Zu Beginn der neuen Legislaturperiode werden die Ausschüsse im Bundestag neu besetzt, das gilt für die normalen Mitglieder und auch die Vorsitzposten. Hierbei ist die AfD bei der Vergabe nicht berücksichtigt worden. Mit ihren Bewerbungen für den Vorsitz des Innen- und des Gesundheitsausschusses wie auch des Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit scheiterten die Bewerber der AfD. Entgegen der Gepflogenheiten fanden geheime Wahlen statt. Der Innenausschuss lehnte den von der AfD-Fraktion nominierten Martin Hess, einen ehemaligen Polizisten aus Baden-Württemberg, mit großer Mehrheit als Vorsitzenden ab. Im Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit und in dem für Gesundheit fielen Jörg Schneider und Dietmar Friedhoff, beide auch von der AfD vorgeschlagen, ebenso durch. Im bisherigen Procedere hatten die Fraktionen ihrer Stärke nach Vorsitzposten besetzt - Die Vorsitzendenposten in den Ausschüssen werden nach der Größe der Fraktionen verteilt, wobei immer erst die größte Fraktion zugreifen darf, dann die zweitgrößte, die drittgrößte und so weiter. Daran schließen sich weitere Runden nach demselben Muster an. Normalerweise sind die Vorsitzenden damit „gesetzt“. Anderes ist aber möglich, wenn Abgeordnete Widerspruch gegen die Berufung einlegen. So war es im Januar 2018 beispielsweise auch in der konstituierenden Sitzung des Rechtsausschusses. Wenn die für den Vorsitz vorgeschlagene Person in einem Ausschuss nicht gewählt werde, so werde dies anschließend im Ältestenrat verhandelt, teilte die Bundestagsverwaltung auf Anfrage mit.Danach stellen SPD und Union je sieben der 25 Ausschuss-Vorsitzenden; die Sozialdemokraten leiten unter anderem den Außenausschuss sowie Arbeit und Soziales, Verkehr und Petitionen; die Union als größte Oppositionspartei hatte traditionell das erste Zugriffsrecht und sicherte sich den Vorsitz im mächtigen Haushaltsausschuss. Sie legte ihren Schwerpunkt auf Wirtschaftsthemen und reklamierte auch den Vorsitz bei Finanzen, Recht, Wirtschaft und Landwirtschaft. Die FDP leiten Bauen, Verteidigung und Menschenrechte, Die Grünen den Bundestags-Europa-Ausschuss und daneben Umwelt, Bildung und Digitales. Diese Parteien hatten allesamt kein Interesse am Vorsitz des Innenausschusses angemeldet, die SPD wählte als erstes den Auswärtigen Ausschuss, die FDP entschied sich als erste Option für den Verteidigungsausschuss. Erst danach war die AfD am Zug. Die Linkspartei stellt nur einen Ausschuss-Vorsitz - den für Klima und Energie.Dass der AfD „Zugriff“ auf den Innenausschuss des Bundestages gewährt wurde stieß auf scharfe Kritik. „Es ist ein sicherheitspolitischer Skandal, dass die Ampel dieses zentrale Amt einer Partei überlässt, die von Extremisten durchsetzt ist. Ausgerechnet die AfD, die selbst zur Hälfte vom Verfassungsschutz beobachtet wird, soll künftig die parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsbehörden leiten - da wird der Bock zum Gärtner gemacht“, sagte CSU-Politikerin Andrea Lindholz, die den Ausschuss in der zurückliegenden Wahlperiode geleitet hatte. Kritik kam auch von der Gewerkschaft der Polizei. Es sei nicht nachvollziehbar, wie eine Partei maßgeblich sensible Themen der inneren Sicherheit gestalten solle, „in deren Reihen offen nationalsozialistische Parolen sowie Hass und Hetze gegen Andersdenkende, Minderheiten und Ausländer nicht nur geduldet, sondern auch teils befördert werden“, sagte GdP-Bundeschef Oliver Malchow. Es verwundere zudem sehr, dass die anderen Fraktionen der AfD den Vorsitz des Innenausschusses überlassen hätten. Britta Haßelmann, neue Fraktionsvorsitzende der Grünen, begründete dies inhaltlich, etwa mit der Umsetzung des geplanten EU-Klimapakets, der Frage erläuterte, dass ihre Fraktion den Europausschussvorsitz besetzen wolle, da es hier um Themen wie Flucht und Asyl sowie eine gemeinsame Außenpolitik gehe. Als Vorsitzender des Europaausschusses ist Ex-Fraktionschef Anton Hofreiter im Gespräch. Er war bei der Verteilung der Kabinettsposten leer ausgegangen. Der einschlägige § 58 der GeschO des BT lautet: „Die Ausschüsse bestimmen ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat.“ Von einer „Wahl“ ist also nicht die Rede. In der letzten Wahlperiode hatte der GeschO-Ausschuss im Bundestag dem Rechtsausschuss grünes Licht für die Abwahl Brandners gegeben. Dieser war als Ausschussvorsitzender gewählt worden, daher – so die Argumentation nach actus contrarius – sei auch eine Abwahl möglich. Auf diesen Standpunkt stellen sich die Parlamentarischen Geschäftsführer von Union, Grünen, SPD, Linken und FDP auch im aktuellen Streit: Johannes Fechner, Parlamentarischer Geschäftsführer und Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion, erklärte aus der GeschO lasse sich kein Anspruch für eine Fraktion ableiten, dass eine bestimmte Person Vorsitzender eines Ausschusses werde. Es sei es das gute Recht der Mitglieder des Innenausschusses, einer Person dieses wichtige Amt nicht anzuvertrauen falls beim Kandidaten für den Vorsitz mangelnde Qualifikation