Polizei- und Ordnungsrecht NRW

Gefahrenabwehrverfügung - Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen

Juracademy JETZT WEITER LERNEN!

Dieses und viele weitere Lernvideos sowie zahlreiche Materialien für die Examensvorbereitung erwarten dich im Kurspaket Öffentliches Recht NRW



375 weitere Lernvideos mit den besten Erklärungen


1479 Übungen zum Trainieren von Prüfungsschemata und Definitionen


Prüfungsnahe Übungsfälle und zusammenfassende Podcasts


Das gesamte Basiswissen auch als Skript auf 2170 Seiten

1. Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen

68

Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage einschlägig ist. Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen kommen in erster Linie bei ordnungsbehördlichen Gefahrenabwehrverfügungen in Betracht. Zu den prüfungsrelevanten spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen des besonderen Ordnungsrechts gehören z.B. §§ 58 Abs. 2 S. 2, 81 Abs. 1, 82 BauO NRW 2018, §§ 17, 20, 24–29 BImSchG,

Bundesimmissionsschutzgesetz. §§ 5, 12 Abs. 3, 21 Abs. 1 GastG,Gaststättengesetz. In Nordrhein-Westfalen existiert derzeit kein LGastG, so dass das BGastG gemäß Art. 125a Abs. 1 GG fortgilt, bis es durch Landesrecht ersetzt wurde. §§ 15 Abs. 2, 35 GewO,Gewerbeordnung. §§ 16 Abs. 3, Abs. 4, 24 HandwO,Handwerksordnung. § 22 StrWG NRW,Straßen- und Wegegesetz des Landes Nordrhein-Westfalen. § 25 StVG,Straßenverkehrsgesetz. §§ 17, 31a StVZO.Straßenverkehrszulassungsordnung.

a) Verhältnis zwischen spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen und Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts

69

Die spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen genießen grundsätzlich Anwendungsvorrang vor den Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts. Ob und ggf. inwieweit das Spezialgesetz die sondergesetzlich geregelte Materie abschließend regelt und damit einen Rückgriff auf die Vorschriften des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausschließt, müssen Sie in jedem Einzelfall durch Auslegung des Spezialgesetzes und seiner Ermächtigungsgrundlage prüfen. Als Grundregel sieht das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht vor, dass Bundes- oder Landesgesetze, in denen die Gefahrenabwehr spezialgesetzlich geregelt ist, den allgemeinen Gefahrenabwehrgesetzen vorgehen und dass die allgemeinen Gefahrenabwehrgesetze, sofern die Spezialgesetze keine abschließenden Regelungen enthalten, ergänzend anzuwenden sind (vgl. z.B. § 1 Abs. 2 S. 2 OBG).

Vgl. Mann in: Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht Rn. 621.

Beispiel

Z betreibt einen Zeitschriften- und Tabakladen. Berufliche und persönliche Sorgen haben ihn zum Alkoholiker werden lassen. Als die zuständige Behörde hiervon Kenntnis erlangt, untersagt sie dem Z jedwede gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit. – Die auf § 35 Abs. 1 GewO gestützte Gewerbeuntersagung gegenüber Z betrifft die Ausübung gewerblicher Tätigkeit (das „Ob“ gewerblicher Tätigkeit). Die Gewerbeordnung ist in erster Linie Gewerbezulassungsrecht (vgl. auch § 1 GewO, der den Grundsatz der Gewerbefreiheit einfach-gesetzlich normiert) und enthält insoweit abschließende Regelungen. Ein Rückgriff auf allgemeinere Bestimmungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist daher ausgeschlossen.

Beispiel

Die zuständige Bauaufsichtsbehörde erfährt, dass Familie B ihren Bungalow um ein Obergeschoss aufgestockt hat, ohne zuvor eine Baugenehmigung zu beantragen. Das Bauvorhaben ist nach geltendem Baurecht unzulässig. Die Behörde erlässt daher eine Abrissverfügung. – Durch die Bauordnung NRW 2018 werden den Baubehörden Aufgaben zur Abwehr baurechtlicher Gefahren übertragen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben steht den Baubehörden u.a. die bauordnungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage des § 82 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018 zur Verfügung (s. dazu Skript „Baurecht NRW“ Rn. 444 f. und 449). Auf der Grundlage dieser Bestimmung kann die zuständige Bauaufsichtsbehörde eine Abrissverfügung wegen des Schwarzbaus erlassen, wenn die Voraussetzungen des § 82 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018 vorliegen. Ein Rückgriff auf eine allgemeinere Ermächtigungsgrundlage (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist ausgeschlossen.

