arbeitnehmer in Verkaufsstellen dürfen mindestens an zwei Samstagen in jedem Monat nicht beschäftigt werden. Das für das Ladenöffnungsrecht zuständige Ministerium kann im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss des Landtags für bestimmte Personengruppen sowie in Einzelfällen Ausnahmen von Satz 1 durch Rechtsverordnung regeln. Bei der Häufigkeit der Arbeitseinsätze an Werktagen ab 20.00 Uhr sowie der Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen hat der Arbeitgeber die sozialen Belange der Beschäftigten, insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zu berücksichtigen.
Auszug aus § 17 LadSchlG (Bund) lautet:
(4) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Verkaufsstellen können verlangen, in jedem Kalendermonat an einem Samstag von der Beschäftigung freigestellt zu werden.
Lösung:
Zu prüfen ist eine Verfassungsbeschwerde.
Die besonderen Voraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, die in einer Klausur zu beachten sind (inbesondere hinsichtlich der Beschwerdebefugnis), finden Sie in den juracademy-Skripten zum Öffentlichen Recht. In diesem Zusammenhang lösenswert sind auch die Klausuren „Probleme mit dem Änderungsgesetz“ sowie „Gesund in Europa“ aus dem juracademy-Klausurenkurs im Öffentlichen Recht.
Im Urteil des BVerfG kam es entscheidend darauf an, ob das ThürLadÖffG formell verfassungswidrig ist. Die Öffnungszeiten von Verkaufsstellen sowie diese flankierende Arbeitnehmerschutzvorschriften waren seit 1956 bundesrechtlich im Ladenschlussgesetz (LadSchlG) geregelt. In der Föderalismusreform 2006 wurde die Kompetenz für das „Recht des Ladenschlusses“ aus Art. 74 I Nr. 11 GG (aF) herausgenommen und auf die Länder übertragen. Das Thüringer Ladenöffnungsgesetz hat der Landesgesetzgeber im Jahr 2006 erlassen und 2011 den vorliegend angegriffenen § 12 III ThürLadÖffG eingefügt.
„Für die Gesetzgebungsmaterie des Ladenschlusses sind nach Art. 70 I iVm Art. 74 I Nr. 11 GG die Länder zur Gesetzgebung befugt; das Arbeitszeitrecht ist demgegenüber gem. Art. 74 I Nr. 12 GG Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Die angegriffene Regelung fällt nicht als Regelung des „Ladenschlusses“ unter die Bereichsausnahme des Art. 74 I Nr. 11 GG zu Gunsten der Länder, sondern ist gem. Art. 74 I Nr. 12 GG Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes.“
Zwar dürfen die Länder seit der Föderalismusreform 2006 den Ladenschluss selbst regeln, § 12 III ThürLadÖffG regelt aber nicht, wann eine Verkaufsstelle allgemein geöffnet werden darf, sondern gibt vor, dass Mitarbeiter nur zweimal pro Monat samstags in einer Verkaufsstelle eingesetzt werden dürfen – es geht um Regelungen der Arbeitszeit.
„Die angegriffene Regelung lässt sich weder dem „Recht des Ladenschlusses“ als ausdrückliche Ausnahme von der konkurrierenden Gesetzgebung zuordnen noch ist sie mit den übrigen ladenschlussrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zwingend kompetenzbegründend verzahnt. (…) Das Grundgesetz selbst bestimmt den Begriff „Ladenschluss“ nicht näher. Nach dem Wortlaut des Art. 74 I Nr. 11 GG wird mit dem Begriff „Ladenschluss“ der gesetzlich geregelte Rahmen der täglichen Verkaufszeit in Einzelhandelsgeschäften umschrieben. Beschäftigungsbedingungen sind dem gängigen Wortsinn nach hiervon nicht umfasst.“
Das BVerfG stellt auch auf die Entstehungsgeschichte des heutigen Art. 74 I Nr. 11 GG ab.
