Sachverhalt
Beim Besuch eines Fußballspiels trug der Beschwerdeführer (B) eine schwarze Hose. Auf dieser war im Gesäßbereich großflächig der Ausdruck „ACAB“ aufgedruckt. Nach dem Spiel verließ der B das Stadion auf einem Weg, der an einigen Polizisten vorbeiführte, von denen einer Anzeige gegen den B erstattete.
B wurde daraufhin vom zuständigen Amtsgericht wegen Beleidigung gem. §§ 185, 193 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt. Das Strafgericht stützt seine Entscheidung darauf, dass es allgemein bekannt sei, dass die Buchstaben „ACAB“ eine Abkürzung für den Satz „all cops are bastards“ darstellten. Die Bezeichnung eines Polizeibeamten als „Bastard“ sei zweifelsfrei ehrverletzend. Die Annahme einer straflosen Kollektivbeleidigung lehnte das Amtsgericht mit dem Argument ab, dass in der konkreten Situation eine hinreichende Individualisierung auf einen abgegrenzten Personenkreis stattgefunden habe. Die Äußerung sei konkret gegen die Polizisten gerichtet gewesen, die im Rahmen des betroffenen Fußballspiels im Einsatz waren. B habe zumindest billigend in Kauf genommen, dass Polizeibeamte während des Spiels den Aufdruck auf seiner Hose wahrnehmen und sich in ihrer Ehre verletzt fühlen.
Das Landgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers als unbegründet zurück und bestätigte im Wesentlichen die Entscheidungsgründe des Amtsgerichts. Auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG sie das Verhalten des B strafbar gewesen. Er sei sich bewusst gewesen, dass er sich im Stadion einer Vielzahl von Polizeibeamten gegenübersehen würde und einzelnen Polizeibeamten begegnen würde. Daher habe er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssen, dass einzelne Polizeibeamte die auf Gesäßhöhe positionierte Aufschrift „ACAB“ sehen und sich dran stören würden. Damit würde die Äußerung hinreichend konkret gegenüber individualisierten Personen kommuniziert. Dem B sei es allein um die Diffamierung und persönliche Herabsetzung der angegriffenen Personen gegangen.
Das Oberlandesgericht verwarf die Revision gegen das Urteil des Landgerichts letztinstanzlich als unbegründet.
Daraufhin erhob der B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Für die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 BVerfGG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfGG das Bundesverfassungsgericht zuständig.
Als natürliche Person ist der B ein „Jedermann“ und somit beschwerdefähig.
Als zulässiger Beschwerdegegenstand kommt nach § 90 BVerfGG grundsätzlich jeder Akt öffentlicher Gewalt in Betracht. Dies ist hier der letztinstanzliche Beschluss des OLG München als Akt der Judikative. Damit handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.
Die für die Beschwerdebefugnis gem. § 90 BVerfGG erforderliche mögliche Grundrechtsverletzung ergibt sich daraus, dass eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen ist.
Zudem ist der B von der Entscheidung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Expertentipp
Dies ist bei Verfassungsbeschwerden gegen Urteile regelmäßig unproblematisch der Fall. Seine eigentlich Bedeutung erhält die Formel „selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ betroffen im Zusammenhang mit Rechtssatzverfassungsbeschwerden, also Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze.
Da es sich um eine letztinstanzliche Entscheidung des OLG handelt, ist hier auch die Voraussetzung der Rechtswegerschöpfung gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erfüllt.
Expertentipp
Dieser Fall ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass nicht nur Entscheidungen der obersten Bundesgerichte (BGH, BVerwG etc.) letztinstanzlich i.S.d. § 93 BVerfGG sein können.
Es gibt hier auch keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten des B gegenüber denen die Verfassungsbeschwerde subsidiär wäre.
Schließlich hat B laut Sachverhalt form- und fristgerecht seine Verfassungsbeschwerde eingereicht, also gem. § 23 BVerfGG schriftlich und begründet und innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der letztinstanzlichen Entscheidung gem. § 93 Abs. 1 BVerfGG.
Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde des B ist begründet, wenn er durch die Entscheidung des OLG in einem seiner Grundrechte verletzt ist.
Hier kommt eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG in Betracht. Als Jedermanns-Grundrecht ist der persönliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit unproblematisch eröffnet. Der sachliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst alle Äußerungen, die durch Wertungen und Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind
Expertentipp
Darüber hinaus sieht das BVerfG weitergehend auch solche Tatsachenbehauptungen vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG als erfasst an, die als Grundlage der Meinungsbildung dienen.
Das BVerfG stellt hier überzeugend fest, dass die Aufschrift „ACAB“ auf der Hose des B vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst ist:
„Das Tragen der Hose mit der Aufschrift ´ACAB´ fällt in den Schutzbereich des Grundrechts. Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet. Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird.“
„Es handelt sich um eine Meinungsäußerung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Die Parole ist nicht von vornherein offensichtlich inhaltlos, sondern bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck.“
Eingriff
Unproblematisch ist in der strafgerichtlichen Verurteilung ein Eingriff in die Meinungsfreiheit zu sehen.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Die Schranken der Meinungsfreiheit ergeben sich nach Art. 5 Abs. 2 GG aus den allgemeinen Gesetzen sowie den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Von besonderer Bedeutung bei dieser „Schrankentrias“ sind die allgemeinen Gesetze.