Expertentipp

Im Zweifel können Sie davon ausgehen, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage einen abschließenden Charakter hat, weil der Gesetzgeber mit dem Erlass der spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage einen spezifischen Zweck verfolgt und insoweit einen Rückgriff auf allgemeinere Regelungen ausschließen will.

Vgl. auch Drews/Wacke/Vogel/Mertens Gefahrenabwehr S. 154 f.

70

Ergibt Ihre Prüfung, dass eine abschließende spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage zwar existiert, aber in Ihrer Fallbearbeitung nicht eingreift, ist ein Rückgriff auf eine Ermächtigungsgrundlage des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausgeschlossen.

Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 3 Rn. 25 ff.

Beispiel

Anders als in Beispiel 1 oben (Rn. 69) ist Z nicht alkoholkrank. Dennoch wird ihm die gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit untersagt. – Da Z nicht alkoholkrank ist, ist er gewerberechtlich zuverlässig. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 Abs. 1 GewO liegen daher nicht vor. Die Behörde kann in diesem Fall nicht auf allgemeinere Regelungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Gewerbeuntersagung gleichwohl zu verfügen.

Beispiel

Anders als in Beispiel 2 oben (Rn. 69) ist das Bauvorhaben der Familie B genehmigungsfähig. – Eine auf § 82 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018 gestützte Abrissverfügung ist in diesem Falle rechtswidrig. Die Behörde kann auch hier nicht z.B. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Abrissverfügung gleichwohl zu erlassen.

71

Ergibt Ihre Prüfung, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage existiert, diese aber nicht abschließend ist, sondern in bestimmten Punkten (z.B. hinsichtlich des Adressaten oder der auszusprechenden Rechtsfolge) keinen abschließenden Charakter hat, können diese Lücken durch Rückgriff auf die einschlägigen Bestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts geschlossen werden.

Beispiel

Wie oben (Rn. 69) gesehen, enthält die Gewerbeordnung grundsätzlich nur Gewerbezulassungsrecht. Soweit lediglich die Art und Weise der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit betroffen ist, enthält die Gewerbeordnung daher keine abschließende Regelung mit der Folge, dass ein Rückgriff v.a. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel möglich ist.

Beispiel

Die BauO NRW 2018 enthält mit §§ 53 ff. spezielle Regelungen in Bezug auf den Adressaten einer Bauordnungsverfügung „bei der Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und der Beseitigung von Anlagen“ (vgl. § 52 BauO NRW 2018). Soweit diese Bestimmungen nicht einschlägig sind (insbesondere nach Abschluss der genannten Tätigkeiten), ist auf die allgemeinen Regelungen (§§ 17 ff. OBG) zurückzugreifen.

72

Ein wichtiges und vor allem auch prüfungsrelevantes Beispiel bildet in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen dem VersGEinfG NRW (s.o. Rn. 35) und dem PolG NRW, das im folgenden Exkurs näher dargestellt werden soll.Vgl. zu den Grundzügen des Versammlungrechts unter Geltung des VersGEinfG NRW z.B. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 295 ff.

b) Exkurs: Verhältnis zwischen dem VersGEinfG NRW und dem PolG NRW

73

Expertentipp

Nutzen Sie die Gelegenheit zu einer Wiederholung der Versammlungsfreiheit im Skript „Grundrechte“! Die verfassungsrechtlichen Aspekte werden im Exkurs als bekannt vorausgesetzt.

Unter der früheren Geltung des VersG des Bundes (s. dazu Rn. 35) wurde das Verhältnis zwischen dem VersG des Bundes und dem PolG NRW ausschließlich richterrechtlich bestimmt. So war das VersG des Bundes konzipiert als „ein in sich geschlossenes und abschließendes Regelwerk, mit dem sichergestellt wird, dass die zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges notwendigen Maßnahmen getroffen werden können“.BVerwGE 82, 34. Unter der Geltung des VersGEinfG NRW (s. dazu Rn. 35) wird das Verhältnis zwischen dem VersGEinfG NRW und dem PolG NRW demgegenüber nicht mehr ausschließlich richterrechtlich bestimmt, denn der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hat sich mit dem Verhältnis zwischen dem VersGEinfG NRW und dem PolG NRW befasst und – entsprechend der Anregung im Musterentwurf des Arbeitskreises Versammlungsrecht und unter Berücksichtigung der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung – aus Gründen der Rechtsklarheit mit § 9 eine Vorschrift in das VersGEinfG NRW eingefügt, die Regelungen zur Abgrenzung des VersGEinfG NRW zum PolG NRW enthält.Vgl. LT-Drs. 12/12423, S. 61.