„Gegen die Zuordnung arbeitszeitrechtlicher Regelungen zum Kompetenztitel Ladenschluss spricht (…) auch die Entstehungsgeschichte des Art. 74 I Nr. 11 GG. (…) Das Ladenschlussgesetz war sowohl dem Arbeitsschutz als auch dem Handel zugeordnet; es sollte zum einen zur Schaffung funktionierender Wettbewerbsverhältnisse einer übermäßigen Konkurrenz durch beliebige Ladenöffnungszeiten entgegensteuern sowie zum anderen dem Arbeitsschutz dienen (…) Daraus ergab sich für die damaligen Vorschriften der §§ 1–16, 19, 20 LadSchlG eine – verfassungsrechtlich im Grundsatz unproblematische (…) doppelte Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes sowohl aus Art. 74 I Nr. 11 GG aF als auch zugleich aus Art. 74 I Nr. 12 GG“
Im Zuge der Föderalismusreform wurde jedoch nur der „Ladenschluss“, nicht aber die Regelungskompetenz für die Arbeitszeiten, in die ausschließliche Kompetenz der Länder übertragen. In deren Ladenöffnungszeiten-Gesetze durften also keine arbeitszeitrechtlichen Regelungen Einzug halten.
„Es ist nicht ersichtlich, dass mit der Verfassungsänderung zur Kompetenz für den Ladenschluss die Zuständigkeit für alle bislang im Ladenschlussgesetz des Bundes getroffenen Regelungen auf die Landesgesetzgeber übergehen sollte. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hatte hier ausschließlich die handelsbezogenen Aspekte des Ladenschlussrechts im Blick.“
Auch eine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhang verneint das BVerfG.
„Eine Landeskompetenz ergibt sich auch nicht kraft Sachzusammenhangs. Zwar liegt es nicht fern,
auch die Arbeitszeit zu regeln, wenn der Ladenschluss normiert wird. Doch genügen reine Zweckmäßigkeitserwägungen zur Begründung von Gesetzgebungskompetenzen aus dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs nicht (…). Notwendig ist vielmehr, dass das Übergreifen in den Kompetenzbereich des Bundes für den Arbeitsschutz unerlässlich ist, um eine Regelung des Ladenschlusses verständigerweise treffen zu können. Daran fehlt es hier. Arbeitszeitrechtliche Regelungen erfassen weite Teile des Arbeitslebens und sind nicht ladenschlussspezifisch.“
Dennoch hält das BVerfG die Regelungen des § 12 III ThürLadÖfG nicht für formell verfassungswidrig. Der Bund habe von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zu den Arbeitszeiten nicht abschließend Gebrauch gemacht, sodass den Ländern Spielraum für eigene gesetzliche Regelungen verblieben.
„Zwar darf der Bund die Arbeitszeiten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts (Art. 74 I Nr. 12 GG) regeln, ohne dass dies zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist (Art. 72 II GG). Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder nach Art. 72 I GG allerdings die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner in Art. 74 GG benannten Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. (…)“
Anschließend gleicht das Gericht die Vorschriften aus Thüringen mit dem Ladenschlussgesetz des Bundes ab und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht abschließend seien. Der Bundesgesetzgeber habe in § 17 IV LadSchlG nur eine Minimalgarantie der Arbeitszeit in Verkaufsstellen vorgesehen, über die die Länder hinausgehen dürften.
