Der Vorwurf wiegt schwer: Haben Bundestagsabgeordnete Störer absichtlich in das Reichstagsgebäude eingeschleust, damit diese dort am Rande der parlamentarischen Beratungen für Unruhe sorgen und Druck auf Abgeordnete ausüben? So lauten die Angaben in einem Schreiben an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Belegt ist, dass MdB auf dem Weg zur Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz am 18.11. 2020 von Personen drangsaliert und belästigt worden sind, darunter auch ein Bundesminister. Die Vorfälle wurden teils gefilmt und auf sozialen Medien geteilt. Ein Video zeigt, wie eine Frau vor einem Fahrstuhl im Gebäude des Bundestages Wirtschaftsminister Peter Altmaier mit ihrem Handy filmt und ihn - offenbar wegen seiner Rolle - zur Rede stellen will und dann beleidigt. Altmaier persönlich will keine juristischen Schritte ergreifen. Er plane nicht, Strafanzeige zu stellen, hieß es aus dem Wirtschaftsministerium.
Auch wird berichtet, Mitarbeiter von Abgeordneten hätten sich vor den Störern in ihren Büros in Sicherheit bringen müssen und dort zu ihrem eigenen Schutz eingeschlossen. Einige Personen hätten, so weitere Vorwürfe, versucht in Büros einzelner Abgeordneter einzudringen. Teils schein dies gelungen zu sein, aus Büros wurden Videos im Internet geteilt. Am Tag nach diesen Vorfällen verlangten nunmehr alle Fraktionen - mit einer Ausnahme - Aufklärung des Sachverhalts und Prüfung rechtlicher Konsequenzen. In einer eilends einberufenen Sitzung des Ältestenrates und Aktuellen Stunde im Plenum wurden die Vorwürfe wiederholt, in der Debatte fielen scharfe Worte; schwere Vorwürfe wurden erhoben. „Wir wissen, dass in Ihren Reihen Nazis sind", sagte Barbara Hendricks von der SPD und erörterte, wie sich die Atmosphäre im Bundestag seit 2017 verändert habe. Immer wieder gäbe es Provokationen, teilweise sogar Bedrohungen. Als „Tabubruch“ bezeichnete die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, die Vorfälle. Der Plan der Störer sei aber nicht aufgegangen: Das Parlament habe ordnungsgemäß abstimmen können. Stefan Müller, CSU, sagte: „Die Feinde der Demokratie kommen nicht nur von außen, die Feinde der Demokratie sitzen auch hier in diesem Plenarsaal“. Die AfD erzeuge ein Klima der Angst. Die Aktion vom vergangenen Mittwoch sei „die offizielle Austrittserklärung der AfD aus dem parlamentarischen Diskurs“ gewesen, so Müller weiter.
Anders sah es die angegriffene größte Oppositions-Fraktion: Von einer „Einschleusung“ durch Abgeordnete könne nicht die Rede sein. „Zumindest einer unserer MdB hatte ordnungsgemäß und auch unter Berücksichtigung der besonderen gestrigen Bedingungen Besuchergruppen angemeldet. Aus Sicherheitsgründen war ja bekanntlich am Mittwoch die ‚Sechs-Personen-Regel‘ außer Kraft, nach der Bundestagsabgeordnete sechs Gäste ohne vorherige Angabe von Personalien mit ins Gebäude nehmen dürfen“ – so deren rechtspolitischer Sprecher. In diesem Sinne äußerten sich am Donnerstagnachmittag auch die Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Alexander Gauland: Die Fraktion habe niemals „Gäste mit dem Ziel in den Bundestag eingeladen, den parlamentarischen Ablauf zu stören oder Abgeordnete an der Ausübung ihres Mandates zu behindern“. Gauland entschuldigte sich dann jedoch in der Aktuellen Stunden zu den Vorfällen. Dass gewählte Volksvertreter bedrängt worden seien, sei „unzivilisiert“ und gehöre sich nicht. „Dafür entschuldige ich mich als Fraktionsvorsitzender. Das hätten wir verhindern und diese Besucher beaufsichtigen müssen.“, Aber, so Gauland weiter: „Wir konnten nicht damit rechnen, dass so was passiert". Die Unterstellung, die Vorfälle seien beabsichtigt gewesen, wies er als „infam“. Gauland und seine Fraktion versuchten dabei, die Debatte von den Vorfällen im Bundestag abzulenken. Während der Demonstration rund um das Brandenburger Tor sei der AfD-Abgeordnete Karsten Hilse festgenommen worden - darüber rege sich keiner auf. Hilse kritisierte auch das Vorgehen von Polizisten gegen Demonstranten. Für nicht ausreichend hielten dies viele Parlamentarier – es handele sich um „nicht weniger als einen Angriff auf das freie Mandat und die parlamentarische Demokratie", sagte Michael Grosse-Brömer, parl. Geschäftsführer der CDU/CSU, und zog historische Parallelen. Hier möge man sich der Methoden der Weimarer Zeit bedienen, doch die Demokratie sei wehrhaft und habe gelernt.
Auch rechtliche Konsequenzen stehen im Raum: Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki erklärte, dass die Vorfälle durchaus eine strafrechtliche Komponente hätten. In Betracht komme die Beihilfe oder gar Anstiftung zur Nötigung von Verfassungsorganen gem. § 106 Strafgesetzbuch (StGB). Noch weiter ging der rechtspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Jürgen Martens: nicht nur eine Teilnahme, sondern auch eine Täterschaft der Parlamentarier käme in Betracht: „Es wird insbesondere eine Strafbarkeit nach § 106 Absatz 1 Nr. 2a und §106 Absatz 2 StGB – Versuch der Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans – zu prüfen sein“. Martens sprach in diesem Zusammenhang davon, dass die „Corona-Kritiker“ in den Bundestag eingeschleust“ worden seien. Hierzu seien weiteren Ermittlungen vonnöten. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bat die Verwaltung des Bundestages, „alle rechtlichen Möglichkeiten zu prüfen, gegen die Täter und diejenigen vorzugehen, die ihnen Zugang zu den Liegenschaften des Bundestages verschafft haben“. Er wertete die Vorfälle in einem Schreiben als „ernst“ und schrieb: „Sie haben unter Kolleginnen und Kollegen sowie bei Mitarbeitern vielfältige Befürchtungen und Ängste ausgelöst und können eine Atmosphäre schaffen, die einer freien und offenen Diskussion entgegensteht. Das dürfen wir im Deutschen Bundestag nicht zulassen.“
Laut Kubicki drohten den beteiligten Abgeordneten auch Sanktionen auf Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT): so sieht z.B. § 38 GO-BT den nachträglichen Sitzungsausschluss von Abgeordneten für den Fall vor, dass diese die Ordnung oder die Würde des Bundestages „gröblich verletzt“ haben. Nach der Beratung im Ältestenrat ist klar, dass der Bundestag bei der Ahndung der Vorfälle die rechtliche Bandbreite ausschöpfen will. Wegen der im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwürfe könnte sogar die Immunität der beteiligten Abgeordneten aufgehoben werden. Prüfen will der Ältestenrat auch Ergänzungen der Geschäftsordnung, um ähnliche Zwischenfälle künftig besser sanktionieren zu können. Aus einem Sicherheitsbericht der Bundestagspolizei geht inzwischen hervor, dass es sich insgesamt um vier Besucher handelte, die von drei Abgeordneten eingeladen worden waren. Jetzt droht ein Bundestags-Hausverbot. Die Personen seien bereits vorher eingeladen worden.