 


74

Nach dem Willen des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers werden das organisatorische Vorfeld und die Steuerung der Gesamtversammlung abschließend im VersGEinfG NRW geregelt. Die im VersGEinfG NRW enthaltenen Ermächtigungsgrundlagen entfalten insoweit eine allgemeine Sperrwirkung für das PolG NRW, weshalb Maßnahmen, die sich auf die Gesamtversammlung beziehen, ausschließlich nach dem VersGEinfG NRW zulässig sind.Vgl. zum Ganzen LT-Drs. 12/012423, S. 61. Aus dem insoweit gegebenen abschließenden Charakter des VersGEinfG NRW folgt dementsprechend die sog. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts, d.h. versammlungsbezogene Eingriffe können nur auf Ermächtigungsgrundlagen des VersGEinfG NRW gestützt werden (s. auch Skript „Grundrechte“ Rn. 466). Die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts wird konkret bestimmt durch den Anwendungsbereich des VersGEinfG NRW und innerhalb dieses Anwendungsbereichs durch den Regelungsbereich des VersGEinfG NRW.Vgl. Wehr Examens-Repetitorium Polizeirecht Rn. 258 und Rn. 259 ff., auf denen die nachfolgenden Ausführungen (mit Ausnahme der Beispiele) im Wesentlichen beruhen.

Hinweis

Beachten Sie also, dass die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts nur relativ gilt.

 

aa) Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes

75

Das VersGEinfG NRW regelt Versammlungen. § 1 Abs. 1 VersGEinfG NRW bildet grundsätzlich die Gewährleistung des Art. 8 Abs. 1 GG ab,Vgl. LT-Drs. 12/12423, S. 45. indem er vorsieht, dass jede Person das Recht hat, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen mit anderen zu versammeln und Versammlungen zu veranstalten. Abweichend von Art. 8 Abs. 1 GG („Alle Deutschen“) wird die Versammlungsfreiheit in § 1 Abs. 1 VersGEinfG NRW nicht auf Deutsche beschränkt. Diese erweiternde Geltung der Versammlungsfreiheit fand sich bereits in § 1 Abs. 1 VersG des Bundes („Jedermann“). Mit der in § 1 Abs. 1 VersGEinfG NRW enthaltenen Formulierung „Jede Person“ soll die möglicherweise gesetzessprachlich altertümlich anmutende und Irritationen bzw. Abwehrreaktionen auslösende Formulierung „jedermann“ vermieden werden.Vgl. LT-Drs. 12/012423, S. 45.

Der Begriff der Versammlung im Sinne des VersGEinfG NRW wird in § 2 Abs. 3 VersGEinfG NRW wie folgt definiert:

Definition

Definition: Versammlung

Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft von mindestens drei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.

Beispiel

Zwei Kinder sind im Eis auf einem Weiher eingebrochen. Sofort bleiben zahlreiche Passanten am Uferrand stehen und beobachten das Geschehen. Als die Polizei eintrifft, fordert sie die Passanten zum Verlassen des Unglücksorts auf. – Das Zusammenkommen der Passanten am Uferrand stellt zwar eine örtliche Zusammenkunft von mindestens drei Personen dar; die Zusammenkunft erfolgt aber rein zufällig und dient nicht der gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Bei der Zusammenkunft der Passanten handelt es sich daher nicht um eine Versammlung i.S.d. § 2 Abs. 3 VersGEinfG NRW, sondern um eine bloße Ansammlung mit der Folge, dass das VersGEinfG NRW nicht anwendbar ist und damit keine Sperrwirkung gegenüber anderen gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften entfaltet.

76

Das VersGEinfG NRW enthält Regelungen, die dem Zweck dienen, dass Versammlungen im Sinne dieses Gesetzes ordnungsgemäß und störungsfrei durchgeführt werden. Es soll dementsprechend versammlungsspezifische Gefahren abwehren.