Allgemeine Gesetze sind Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen.
§ 185 StGB ist unproblematisch ein allgemeines Gesetz und auch im Übrigen verfassungsgemäß.
Fraglich ist aber, ob in der konkreten Gerichtsentscheidung bei der Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung die verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt sind.
Hier stellt das BVerfG zunächst die allgemeinen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung meinungsbeschränkender Gesetze dar, die sich in der Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte zu Art. 5 Abs. 1 GG herausgebildet haben und mit dem Begriff „Wechselwirkungs-Lehre“ auf den Punkt gebracht wird:
„Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen. Die Meinungsfreiheit findet in den allgemeinen Gesetzen und der durch diese geschützten Rechte Dritter ihre Grenze. Dies ist der Fall, wenn die Meinungsäußerung die Betroffenen ungerechtfertigt in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der durch sie geschützten persönlichen Ehre verletzt.“
Von besonderer Wichtigkeit im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG ist die verfassungsgemäße Deutung von Äußerungen, die sanktioniert werden. Insbesondere müssen die Gerichte bei mehrdeutigen Äußerungen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ernsthaft in Betracht ziehen. Im Zweifel gilt das Gebot der meinungsfreiheits-freundlichen Auslegung von zweifelhaften Äußerungen.
Hier unterliegt die Interpretation des Aufdrucks „ACAB“ für die englische Parole „all cops are bastards“ keinen verfassungsrechtlichen Einwänden:
„Da diese Auflösung der Buchstabenfolge sowohl bei der Polizei als auch bei den Äußernden allgemein bekannt ist, begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Verwendung der Buchstabenfolge der Äußerung der Aussage gleichgestellt wird. Die Gerichte haben sich hinreichend mit möglichen weiteren Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt und sind mit schlüssigen Erwägungen zu dem naheliegenden Ergebnis der genannten Auslegung gelangt.“
Das BVerfG konkretisiert seine allgemeinen Ausführungen sodann im Hinblick auf die Problematik der Kollektivbeleidigung.
„Dabei kann eine herabsetzende Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt, noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, unter bestimmten Umständen auch ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein. Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht.“
Diesen „Je-desto-Zusammenhang“ zwischen der Größe des angesprochenen Kollektivs und der Stärke der persönlichen Betroffenheit schildert das BVerfG sehr anschaulich anhand einer
„imaginären Skala, deren eines Ende die individuelle Kränkung einer namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelperson bildet, steht am anderen Ende die abwertende Äußerung über menschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an sozialen Einrichtungen oder Phänomenen, die nicht mehr geeignet sind, auf die persönliche Ehre des Individuums durchzuschlagen.“
Nach diesen allgemeinen Hinweisen, die einen abstrakten Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung auch anderer möglicher Kollektivbeleidigungen bilden, setzt sich das BVerfG mit der konkreten Äußerung des B und deren strafrechtlicher Würdigung durch die Gerichte auseinander. Dabei kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass das Oberlandesgericht durch seine Entscheidung
„diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe durch die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils verkannt hat. Es weist nicht in verfassungsrechtlich tragfähiger Weise auf, dass sich die hier in Rede stehende Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht. Hierfür reicht es nicht, dass die im Stadion eingesetzten Polizeikräfte eine Teilgruppe aller Polizistinnen und Polizisten sind. Vielmehr bedarf es einer personalisierten Zuordnung. Worin diese liegen soll, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. (…) Der bloße Aufenthalt im Stadion im Bewusstsein, dass die Polizei präsent ist, genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine erkennbare Konkretisierung der Äußerung auf bestimmte Personen nicht.“
Daher hält das BVerfG die Entscheidung des OLG für verfassungswidrig und hebt sie auf.
Im Ergebnis ist die Verfassungsbeschwerde des B zulässig und begründet.
Weiterführende Hinweise
Die Entscheidung des BVerfG fügt sich nahtlos ein in eine Reihe von Beschlüssen in jüngerer Zeit, in denen das BVerfG die herausragende Bedeutung der Meinungsfreiheit als schlechthin konstituierend für eine freiheitliche Grundordnung stärkt und Entscheidungen der Strafgerichte aufhebt.
Man kann mit Fug und Recht in Zweifel ziehen, ob das BVerfG sich dabei immer innerhalb der selbstgesetzten Beschränkung bewegt, lediglich die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ zu prüfen und die Auslegung des einfachen Rechts den Fachgerichten zu überlassen. Faktisch bestimmt das BVerfG inzwischen die Auslegung des § 185 StGB. Dies sollten Sie berücksichtigen und sich in verfassungsrechtlichen Klausuren vergleichbar detailliert mit der Anwendung und Auslegung des
§ 185 StGB beschäftigen.
Eine naheliegende Abwandlung der vorliegenden Fallkonstellation ist es, statt eines strafgerichtlichen Urteils eine Verfassungsbeschwerde gegen ein zivilgerichtliches Urteil zu konstruieren, mit der gegen eine Verurteilung zu Unterlassung oder Schadensersatz nach §§ 823, 1004 BGB wegen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgegangen werden soll. Dabei wäre dann zusätzlich das Problem der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten bei der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln zu beachten.