„Hiernach ergibt sich aus der Regelung des § 17 IV LadSchlG gegenüber den Ländern keine Sperrwirkung, soweit die Länder eine über den dort bundesgesetzlich vorgesehenen Freistellungsanspruch von nur einem Samstag im Monat hinausgehende Freistellung von Samstagsarbeit in Verkaufsstellen gesetzlich vorschreiben. Zwar hatte die bundesrechtliche Regelung zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung insofern faktisch abschließende Wirkung, als die Länder damals keine Regelungskompetenz für den Ladenschluss hatten. Doch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass § 17 IV LadSchlG nach der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen für den Ladenschluss auf die Länder in der hier zu entscheidenden Frage der Beschäftigung im Einzelhandel an Samstagen abschließend gelten soll. Der Bundesgesetzgeber musste sich darüber zum damaligen Zeitpunkt schlicht keine Gedanken machen; weder war die Regelung damals aus der Sicht des Gesetzgebers bewusst abschließend konzipiert noch ist sie heute objektiv eindeutig als abschließend zu verstehen. Es liegt damit also keine verfassungsrechtlich unzulässige nachträgliche Umdeutung (...), sondern ein Handeln in einer umfassend veränderten legislativen Situation vor.
Die bundesgesetzliche Norm beschränkt nach ihrem Wortlaut den Freistellungsanspruch auf einen
Samstag im Kalendermonat, legt aber objektiv nicht ausdrücklich fest, dass dies als abschließende Vorgabe für eine diesbezüglich zwingende Arbeitszeitregelung zu verstehen ist. Ein Anhaltspunkt, dass der Freistellungsanspruch auf genau einen Samstag begrenzt sein soll, ist der Regelung nicht zu entnehmen. Insofern lässt sich die Regelung auch als eine bloße Minimalgarantie verstehen. (…) Da eine erschöpfende Regelung der in Rede stehenden Materie durch den Bund mithin nicht eindeutig erkennbar ist, steht Art. 72 I GG der Regelung des § 12 ThürLadÖffG nicht entgegen. Das im Sinne einer klaren Kompetenzverteilung strikte Verständnis der Kompetenzregeln erlaubt es nicht, eine einstmals unter anderen kompetenziellen Vorzeichen getroffene Regelung nunmehr ohne hinreichende Anhaltspunkte insbesondere im Wortlaut der Norm als erschöpfend zu verstehen. Das Land Thüringen durfte folglich in eigener Kompetenz die über § 17 IV LadSchlG hinausgehende Vorgabe machen, dass abhängig Beschäftigte in Verkaufsstellen in Thüringen an zwei Samstagen im Monat nicht eingesetzt werden dürfen.“
Dieses Urteil ist ein gutes Beispiel dafür, wie das BVerfG Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern prüft. Es wird sorgfältig nach ausschließlicher Länderzuständigkeit und konkurrierender Bundeszuständigkeit differenziert. Das Gericht geht ausführlich darauf ein, ob die gesetzlichen Regelungen des Bundes abschließend sind und ob die Länder ergänzende Vorschriften erlassen durften.
Im Weiteren geht das Gericht auch auf die materielle Verfassungsmäßigkeit des § 12 III ThürLadÖfG ein und bejaht diese. Auch diese Erläuterungen des Gerichts sind lesenswert, verdeutlichen Sie nämlich, wie man eine mustergültige Grundrechtsprüfung vornimmt. Das BVerfG hält den Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Möbelhändlers im Ergebnis für verhältnismäßig.
„Zwar kann die Regelung für ein Unternehmen, das wie die Bf. insbesondere an Samstagen den höchsten Umsatz macht und im Verkauf dazu auf den Einsatz von Fachkräften angewiesen ist, nicht unerhebliche Umstellungen erforderlich werden lassen. Doch wiegt dies angesichts der vielfältigen verbleibenden Dispositionsmöglichkeiten eines Arbeitgebers über den Personaleinsatz nicht ausnehmend schwer. (…) Das Gesetz zielt auf den Arbeitsschutz und den Schutz der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie und damit auf Gemeinwohlbelange, die Einschränkungen der Berufsausübungsfreiheit zu rechtfertigen vermögen.“
Um die Prüfung von Gesetzgebungskompetenzen in einer Klausur einzuüben, lohnt sich auch die Lösung der Klausur „Pediküre für Pferde“ aus dem juracademy-Klausurenkurs im Öffentlichen Recht.