Tatbestand (abgewandelt):
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Ersatz von Schäden in Anspruch. Die Klägerin wurde im Juni 2012 auf der Bundesautobahn 44 als Fahrerin ihres Motorrads in einen Verkehrsunfall mit dem Kastenwagen mit Anhänger (im Folgenden "Gespann") des Beklagten und Halters verwickelt. Sie wurde bei dem Unfall erheblich verletzt.
Wie es zum Unfall kam ist zwischen den Parteien im Einzelnen streitig. Die Klägerin behauptet im Wesentlichen das auf der Überholspur befindliche Gespann sei unmittelbar vor dem Zusammenstoß plötzlich "brutal" abgebremst und dann ruckartig auf die rechte Fahrspur, auf der sie sich befunden habe, hinübergezogen worden. Sie habe keine Möglichkeit gehabt ihm auszuweichen, weshalb sie in dessen hintere Flanke gefahren sei.
Das Berufungsgericht ist i.R.d. Abwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 von einer vollen Haftung der Auffahrenden ausgegangen.
Ist der Anscheinsbeweis im vorliegenden Fall anwendbar?
Inwieweit konnte die Entscheidung des Berufungsgerichts im Hinblick auf die Abwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 in der Revision überprüft werden?
Lösung:
Ein Anspruch gegen den Halter kommt gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 2 in Verbindung mit den Normen der StVO in Betracht.
Beachte: Dabei ist das StVG grundsätzlich vorrangig zu prüfen, da die Anspruchsgrundlage kein Verschulden voraussetzt.
Der Tatbestand des Paragrafen 7 Abs. 1 StVG ist vorliegend unproblematisch erfüllt, Ausschlussgründe gemäß § 7 Abs. 2,3 bzw. § 8 sind nicht ersichtlich.
Ein Anspruch könnte jedoch infolge der Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1, 2 gänzlich entfallen. Die Verteilung ist anhand aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden.
Fraglich ist, ob die Klägerin den Unfall selbst verschuldet hat. In Ermangelung weitergehender Angaben hängt dies maßgeblich davon ab, ob ein Verschulden im Wege des Anscheinsbeweises angenommen werden kann.
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO). Denn der Kraftfahrer ist verpflichtet seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht.
Dies kann jedoch dann nicht gelten, wenn sich aus den festgestellten Umständen ergibt, dass kein typischer Auffahrunfall vorlag. Dies kann insbesondere dann angenommen werden, wenn andere Umstände hinzutreten, welche als Besonderheit gegen die angenommene Typizität des Geschehens sprechen. Unter festgestellten Umständen sind solche zu verstehen, die unstreitig sind bzw. zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Gelingt es dem vom Anscheinsbeweis Betroffenen nicht die besonderen Umstände entsprechend nachzuweisen, so muss er den Anscheinsbeweis gegen sich gelten lassen.
Bestreitet mithin der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel des Vorausfahrenden nicht beweisen, so bleibt - in Abwesenheit weiterer festgestellter Umstände des Gesamtgeschehens - allein der Auffahrunfall, der typischerweise auf einem Verschulden des Auffahrenden beruht. Zutreffend hat das Berufungsgericht deshalb angenommen, dass es in Fällen wie dem vorliegenden nicht Aufgabe des sich auf einen Anscheinsbeweis stützenden Vorausfahrenden ist zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden hat.
Der Anscheinsbeweis war mithin anwendbar und konnte nicht durch die Klägerin erschüttert werden.
Die Abwägungsentscheidung des Berufungsgerichts i.R.d. §§ 17 Abs. 1,2 ist (wie die i.R.d. § 254) nur eingeschränkt überprüfbar.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (hierzu s.o.).
Es ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen, dass das Gericht seinen Beurteilungsspielraum unzulässig ausgeübt hat.
Tipp: Referendare sollten auch die Rn. 15ff des Urteils beachten. Hier äußert sich der BGH knapp und verständlich zu den §§ 447, 448 ZPO.
Über welche Anspruchsgrundlage wäre der Fall zu lösen, wenn der Halter nicht ermittelt werden könnte?
In diesem Zusammenhang ist § 12 Abs. 1 Nr. 1 PflVG anzuführen.
Stichworte:
Anscheinsbeweis, Auffahrunfall, Beurteilungsspielraum, StVG, PflVG, § 17 StVG.