Mit dieser Frage musste sich der BGH auseinandersetzen. Der Entscheidung (BGH 5 StR 406/21, NJW 2022, 2422) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Im Oktober 2018 heiratete das Opfer O den M und zog zu dessen Familie. 2019 zeigte sie M wegen Vergewaltigung und Körperverletzung an und floh aus der Wohnung. Eine Rückkehr lehnte sie trotz massiver Einwirkung der Familien ab. Im August beschlossen die Mutter der O, der Bruder, der Onkel und ein Freund (4 Angeklagte), die O unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in ein Flugzeug nach Georgien zu setzen und dann spätere nach Tschetschenien zu bringen, um sie dort wieder zu einer angemessenen Lebensführung zu bringen. Man erklärte der O, dass man wegen der Beantragung russischer Pässe nach Polen reisen müsse. In der Nacht vom 27. auf den 28. August fuhren die 4 Angeklagten zusammen mit O mit dem Auto zum Flughafen, wobei O zwischen 2 der Angeklagten auf der Rückbank saß. Während der Pausen durfte sich O unter Aufsicht der Angeklagten im Umkreis des Autos aufhalten. Alle Angeklagten wären aber bereit gewesen, im Falle einer Flucht einzugreifen. Die immer noch nichtsahnende O bestieg dann zusammen mit 2 der Angeklagten das Flugzeug, davon ausgehend, dass man nach Polen fliegen werde. Nach der Landung erkannte O nun, dass man in Georgien gelandet war. Man verbrachte sie in ein Ferienhaus, in welchem man sie mittels Gewalt dazu brachte, das Haus nicht zu verlassen.
Die Angeklagten sind wegen mittäterschaftlich begangener Freiheitsberaubung gem. §§ 239 I, 25 II StGB verurteilt worden. Der BGH hat diese Entscheidung bestätigt.
239 StGB schützt die persönliche Freiheit, sich von einem Ort fortzubewegen und damit auch die Freiheit der Willensbetätigung in Bezug auf die Veränderung des Aufenthaltsortes. Der Wille des Rechtsgutsträgers wird also schon auf Tatbestandseben relevant. Ist der Rechtsgutsträger mit der Einschränkung seiner persönlichen Fortbewegungsfreiheit einverstanden, so liegt ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor.
Streitig ist, ob nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit oder (weiter gehend) auch die potenzielle Fortbewegungsfreiheit geschützt ist. Vor dem Hintergrund, dass mittlerweile der Versuch des § 239 StGB strafbar ist, haben sich in den vergangenen Jahren die Ansichten teilweise geändert. Ein stärker werdender Teil der Lit. will nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit schützen (Fischer StGB, § 239 Rn. 3f m.w.N.), die wohl immer noch h.M. will hingegen schon die potenzielle Fortbewegungsfreiheit schützen (so auch der BGH -a.a.O.- m.w.N.).
Schauen wir uns zunächst einmal an, was eigentlich der Unterschied zwischen aktueller und potenzieller Fortbewegungsfreiheit ist.
Aktuelle Fortbewegungsfreiheit: „Ich will mich fortbewegen, kann es aber nicht“
Beispiel
Während eines Streits verlässt A den Raum und sperrt die protestierende B ein. B will den Ort verlassen, kann aber nicht. Hier ist der aktuelle Wille, den Raum zu verlassen, verletzt.
Potenzielle Fortbewegungsfreiheit: „Ich will mich gar nicht fortbewegen. Sollte ich mich aber fortbewegen wollen, könnte ich es nicht“
Beispiel
Nach dem Streit verlässt A den Raum und sperrt B ein, die davon aber gar nichts mitbekommt, weil sie aus Protest A ignoriert und extensiv mit dem Smartphone beschäftigt ist. Hier gibt es keinen aktuellen Willen, den Raum zu verlassen. Es gibt aber einen potenziellen Willen. Wollte man auf den aktuellen Willen abstellen, dann wäre die Freiheitsberaubung erst vollendet, wenn B auch tatsächlich den Willen fasst, den Raum zu verlassen und dann feststellt, dass dies nicht möglich ist. Bis zum Fassen dieses Willens liegt nur eine versuchte Freiheitsberaubung vor, die gem. § 239 II StGB strafbar ist.
