Nach Art. 65 Satz 1 GG bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Verfassungsrechtlich ergibt sich hieraus eine Sonderstellung des Bundeskanzlers im Verhältnis zu den Ministern: Er (oder sie) ist Regierungschef. Deshalb beinhaltet sie unumstritten das Recht des Bundeskanzlers, in politischen Grundsatzfragen Führungsentscheidungen zu treffen, bei denen sich das Kabinett als Ganzes nicht einig wird. Zuvorderst soll bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesministern jedoch die Bundesregierung als Kollegium entscheiden (Art. 65 Satz 3 GG). Die Regierung ist damit ein Kollegialorgan und es gilt grundsätzlich das Kollegialitätsprinzip. Aber: der Kanzler ist „Erster unter Gleichen“ und hat eine weiterreichende Machtfülle.
Ein Spannungsverhältnis ist dabei Art. 65 GG immanent: Nach dem in Satz 2 verankerten Ressortprinzip leiten die Bundesminister (ggf. innerhalb der vom Kanzler gesetzten Richtlinien) ihre Geschäftsbereiche eigenständig und unter eigener Verantwortung. Richtlinien sind hier zunächst Grundentscheidungen der Regierungspolitik, also die allgemeine politische Ausrichtung - nicht eine detaillierte Ausformung der Regierungspolitik. Allerdings können auch Einzelfragen für die politische Ausrichtung wesentlich sein und dann Gegenstand von Richtlinien werden. Ob der Fortbetrieb von Kernkraftwerken eine generelle Grundsatz- oder konkrete Einzelfallentscheidung ist kann somit dahinstehen.
Die Richtlinienkompetenz ist auch in § 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GeschO BReg) geregelt. Dieses „Machtwort“ erstreckt sich jedoch nur auf die Bundesregierung. Denn mit der Richtlinienentscheidung ist zwar formal festgeschrieben, wie die Haltung der Bundesregierung insgesamt in einer wichtigen politischen Frage ist. Auch die Verantwortung ist dann geklärt: Laut BVerfG (BVerfGE 2,1) gilt die „Verantwortlichkeit der Regierung“ als ein Pfeiler der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO). Und wenn sich in dieser eine einzelne Person durchsetzt - wenn auch verfasssungsrechtlich legitimiert – durchsetzt, trägt diese dann auch letztendlich die Verantwortung.
Eine Entscheidung im Parlament beeinflusst dies - zumindest direkt - nicht. Die Abgeordneten verfügen nach Art. 38 I S. 2 GG über ein freies Mandat, sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen). Sie unterliegen aber faktisch der Fraktions- bzw. Koalitionsdisziplin. Auch die meisten Landesverfassungen kennen eine Richtlinienkompetenz der jeweiligen Regierungschefs. Allein in Bremen gibt es eine solche nicht - laut Art. 118 Abs. 1 S. 1 LV gibt die Bremische Bürgerschaft die Richtlinien vor, nach denen der Senat die Verwaltung der Hansestadt zu führen hat. In Berlin verfügt der Regierende Bürgermeister über eine abgeschwächte Richtlinienkompetenz: Die von ihm bestimmten Richtlinien der Regierungspolitik bedürfen nach Art. 58 Abs. 2 der LVerf Berlin der Billigung durch das Abgeordnetenhaus.
Bundeskanzler Scholz machte am 17. Oktober 2022 von dieser Richtlinienkompetenz Gebrauch: er wies die zuständigen Minister und Ministerinnen an, die für ein Gesetzgebungsverfahren erforderlichen Entwürfe vorzulegen, um die drei letzten aktiven Kernkraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinaus weiter betreiben zu können. Davor hat nur der erste Kanzler Konrad Adenauer diese Mittel genutzt, zumindest soweit bekannt wäre.