Nach h.M. hat der Bundespräsident ein materielles Prüfungsrecht, wenn ein Gesetz, das ihm zur Ausfertigung vorgelegt wird (evident) gegen das Grundgesetz verstößt. Sehr umstritten ist die Frage, ob er auch die Ausfertigung eines Gesetzes verweigern dürfte, wenn das Gesetz Unionsrecht verletzt, z.B. gegen die Grundfreiheiten oder das Diskriminierunsverbot aus EUV und AEUV verstößt.
Eine Ansicht lehnt ein solches Prüfungsrecht ab. Wichtige Argumente: Der Wortlaut des Art. 82 GG begrenzt die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten auf die Vereinbarkeit mit dem GG. Außerdem spricht das Prinzip des Anwendungsvorrangs gegen das Recht, die Ausfertigung eines Gesetzes zu verweigern. Mangels Geltungsvorrangs des Unionsrechts ist das Gesetz gar nicht nichtig.
Eine andere Ansicht räumt dem Bundespräsidenten dagegen ein Prüfungsrecht ein: Wegen des Vorrangs von Unionsrecht sei auch die Verletzung von Unionsrecht verfassungswidrig. Der Bundespräsident, der gem. Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist, könne nicht dazu verpflichtet werden, sehenden Auges, einen Verstoß gegen das Unionsrecht zu legitimieren, dadurch, dass er das Gesetz ausfertigt. Dass seine Prüfungskompetenz grundsätzlich auf das GG beschränkt sei, spreche nicht dagegen. Schließlich stelle ein Verstoß gegen das Unionsrecht wegen des Integrationshebels in Art. 23 GG zugleich einen Verstoß gegen das GG dar.