Inhaltsverzeichnis
VI. Platzverweis nach Art. 16 PAG
1. Platzverweis nach Art. 16 Abs. 1 PAG
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Zur Abwehr einer konkreten GefahrBerner/Köhler/Käß Art. 16 Rn. 2. oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut erlaubt Art. 16 Abs. 1 PAG die vorübergehende Verweisung von einem Ort oder ein vorübergehendes Betretungsverbot. Ferner kann aufgrund der negativen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit die Platzverweisung auch gegen Personen angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr oder von Hilfs- und Rettungsdiensten behindern.
Die Verantwortlichkeit richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen der Art. 7 ff. PAG.
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Maßgebliche Probleme bereitet die Bestimmung des Begriffs der „vorübergehenden“ Verweisung. Teilweise wird auf relative und absolute zeitliche Grenzen abgestellt,Vgl. dazu ausführlich Schenke Rn. 132 f. Berner/Köhler/Käß stellt demgegenüber überzeugend auf die Dauer der Gefahr ab.Berner/Köhler/Käß Art. 16 Rn. 3. Maßgeblich ist also, ob die Gefahr abgewehrt ist oder feststeht, dass die Gefahr von Dauer ist bzw. mit der Maßnahme eines vorübergehenden Platzverweises gar nicht abgewehrt werden kann (wie z.B. bei den dauerhaften Aufenthaltsverboten). Erforderlich ist also letztlich eine im Einzelfall im Hinblick auf die Gefahrenabwehr auch zweckmäßige Befristung des Platzverweises.
2. Kontaktverbot, Aufenthalts- und Meldeanordnung
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Vor dem Hintergrund der geänderten Bedrohungslage, insbesondere durch Gefährder, wurden in Ergänzung der tradierten Befugnis der Platzverweisung spezielle polizeiliche Regelungen für orts- und gebietsbezogene Aufenthaltsge- und verbote sowie für Kontaktverbote zur Abwehr von bestehenden oder drohenden Gefahren für hochrangige Rechtsgüter aufgenommen.
Kontaktverbote i.S.v. Art. 16 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 PAG werden bisher vor allem bei Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum oder Stalking angeordnet, kommen aber auch dann in Betracht, wenn die betroffene Person Kontakt zu anderen gefährlichen Personen oder Gruppierungen sucht, etwa um konspirativ die Begehung von Straftaten vorzubereiten oder zu planen.Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017, Seite 16.
Aufenthaltsverbote und Aufenthaltsgebote nach Art. 16 Abs. 2 PAG müssen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen und sind daher örtlich wie zeitlich zu beschränken. Dem trägt bereits die Einschränkung des Regelungsbereichs in Art. 16 Abs. 2 S. 1 PAG auf „bestimmte“ Orte bzw. Gebiete Rechnung. Die örtliche Beschränkung ist vor dem Hintergrund ausreichender Bestimmtheit der Anordnung entweder durch Beifügung eines gekennzeichneten Straßenplans oder durch die inhaltliche Bezugnahme auf Straßenzüge und –kreuzungen in der Anordnung umzusetzen. Die Anordnungen dürfen zudem gemäß Art. 16 Abs. 2 S. 3 PAG die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten und können bei Fortbestehen der Anordnungsvoraussetzungen um jeweils nicht mehr als drei Monate verlängert werden.Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017, Seite 16.
Daneben ergeben sich auch aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 4 PAG besondere Anforderungen. So dürfen durch die Maßnahmen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden oder der betroffenen Person die Wahrnehmung berechtigter Interessen unmöglich gemacht werden So muss es der betroffenen Person z.B. weiterhin möglich sein, einen Arzt, Rechtsanwalt, soziale Einrichtungen oder Behörden aufzusuchen oder Gerichtstermine wahrzunehmen.Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017, Seite 16.
Art. 16 Abs. 2 S. 2 PAG enthält letztlich die Befugnis zum Erlass von Meldeanordnungen. Bereits vor der Aufnahme des Art. 16 Abs. 2 S. 2 PAG wurden Meldeanordnungen von der Polizei, gestützt auf die Generalklausel des Art. 11 Abs. 1 PAG, bei Gefahrverursachern aus unterschiedlichen Bereichen, vom Hooligan über potentielle Sexualstraftäter bis hin zum islamistischen Gefährder, angeordnet, um diese von ihrem gefährdenden Tun räumlich wie zeitlich abzuhalten.