Beispiel

Wegen eines Hauseinsturzes ändert die zuständige Behörde kurzfristig die geplante Route für einen Protestmarsch, weil die Straße, in der das Haus eingestürzt ist, unpassierbar ist. – Mit der Änderung der geplanten Route für den Protestmarsch will die zuständige Behörde mögliche Gefahren z.B. für die körperliche Unversehrtheit der Demonstrationsteilnehmer verhindern. Dabei handelt es sich nicht um die Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren, so dass das VersGEinfG NRW nicht anwendbar ist und damit keine Sperrwirkung gegenüber anderen gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften entfaltet.

Beispiel

Während der Corona-Pandemie werden versammlungsbeschränkende Maßnahmen wie z.B. die Pflicht zum Tragen einer Maske, ein Abstandsgebot oder eine Beschränkung der Teilnehmerzahl erlassen. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um Maßnahmen nach dem IfSGInfektionsschutzgesetz., das der Abwehr seuchenrechtlicher Gefahren und nicht der Abwehr versammlungsrechtlicher Gefahren dient, so dass das VersGEinfG NRW ebenfalls nicht anwendbar ist und damit keine Sperrwirkung gegenüber anderen gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften entfaltet (vgl. auch § 28 Abs. 1 S. 4 IfSG, in dem das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ausdrücklich als einschränkbares Grundrecht genannt wird).Vgl. hierzu auch Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 295; Schenke Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 453.

Dass die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts nur relativ gilt, stellt auch der nordrhein-westfälische Gesetzgeber klar: „Die Polizeifestigkeit der Versammlungsfreiheit führt nicht dazu, dass im Zusammenhang mit Versammlungen polizeiliche Maßnahmen auf der Grundlage anderer, namentlich allgemeiner sicherheitsrechtlicher Vorschriften von vornherein gänzlich ausgeschlossen wären. Insbesondere können nicht versammlungsspezifische Gefahren abgewehrt werden, z.. feuer- und bauordnungsrechtlicher Art. Strafverfolgungsmaßnahmen auf der Grundlage der Strafprozessordnung sind gegen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bzw. Veranstalterinnen und Veranstalter von Versammlungen ebenfalls zulässig. Ebenso wenig kann die Anzeige (oder auch die bloße Durchführung) einer (Spontan-)Versammlung dazu führen, dass sämtliche zuvor erlassenen gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen etwa auf Grundlage des PolG NRW vorübergehend oder gar dauerhaft ihre Wirkung verlören. Der zweifellos hohe Rang der Versammlungsfreiheit kann in der Abwägung mit anderen hochrangigen Schutzgütern nicht dazu führen, dass sich die Versammlungsfreiheit in jedem Falle ‚durchsetzt‚. Jedenfalls vor Anzeige der Versammlung erlassene individualbezogene Anordnungen zur Gefahrenabwehr müssen weiterhin befolgt werden, z.B. Aufenthalts- und Kontaktverbote. Gleiches gilt etwa auch für eine verdeckte längerfristige Observation oder auch die Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Derartige Maßnahmen müssen durchweg hohe tatbestandliche Hürden nehmen und differenzierte Anordnungs- und Durchführungsbestimmungen beachten. (…).“Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 61.

Dem Umstand der nur relativen Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts entspricht § 9 Abs. 1 S. 1 VersGEinfG NRW,Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 61. der vorsieht, dass, soweit das VersGEinfG NRW die Abwehr von Gefahren gegenüber einzelnen Versammlungsteilnehmern nicht regelt, Maßnahmen gegen sie nach dem PolG NRW zulässig sind, wenn von ihnen nach den zum Zeitpunkt der Maßnahme erkennbaren Umständen vor oder bei der Durchführung der Versammlung oder im Anschluss an sie eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Dem Umstand der nur relativen Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts entspricht gleichermaßen § 9 Abs. 1 S. 2 VersGEinfG NRW, nach dem bereits vor Anzeige oder Durchführung der Versammlung erlassene individualbezogene polizeiliche Maßnahmen, insbesondere aufenthaltsbestimmende Anordnungen, unberührt bleiben. Mit „unberührt“ ist nach dem Willen des nordrhein-westfälischen GesetzgebersVgl. LT-Drs. 17/12423, S. 61. gemeint, dass diese Maßnahmen rechtsgültig und rechtmäßig auch unter dem Eindruck der späteren Versammlungsanmeldung bleiben und z.B. nicht nachträglich eine Verschärfung anzunehmen ist, was die Eingriffsschwelle bei der jeweiligen Maßnahme angeht. Als Beispiel nennt der nordrhein-westfälische GesetzgeberVgl. LT-Drs. 17/12423, S. 61 f.die Fallgestaltung, dass gegen Personen ein polizeirechtliches Bereichsbetretungsverbot (vgl. § 34 Abs. 2 PolG NRW) – etwa für den Umgebungsbereich eines Kraftwerks und das Kraftwerk selbst – ergangen ist und diese Personen dann im räumlichen Geltungsbereich des Verbotes eine Versammlung gegen die Kraftwerksnutzung durchführen bzw. an einer solchen teilnehmen wollen. In einem solchen Fall gilt ein nach Polizeirecht zu beachtendes Bereichsbetretungsverbot auch gegenüber dem Wunsch nach Durchführung einer Versammlung an einem bestimmten Ort.

