Sachverhalt (gekürzt und verändert)
Am 8. September 2015 wurde wegen eines Straßenfests auf der A-Straße ein absolutes Halteverbot ausgeschildert. Konkret wurde ein vorübergehend aufgestelltes Verkehrszeichen Nr. 283 nach Anlage 2 zu § 41 StVO ergänzt durch Zusatzzeichen („Sa, 11.09.2015, 6 bis 22 Uhr“) aufgestellt.
Der betroffene Straßenabschnitt hat zwischen zwei Kreuzungen eine Länge von rund 100 Metern. Dabei wurden insgesamt 4 Haltverbotszeichen aufgestellt, nämlich auf jeder Straßenseite jeweils zwei unmittelbar an den Kreuzungen. Der Kläger K stellt sein Fahrzeug am 10. September 2015 gegen 17:00 Uhr bei gutem Wetter in Höhe der Mitte der Straße am rechten Straßenrand ab. Bei einem kurzen Blick den Straßenrand entlang sieht er kein Haltverbot. Tatsächlich hätte er das nächste Haltverbotszeichen, das ca. 50 Meter entfernt von ihm abgestellt ist nur erkennen können, wenn er eine gewisse Strecke in diese Richtung gegangen wäre.
Am 11. September 2015 um 8:40 Uhr veranlasste ein Polizeibeamter das Abschleppen des Fahrzeugs, da es die Aufbauarbeiten für ein Straßenfest behinderte. Die Kosten für die Abschleppmaßnahme macht die zuständige Behörde mit Gebührenbescheid vom 18. März 2016 gegen den K geltend.
Nach erfolglosem Widerspruch erhebt der K fristgerecht Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht.
Lösung
Zulässigkeit
Da es sich um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Art handelt, ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 VwGO eröffnet.
Bei dem Kosten- bzw. Gebührenbescheid handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG, so dass die Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart ist.
Die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO ergibt sich daraus, dass der K selbst Adressat des belastenden Verwaltungsaktes ist und somit zumindest möglicherweise in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist.
Das – ggf. nach speziellen landesrechtlichen Vorschriften entbehrliche – Widerspruchsverfahren wurde vor Klageerhebung erfolglos durchgeführt.
Die Klage wurde fristgerecht, also innerhalb der Monatsfrist des § 74 VwGO, erhoben.
Schließlich sind die Voraussetzungen der Beteiligten- und Prozessfähigkeit nach §§ 61, 62 VwGO erfüllt (die sich landesspezifisch ergeben je nachdem, ob das Rechtsträger oder das Behördenprinzip gilt).
Insgesamt ist die Anfechtungsklage des K also zulässig.
Begründetheit
Sie müsste auch begründet sein. Dafür müsste der angegriffene Verwaltungsakt (Kostenbescheid) rechtswidrig gewesen und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt sein.
Hinweis
Die Prüfung setzt bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids an. Die Ermächtigungsgrundlage dafür ist in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich. Insbesondere ist eine Abgrenzung zwischen Sicherstellung, Ersatzvornahme im Rahmen der Vollstreckung oder – soweit im Landesrecht vorgesehen – der unmittelbaren Ausführung vorzunehmen. Im Kern geht es aber – unabhängig vom einschlägigen Landesrecht – darum, dass auf der ersten Ebene die Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids und sodann inzident auf der zweiten Ebene die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Abschleppmaßnahme zu prüfen ist. Denn in allen Bundesländern ist Voraussetzung für einen rechtmäßigen Kostenbescheid die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungs-/Vollzugsmaßnahme.
Die besondere Schwierigkeit der Abschleppfälle liegt darin, dass dann noch eine dritte Ebene dazu kommt und – gewissermaßen „doppelt-inzident – die Wirksamkeit (!) der Grundverfügung, der sog. „HDU-Verfügung“ zu prüfen ist. Hier ist dies das Verkehrszeichen als Haltverbot, das zumindest wirksam sein muss, was seine Bekanntgabe voraussetzt.
Wir empfehlen Ihnen auch in Ihrer Formulierung daher stets deutlich zu machen worauf sich z.B. die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit bezieht – auf die des Kostenbescheids, der Abschleppmaßnahme oder ggf. der Grundverfügung.
Im Rahmen dieser Darstellung nehmen wir in verkürzter Form auf die einschlägigen Regelungen des Landesrechts NRW Bezug. Die zentralen Aussagen des BVerwG zur Wirksamkeit von Verkehrszeichen gelten aber länder-übergreifend, handelt es sich doch dabei um die Auslegung von Bundesrecht, nämlich der Vorschriften der StVO. (Ende Hinweis)
Da es sich bei der Abschleppmaßnahme nicht um eine Sicherstellung, sondern um eine Ersatzvornahme handelt, ist Ermächtigungsgrundlage für den Kostenbescheid hier §§ 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW, § 52 Abs. 1 PolG NRW, § 20 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 VO VwVG NRW.
Der Kostenbescheid muss auch formell rechtmäßig sein – insbesondere im Hinblick auf die Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG.
Die materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids setzt eine Rechtmäßigkeit der Vollzugsmaßnahme voraus, die daher inzident zu prüfen ist.
Ermächtigungsgrundlage für den Vollzug ist §§ 50, 52 PolG NRW.
Die Abschleppmaßnahme muss formell rechtmäßig sein, wobei vor allem die Vorschriften zur Zuständigkeit und zur Anhörung zu beachten sind.