3. Dauerhafte Anordnungen
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Nach dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 PAG („vorübergehend“) und der zeitlichen Grenze des Art. 16 Abs. 2 S. 3 PAG fallen also dauerhafte Platzverweise sowie dauerhafte Kontaktverbote, Aufenthaltsverbote und -gebote sowie Meldeanordnungen nicht unter Art. 16 PAG. Insofern stellt sich die Frage, ob dafür auf Art. 11 PAG zurückgegriffen werden kann, ob also Art. 16 PAG eine abschließende Regelung der Lebenssachverhalte Platzverweisung, Kontaktverbote, Aufenthaltsverbote und -gebote sowie Meldeanordnungen oder nur eine Regelung der entsprechenden vorübergehenden Lebenssachverhalte enthält.
Im Hinblick auf Kontaktverbote, Aufenthaltsverbote und -gebote sowie Meldeanordnungen nach Art. 16 Abs. 2 PAG dürfte angesichts der differenzierten Regelungen des Art. 16 Abs. 2 S. 3 PAG mit der zeitlichen Beschränkung und dem vorgesehenen Mechanismus einer Verlängerung ein Rückgriff auf Art. 11 PAG ausgeschlossen sein.
In Bezug auf Platzverweise nach Art. 16 Abs. 1 PAG dürfte diese Frage weiterhin ungeklärt sein, in Bayern aber aufgrund des Subsidiaritätsprinzips des Art. 3 PAG keine Rolle spielen. Denn danach darf die Polizei ohnehin nur soweit und solange tätig werden, als anderen Behörden die Gefahrenabwehr nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist. Bei dauerhaften Platzverweisen wären in Bayern somit die Anforderungen des Art. 3 PAG nicht mehr erfüllt und die Sicherheitsbehörden anstelle der Polizei zum Handeln berufen.
4. Konflikte mit Grundrechten
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Bezüglich des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG gilt Folgendes: Aufenthaltsverbote nach Art. 16 PAG greifen nicht in Art. 13 GG ein, denn sie stellen kein staatliches Eindringen in die von Art. 13 GG geschützte räumliche Privatsphäre dar.Wollenschläger in: Huber/Wollenschläger § 4 Rn. 137; Grünewald in: BeckOK PSR Art. 16 PAG Rn. 16.1; BVerfG NJW 2008, 2493. Anders ist dies beim Betreten einer Wohnung gegen den Willen des Wohnungsinhabers zur mündlichen Anordnung von Maßnahmen gemäß Art. 16 PAG.Wollenschläger in: Huber/Wollenschläger § 4 Rn. 137. In den letztgenannten Fällen des staatlichen Eindringens ist das Erfordernis der konkreten Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut durch die Anforderungen nach Art. 13 Abs. 7 GG zu modifizieren, welche in diesem Fall einzuhalten sind. Der Begriff der Wohnung erfasst dabei auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume.Berner/Köhler/Käß Art. 23 Rn. 4. Bei einem Verweis aus der Wohnung durch die in die räumliche Privatsphäre eindringende Polizei ist demnach nicht (einfach) eine konkrete Gefahr ausreichend, sondern entsprechend Art. 13 Abs. 7 GG eine gemeine Gefahr, eine Lebensgefahr für einzelne Personen oder eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung der Seuchengefahr oder zum Schutz gefährdeter Jugendlicher erforderlich.
Hinweis
In (seltenen) Fällen beruft sich der Eigentümer oder auch der Mieter der Wohnung auch auf den Schutz nach Art. 14 GG. Dieser schützt nach Ansicht des BVerfG auch den Mieter mit seinem Recht zur Nutzung seiner Wohnung. In jedem Fall stellen die Vorschriften des PAG aber zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG dar, welche Inhalt und Schranken des Eigentums zulässigerweise ausgestalten.
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Expertentipp
Bei den folgenden Ausführungen zu den Grundrechten handelt es sich um echte Klassiker, die auch „jenseits“ der Maßnahmen eines Platzverweises sehr häufig in polizei- und sicherheitsrechtlichen Klausuren relevant werden.
Ein Aufenthaltsverbot oder ein Wohnungsverweis beeinträchtigt nicht den Schutzbereich des Grundrechts der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (bzw. Art. 102 Abs. 1 BV). Nach dem historischen Hintergrund und auch aus dem Zusammenhang mit Art. 104 GG (Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG: „Festgehaltene Personen“) ergibt sich, dass nur die Freiheit gewährleistet wird, nicht dauerhaft an einem bestimmten Ort festgehalten zu werden und gerade nicht die Freiheit, jeden beliebigen Ort aufzusuchen. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist also nur einschlägig, wenn eine Person dauerhaft an einem bestimmten Ort festgehalten wird.