77

Gemäß § 9 Abs. 2 VersGEinfG NRW gilt § 9 Abs. 1 VersGEinfG NRW auch für Versammlungen in geschlossenen Räumen, falls von den Teilnehmern eine Gefahr i.S.d. § 23 Abs. 1 VersGEinfG NRW ausgeht. Somit enthält § 9 Abs. 2 VersGEinfG NRW eine entsprechende Regelung für Versammlungen in geschlossenen Räumen, wobei in § 23 Abs. 1 VersGEinfG NRW diejenigen Gefahren beschrieben werden, deren Abwehr verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 45.

bb) Sachlicher Regelungsbereich des Versammlungsgesetzes

78

§ 2 Abs. 1 VersGEinfG NRW definiert den sachlichen Regelungsbereich des VersGEinfG NRW.Vgl. auch LT-Drs. 17/12423, S. 46. Hiernach regelt das VersGEinfG NRW die Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit bei öffentlichen und nichtöffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen nach Art. 8 GG (vgl. Nr. 1), das Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und bei sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel nach § 17 VersGEinfG NRW (vgl. Nr. 2) sowie das Gewalt- und Einschüchterungsverbot bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und bei sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel nach § 18 VersGEinfG NRW (vgl. Nr. 3). Im Gegensatz zum früher geltenden VersG des Bundes findet sich im VersGEinfG NRW also nicht nur die Gesetzgebungsmaterie des Versammlungsrechts im engeren Sinne, sondern aus allgemeinen Grundsätzen sachgerechter Gesetzgebungskultur darüber hinausgehend auch die Regelungen zum allgemeinen Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot (§ 17 VersGEinfG NRW) sowie zum Militanzverbot (§ 18 VersGEinfG NRW) außerhalb versammlungsrechtlicher Zusammenhänge und Veranstaltungen.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 46.

Prüfungstipp

Prüfungsrelevant dürfte in erster Linie der sachliche Regelungsbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 1 VersGEinfG NRW, d.h. die Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit bei öffentlichen und nichtöffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen nach Art. 8 GG, sein.

79

Ebenso wie im früher geltenden VersG des Bundes wird im VersGEinfG NRW die in Art. 8 GG enthaltene Unterscheidung zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen, die in Art. 8 Abs. 1 GG vorbehaltlos gewährleistet werden, und Versammlungen unter freiem Himmel, die in Art. 8 Abs. 2 GG einem Gesetzesvorbehalt unterliegen, aufgegriffen (vgl. zu den Gewährleistungen des Art. 8 GG Skript „Grundrechte“ Rn. 456 ff.). Abweichend von der verfassungsrechtlichen Gewichtung und der wohl dementsprechenden Reihenfolge im früher geltenden VersG des Bundes enthält das VersGEinfG NRW in den §§ 10 bis 21 zuerst die Vorschriften über Versammlungen unter freiem Himmel und in §§ 22 bis 26 die Vorschriften über die Versammlungen in geschlossenen Räumen. Nach dem Willen des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers soll diese Reihenfolge der besonderen Bedeutung der Versammlungen unter freiem Himmel in der Praxis Rechnung tragen.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 44.