Die materielle Rechtmäßigkeit der Vollzugsmaßnahme setzt einen wirksamen Grundverwaltungsakt voraus. Als solcher kommt hier das Verkehrszeichen/Haltverbot in Betracht. Dieses müsste ein wirksamer Verwaltungsakt sein, also zumindest bekannt gegeben worden sein.
Dazu wiederholt das BVerwG zunächst die Grundsätze, die sich in Rechtsprechung und Literatur zur Rechtsqualität und allgemein zur Bekanntgabe eines Verkehrszeichens entwickelt haben. Danach ist das Haltverbot
„wie andere Verkehrsverbote und –gebote ein Verwaltungsakt in der Form einer Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 VwVfG. Es wird gemäß § 43 VwVfG gegenüber demjenigen, für den es bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem es ihm bekannt gegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Spezialvorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung durch Aufstellen des Verkehrszeichens (vgl. insbesondere § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 4 StVO). Dies ist eine besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe. Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen kann, äußern sie nach dem so genannten Sichtbarkeitsgrundsatz ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht.
Entscheidend ist hier allerdings was aus dem Sichtbarkeitsgrundsatz konkret folgt. Hier greift das BVerwG eine in der Literatur bereits vorgeschlagene Differenzierung auf und macht sie sich zu Eigen:
„Für die Sichtbarkeit von Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen, gelten weniger strenge Anforderungen als an solche, die den fließenden Verkehr regeln. Verkehrszeichen, die den fließenden Verkehr betreffen, müssen insbesondere bei höherer Geschwindigkeit innerhalb kürzester Zeit wahrgenommen und erfasst, also in ihrem Regelungsgehalt verstanden werden können, um ihr Regelungsziel zu erreichen. Anders liegt es bei Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr regeln. Hier hat der Verkehrsteilnehmer die Möglichkeit, sich auch noch beim Abstellen und Verlassen seines Fahrzeugs ohne eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer Klarheit über das Vorhandensein und/oder den Inhalt eines Halt- oder Parkverbots zu verschaffen. Eine einfache Umschau nach dem Abstellen des Fahrzeugs, ob ein Halt- oder Parkverbot besteht, gehört deshalb zu der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt des Fahrers.“
Das BVerwG bestimmte also den genauen Inhalt des Sichtbarkeitsgrundsatzes nach den konkreten Umständen des Einzelfalls und verlangt den Verkehrsteilnehmern bei ruhendem Verkehr eine „Umschau“ ab. Eine über eine solche „Umschau“ hinausgehende Pflicht zur „Nachschau“ lehnt das BVerwG dagegen ab. Es würde die die Verkehrsteilnehmer treffenden Sorgfaltspflichten überspannen, von diesen zu verlangen vom Abstellort des Fahrzeugs aus eine gewisse Strecke nach beiden Richtungen abzuschreiten, um sich über das Nichtvorhandensein von Halt- oder Parkverboten zu vergewissern.
„Zu einer Nachschau ist der Verkehrsteilnehmer nur verpflichtet, wenn hierfür nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein besonderer Anlass besteht. Anlass für eine über den einfachen Rundumblick nach dem Abstellen des Fahrzeugs hinausgehende Nachschau, etwa durch Abschreiten des Nahbereichs, kann beispielsweise bestehen, wenn ein Halt- oder Parkverbotszeichen durch dort abgestellte besonders hohe Fahrzeuge verdeckt sein könnte oder wenn die Sichtverhältnisse wegen der Dunkelheit oder der Witterungsverhältnisse so beeinträchtigt sind, dass der Verkehrsteilnehmer damit rechnen muss, Verkehrszeichen schon deshalb nicht zu erkennen.“
Da der K hier das Haltverbot mit einer bloßen Umschau nicht erkennen konnte und keinen Anlass für eine darüber hinausgehende Nachschau hatte, ist das Verkehrszeichen ihm gegenüber nicht wirksam bekannt gegeben worden. Daher sind die Abschleppmaßnahme und somit auch der Kostenbescheid rechtswidrig.
Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.
Weiterführende Hinweise
Im Original-Fall hat das Bundesverwaltungsgericht den Fall an das OVG zur Aufklärung des Sachverhalts an das OVG zurückverwiesen. Zumindest im ersten Examen können Sie davon ausgehen, dass der Sachverhalt ausreichend klar formuliert ist, um zu entscheiden, ob das Verkehrszeichen wirksam bekannt gegeben wurde oder nicht.
Der Fall zeigt, dass der Variantenreichtum möglicher Abschleppfälle groß ist.
Eine weitere typische Variante liegt darin, dass der PKW-Fahrer einen Zettel mit der Angabe seiner Handy-Nummer im Auto hinterlässt. Hier stellt sich die Frage, ob eine Abschleppmaßnahme dann erforderlich ist oder der Polizist/Ordnungsbeamte nicht als milderes Mittel den PKW-Fahrer anrufen müsste. Die Rechtsprechung ist hier sehr streng: Grundsätzlich ist ein Abschleppen nicht erforderlich, wenn der Fahrer in der konkreten Situation nach den für den Polizeibeamten erkennbaren Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Schwierigkeiten oder Verzögerungen festgestellt und zur Beseitigung des verbotswidrig parkenden Autos veranlasst werden kann. Dazu muss sich der Fahrer aber erkennbar im Nahbereich des Fahrzeugs befinden. Weiter ist erforderlich, dass der Zettel individualisierbare Angaben enthält und nicht offensichtlich für eine Vielzahl von Fällen verbotswidrigen Parkens konzipiert wurde.