oder andere Hindernisse - wie etwa die Beobachtung durch den Verfassungsschutz – vorlägen.Stephan Thomae, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied im GO-Ausschuss, betont, der Kandidat selbst sei verantwortlich für die eigenen Mehrheiten: "In dieser Frage weist die Geschäftsordnung des Bundestages einen gewissen Interpretationsspielraum auf. So hat sich die Bestimmung der Ausschussvorsitzenden lediglich nach den Vereinbarungen im Ältestenrat zu richten (§ 58 GO-BT). Dass der Ältestenrat hierzu Wahlen vereinbart, ist nicht neu. Echte Wahlen bedeuten aber auch, dass die jeweiligen Kandidaten für die eigenen Mehrheiten selbst verantwortlich sind. Und ich persönlich kann mir jedenfalls kein Szenario vorstellen, in dem ich einen Kandidaten der AfD bei dessen Wahl zum Ausschuss-Vorsitzenden unterstützen kann." Die Legitimität von Wahlen zu den Ausschuss-Vorsitzposten in den Ausschüssen sieht auch die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic: „Richtig ist, dass bestimmte Fraktionen in bestimmten Ausschüssen das Vorschlagsrecht für den Ausschussvorsitz haben. Ebenso richtig ist aber, dass der Ausschuss nach der Geschäftsordnung den Vorschlag bestätigen muss. Dies ist in allen Ausschüssen durch eine Wahl geschehen. Dabei gilt für die individuelle Entscheidung der Abgeordneten nach Art.38 des Grundgesetzes, dass sie diese in voller Freiheit und nur ihrem Gewissen unterworfen treffen.“Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, führte aus: „Bei der Wahl der Ausschussvorsitzenden und der Bundestagsvizepräsidenten besitzen die Fraktionen ein Vorschlagsrecht. Niemand stellt dieses Recht der Fraktionen, in diesem Fall der AfD, in Frage. Selbstverständlich müssen diese Vorschläge dann eine Mehrheit finden, da die Abgeordneten in ihrer Entscheidung frei sind. Dieses Vorgehen entspricht der Geschäftsordnung. Es liegt daher an der AfD, Personalvorschläge zu unterbreiten, die mehrheitsfähig sind“. Auch der erste Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion Die Linke, Jan Korte, führte das freie Mandat nach Art. 38 Abs. 1 GG an: „Es gibt keinen Zwang für frei gewählte Abgeordnete, irgendjemanden für irgendetwas zu wählen. Für uns als Abgeordnete der LINKEN ist klar, dass wir niemals Faschisten wählen werden.“Die AfD möchte sich wegen der Vorgänge mit einer Organklage nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 63ff. BVerfGG zur Wehr setzen. Wie der Prozessvertreter der AfD-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Elicker, erklärte, sei „unmittelbar nach den Weihnachtstagen“ die Einreichung einer Organklage sowie eines Antrags auf einstweilige Anordnung geplant. Es gehe dabei nicht um spezifische subjektiv-rechtliche Interessen der AfD-Fraktion, sondern vielmehr um den grundsätzlichen Schutz von Minderheitenrechten. Die Regelung sei unabhängig davon, ob sich eine Fraktion gerade in der Minderheit oder einer Mehrheitskonstellation befinde. „Dieses Minderheitenrecht, besser: diese Minderheitenkompetenz ist auch den Oppositionsfraktionen im Interesse des Funktionierens der parlamentarischen Demokratie auf der Arbeitsebene des Parlaments zugewiesen“, so Elicker, es gehöre zu den Grundelementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, nach der die Möglichkeit gewährleistet sein muss, dass die Opposition zur Regierung wird. Schon in der letzten Legislatur war der AfD-Vorsitzende im Rechtsauschuss abgewählt worden, gegen diese Abwahl Brandners im Rechtsausschuss hatte die AfD die Verletzung diverser verfassungsrechtlich garantierter Fraktionsrechte aus Art. 38 Abs.1 Satz 2 GG gerügt. Zur Begründung führte diese an, das Recht auf Gleichbehandlung als Fraktion sowie das Recht „auf faire und loyale“ Anwendung der Geschäftsordnung wäre verletzt. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Abs. 3 GG folgende Recht auf effektive Opposition führte die Fraktion ebenfalls an. Eine einstweilige Anordnung lehnte das BVerfG (Beschl. v. 04.05.2020, 2 BvE 1/20) seinerzeit ab - auch wenn es nicht ausgeschlossen sei, dass die AfD durch Brandners Abwahl in ihren verfassungsrechtlichen Oppositionsrechten verletzt wurde, sie im Hauptsacheverfahren also Erfolg hätte, so habe die AfD-Fraktion diese Nachteile hinzunehmen. Schließlich, so die Entscheidung, hätte die Fraktion ja die Möglichkeit, einen anderen Kandidaten für den Vorsitz des Rechtsausschusses zu benennen. Damit sei sie nicht vollständig an der Erfüllung ihrer Oppositionsaufgaben gehindert. Das BVerfG räumte aber ein, dass der Grundsatz der effektiven Opposition „nicht eindeutig“ sei. Aus dem Mehrheitsprinzip nach Art. 42 Abs. 2 GG und den im GG vorgesehenen parlamentarischen Minderheitenrechten folge der Respekt vor der Sachentscheidung der parlamentarischen Mehrheit, aber auch die Gewährleistung einer realistischen Chance der parlamentarischen Minderheit, zur Mehrheit zu werden. Ob dazu aber auch das Recht der AfD-Fraktion gehört, über die Person ihres Ausschuss-Vorsitzenden allein zu bestimmen, beantworteten der Senat (noch) nicht.