80

Der Begriff der Öffentlichkeit einer Versammlung oder Veranstaltung i.S.d. VersGEinfG NRW wird in § 2 Abs. 4 VersGEinfG NRW wie folgt definiert:

Definition

Definition: Öffentliche Versammlung

Eine Versammlung oder Veranstaltung ist öffentlich, wenn die Teilnahme nicht auf einen individuell bestimmten Personenkreis beschränkt ist oder die Versammlung auf eine Kundgebung an die Öffentlichkeit in ihrem räumlichen Umfeld gerichtet ist.

Andernfalls handelt es sich um eine nichtöffentliche Versammlung oder Veranstaltung. Soweit nichts anderes bestimmt ist, gilt das VersGEinfG NRW sowohl für öffentliche als auch für nichtöffentliche Versammlungen (vgl. § 2 Abs. 2 VersGEinfG NRW). Hierbei handelt es sich um eine bewusste gesetzgebungstechnische Entscheidung des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers, um einen einheitlichen Lebenssachverhalt (Versammlungen) umfassend zu regeln.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 46.

(1) Versammlungen in geschlossenen Räumen (§§ 5 ff. VersG)

(2) Versammlungen unter freiem Himmel (§§ 14 ff. VersG)

cc) Zeitlicher Regelungsgehalt des Versammlungsgesetzes

81

In zeitlicher Hinsicht differenziert das VersGEinfG NRW zwischen dem Zeitraum vor dem Beginn einer Versammlung, dem Zeitraum der Dauer einer Versammlung und dem Zeitraum nach der Beendigung einer Versammlung.

Vor dem Beginn einer Versammlung und während der Dauer einer Versammlung sind Maßnahmen zur Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren, die sich gegen die Gesamtversammlung richten, ausschließlich nach dem VersGEinfG NRW zulässig. Maßnahmen vor dem Beginn der Versammlung, die die Teilnahme an der Versammlung unterbinden sollen, setzen gemäß § 9 Abs. 3 VersGEinfG NRW eine Teilnahmeuntersagung nach § 14 VersGEinfG NRW oder § 24 VersGEinfG NRW voraus. Hiermit wird herausgestellt, dass teilnahmebeschränkende Maßnahmen vor einer Versammlung auf der Grundlage des PolG NRW als ausdrückliche versammlungsrechtliche Teilnahmeuntersagung (nochmals) anzuordnen sind.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 62.

Sobald eine Versammlung beendet ist, kommt das VersGEinfG NRW nicht mehr zur Anwendung (vgl. § 9 Abs. 4 S. 1 VersGEinfG NRW). Unter einer Beendigung i.S.d. § 9 Abs. 4 S. 1 VersGEinfG NRW sind die Schließung und die Auflösung einer Versammlung zu verstehen.Vgl. LT-Drs. 17/12423, S. 62. Gemäß § 9 Abs. 4 S. 2 VersGEinfG NRW kommt das VersGEinfG NRW auch gegenüber solchen Personen nicht mehr zur Anwendung, die bereits vor der Beendigung einer Versammlung den räumlichen Bereich der Versammlung verlassen haben. Nach dem Willen des nordrhein-westfälischen GesetzgebersVgl. LT-Drs. 17/12423, S. 62. kommt das VersGEinfG NRW auch gegenüber Personen, die von der Teilnahme an einer Versammlung ausgeschlossen wurde, nicht mehr zur Anwendung.

(1) Zeitraum vor dem Beginn einer Versammlung

(2) Zeitraum während der Versammlung

(3) Zeitraum nach einer Versammlung

Mit diesen Online-Kursen bereiten wir Dich erfolgreich auf Deine Prüfungen vor

Einzelkurse

€19,90

    Einzelthemen für Semesterklausuren & die Zwischenprüfung

  • Lernvideos & Webinar-Mitschnitte
  • Lerntexte & Foliensätze
  • Übungstrainer des jeweiligen Kurses inklusive
  • Trainiert Definitionen, Schemata & das Wissen einzelner Rechtsgebiete
  • Inhalte auch als PDF
  • Erfahrene Dozenten
  • 19,90 € (einmalig)
Jetzt entdecken!

Kurspakete

ab €17,90mtl.

    Gesamter Examensstoff in SR, ZR, Ör für das 1. & 2. Staatsexamen

  • Lernvideos & Webinar-Mitschnitte
  • Lerntexte & Foliensätze
  • Übungstrainer aller Einzelkurse mit über 3.000 Interaktive Übungen & