Nach geläufiger Definition ist eine Körperverletzung sittenwidrig, wenn sie „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt. Diese Definition bringt einen in der konkreten Anwendung und damit auch in der Klausur nicht weiter. Schließlich können Sie kein Meinungsforschungsinstitut beauftragen, um dieses Anstandsgefühl zu ermitteln. Und wer ist schon „billig und gerecht“ denkend?
Es bedarf also konkreter Anhaltspunkte, mithilfe derer die Verletzung der guten Sitten begründet werden kann.
Wichtige Anhaltspunkte sind zum einen die Gefährlichkeit der Körperverletzungshandlung und die Wahrscheinlichkeit eines schweren evtl. sogar tödlichen Verlaufs.
So wurde das sog. „Autosurfen“, durch welches beim Opfer eine Querschnittslähmung herbeigeführt wurde, als sittenwidrig angesehen. (OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325) Auch ein im sado-masochistischen Kontext ausgeführtes Würgen des damit ausdrücklich einverstandenen Opfers wurde vom BGH (BGHSt 49, 166) als sittenwidrig eingestuft. Tatsächlich verstarb das Opfer infolge des Würgens. Da der Täter aber keinen Tötungsvorsatz hatte, kam nur § 227 StGB in Betracht.
Der Zweck der Körperverletzungshandlung wird nur ausnahmsweise herangezogen, so vor allem bei medizinischen Maßnahmen. Hier können auch lebensgefährliche medizinische Behandlungen, die der Wiederherstellung der Gesundheit oder der Lebensrettung dienen, über eine Einwilligung gerechtfertigt sein. (BGH NStZ 2020, 29)
Eine weitere Orientierung bietet die Rechtsordnung und die sich aus einzelnen Normen ergebende Wertung des Gesetzgebers.
So wurden Körperverletzungen, die im Rahmen von Massenschlägereien, bei denen die Opfer sich bewusst und gewollt in die Schlägerei hineinbegeben hatten, als sittenwidrig angesehen. Hier wurde § 231 StGB herangezogen, aus dem sich ergibt, dass vor allem auch die Eskalationsgefahr bei derartigen Schlägereien Strafzweck sein kann. (BGH NJW 2013, 1397). Bei den genannten sado-masochistischen Praktiken hat der BGH auf den sich aus § 216 StGB ergebenden, absoluten Lebensschutz verwiesen.
Ein Verstoß gegen andere Normen oder deren Wertungen muss aber nicht zwingend zur Sittenwidrigkeit führen. So hat der BGH jüngst eine, in einer Seniorenresidenz arbeitenden Pflegekraft, die – ohne entsprechende ärztliche Verschreibung - einem schwer kranken Bewohner eine letztlich tödliche Morphiumdosis verabreichte, um die Schmerzen zu lindern, als möglicherweise gerechtfertigt angesehen. Diese Täterin hatte zwar gegen § 29 I 1 Nr. 6b BtMG verstoßen, indem sie ohne Verschreibung Morphium verabreichte. In dem Kontext der indirekten Sterbehilfe hat der BGH dann aber die Sittenwidrigkeit verneint. Begründet wurde dies mit der besonderen Ausnahmesituation eines unheilbar kranken Menschen, dem nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden könne. Diese Schmerzbekämpfung könne in besonderen Situationen auch durch nicht ärztliches Personal erfolgen. (BGH NStZ 2020, 29).
Expertentipp
In einer Klausur kommt es vor allem auf Ihre umfassende Würdigung des Sachverhalts und eine nachvollziehbare Argumentation an. Da es sich um eine Wertung handelt, ist im Ergebnis mit guten Argumenten vieles vertretbar.