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Mit dem Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG wird zwar auch die Lebensgemeinschaft, also die räumliche Zusammengehörigkeit mit der Ehefrau und den anderen Familienmitgliedern geschützt. Auch Art. 6 Abs. 1 GG wird also insbesondere bei einem Wohnungsverweis betroffen. Als vorbehaltlos gewährtes Grundrecht ist Art. 6 Abs. 1 GG der Einschränkung durch verfassungsimmanente Schranken zugänglich. Insoweit schränkt die staatliche Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG den Schutz von Ehe und Familie ein (bei Kindern kann man zudem noch auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG abstellen) und ermöglicht insbesondere in den Fällen häuslicher Gewalt eine Einschränkung des Art. 6 Abs. 1 GG.
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Die Freizügigkeit nach Art. 11 GG bzw. Art. 109 BV ist nicht in jedem Fall von einem vorübergehenden Platzverweis oder Wohnungsverweis tangiert.Vgl. dazu Schenke Rn. 133. Nach dem BayVGH ist eine Einschlägigkeit grundsätzlich zu verneinen, weil der Betroffene nicht generell in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit gehindert wird, sondern nur daran, bestimmte Orte aufzusuchen, für deren Besuch kein vorrangiges persönliches Interesse besteht.Berner/Köhler/Käß Art. 16 Rn. 4. Maßgeblich für die Frage, ob der Schutzbereich betroffen ist, ist also die Frage, ob ein vorrangiges persönliches Interesse am Aufsuchen eines bestimmten Orts besteht. Das ist dann der Fall, wenn der Aufenthalt an diesem Ort objektiv eine besondere Bedeutung für den Betroffenen hat, was nach Teilen der Literatur insbesondere bei einem Verweis aus der Wohnung als Lebensmittelpunkt denkbar ist.Berner/Köhler/Käß Art. 74 Rn. 1: diese Fundstelle sollten Sie in jedem Fall lesen!
Sollte man nach diesen Grundsätzen zu einem Eingriff kommen, stellt das PAG eine zulässige Rechtfertigung dar. Es erfüllt den Kriminalvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG, wonach eine Beschränkung aufgrund eines Gesetzes zulässig ist, um strafbaren Handlungen vorzubeugen. Ein solches Gesetz kann auch ein Landesgesetz sein.Berner/Köhler/Käß Art. 16 Rn. 4. Art. 11 Abs. 2 GG wird dabei als speziellere Regelung für das Gebiet der Gefahrenabwehr gesehen, weshalb Art. 73 Nr. 3 GG, der grundsätzlich dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Freizügigkeit zuweist, nicht entgegensteht. Das Zitiergebot im Hinblick auf das Grundrecht der Freizügigkeit wird mit Art. 100 PAG ebenfalls beachtet, weshalb sich die früher bestehende Problematik im Zusammenhang bei Eingriffen in das Grundrecht der Freizügigkeit erledigt hat.
Hinweis
Erschrecken Sie bitte nicht vor diesen wohl für Sie im ersten Moment ungewöhnlichen und anspruchsvollen Ausführungen zu den Grundrechten. Meistens berufen sich die Akteure in den Klausuren ausführlich auf die entsprechenden Grundrechte und führen dabei sogar die bayerische Verfassung an!
5. Verhältnis zum Gewaltschutzgesetz
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Expertentipp
Hier handelt es sich um genau das gleiche Problem wie das Ihnen sicherlich bereits bekannte (folgende) Problem des Verhältnisses des Polizeirechts zum Versammlungsrecht.
Im Rahmen des Anwendungsbereichs des Gewaltschutzgesetzes ist ein Rückgriff auf Art. 16 PAG ausgeschlossen, um z.B. den störenden Bewohner der Wohnung zu verweisen. Sämtliche Maßnahmen nach dem GewSchG sind vor den Zivilgerichten durchzusetzen, es besteht nach § 49 FamFG die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung. Insoweit handelt es sich also um spezielle Regelungen, die Maßnahmen der Polizei nach dem PAG ausschließen. Nicht geregelt ist im GewSchG allerdings der Zeitraum bis zum Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das zuständige Gericht, der in der Praxis bis zu 10 Tage betragen kann. Mangels entsprechender Regelung für diesen Zeitraum kann also insoweit der Vorrang des speziellen GewSchG nicht eingreifen, weshalb anerkannt ist, dass die Polizei innerhalb dieses Zeitraums bis zum Erlass einer richterlichen Entscheidung Maßnahmen nach dem PAG treffen kann.Mit demselben Ergebnis auch Fall 5 Seiler Rn. 132 ff.
6. Verhältnis zum Versammlungsrecht
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Im Hinblick auf Platzverweise nach Art. 16 Abs. 1 PAG ist die Abgrenzung zum Versammlungsrecht im Hinblick auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung zu beachten (siehe dazu die ausführlichen Erläuterungen im Kapitel „Versammlungsrecht“ Rn. 316 ff.). Hinsichtlich der Aufenthaltsverbote und -gebote stellt Art. 16 Abs. 2 Satz 4 PAG dieses Verhältnis ausdrücklich klar.