Der BGH macht in seiner Entscheidung deutlich, dass er die potenzielle Fortbewegungsfreiheit geschützt sieht, indem er folgendes ausführt:
„Nach der Rechtsprechung des BGH und Teilen der Literatur schützt § 239 StGB die potenzielle persönliche Bewegungsfreiheit. In sie wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist allein, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ausschlaggebend ist mithin nur, ob der Betroffene sich ohne die vom Täter ausgehende Beeinträchtigung seiner Bewegungsmöglichkeit fortbegeben könnte, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang“
Ob nur der aktuelle oder auch der potenzielle Wille geschützt ist, mag allerdings vorliegend dahinstehen, da 2 Situationen zu unterscheiden sind:
Während des Fluges und der Autofahrt (jedenfalls in den Momenten, in denen sich das Auto fortbewegt) kann das Opfer den Aufenthaltsort nicht verlassen, selbst wenn es dies wollte. Anders als im „Smartphone-Beispiel“ weiß das Opfer nun aber auch, dass es den Ort nicht verlassen kann und will es auch gar nicht. Es gibt also den aktuellen Willen, den gewählten Ort später evtl. zu verlassen oder verlassen zu wollen, mit Einsteigen in das Auto bzw. Betreten des Flugzeugs auf.
Beispiel
B lässt sich von A wissentlich einsperren, weil A der B wahrheitswidrig erklärt, er habe einen Einbrecher gehört und sperre sie zu ihrem Schutz ein.
In den Phasen zwischen Flug und Autofahrt weiß das Opfer nicht, dass die beiden Begleitpersonen jederzeit bereit sind, sie gegen ihren Willen in das Auto und das Flugzeug zu zerren. Die tatsächlich bestehende Einschränkung ihrer Freiheit ist ihr ähnlich wie im „Smartphone-Beispiel“ nicht bewusst. Es gibt also weder ein Bewusstsein der Freiheitsberaubung noch einen aktuellen Willen, den Ort zu verlassen. Sofern es nur um den potenziellen Wille ginge, wäre das allerdings irrelevant.
Wesentlich ist nun aber, dass das Opfer täuschungsbedingt den Willen fasst, sich durch einen Flug „auf andere Weise der Freiheit berauben zu lassen“ bzw. täuschungsbedingt gar nicht mitbekommt, dass es sich in einer Situation befindet, die seinem Willen entgegenläuft. Es stellt sich jetzt die Frage, welche Anforderungen an ein tatbestandsausschließendes Einverständnis zu stellen sind.
Beim Hausfriedensbruch gem. § 123 StGB reicht ein tatsächlicher Wille aus, eine Täuschung ist irrelevant.
Beispiel
A klingelt an der Türe des betagten Rentners R und gibt vor, den Strom ablesen zu wollen. Kaum hat R sie in die Wohnung gelassen, schlägt sie ihn nieder und nimmt sämtliche Wertgegenstände mit. Hier liegt kein Hausfriedensbruch vor, auch wenn der Wille, A in die Wohnung zu lassen, durch Täuschung erlangt wurde.
Auch beim Diebstahl gem. § 242 StGB kann der Wille des Gewahrsamsinhabers, den Gewahrsam aufzugeben, durch Täuschung erlangt sein. In solchen Fällen liegt dann in der Regel ein Betrug gem. § 263 StGB vor.
Bei der Freiheitsberaubung ist es streitig, ob der Wille „frei von Täuschung“ sein muss.
Der BGH hat dies im Interesse des umfassenden Rechtsschutzes bejaht. Er führt folgendes aus:
„Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung iSd § 239 StGB ist der potenzielle Fortbewegungswille. Nötig ist mithin, dass sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind…Ahnt der Betroffene hingegen nicht, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er dies wollte, ist der Tatbestand des § 239 StGB mit Blick auf das geschützte Rechtsgut der potenziellen Bewegungsfreiheit erfüllt. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stellt sich somit lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 I StGB führen kann.“
Die Ausführungen sind allerdings nicht ganz überzeugend, da O beim Einsteigen in das Auto und auch beim Betreten des Flugzeugs weiß, dass sie sich nicht wird fortbewegen können. Die anstehende Freiheitsentziehung durch Einsteigen ist ihr also bewusst. Sie begibt sich also täuschungsbedingt der aktuellen Fortbewegungsfreiheit.
In Anbetracht des im Vergleich zur Nötigung und zum Hausfriedensbruch höheren Strafrahmens (5 Jahre) und im Interesse eines umfassenden Rechtsgüterschutzes ist es aber nachvollziehbar, ein durch List und Täuschung erschlichenes Einverständnis als unwirksam anzusehen (a.A. Schönke/Schröder- Eisele StGB § 239 Rn. 3)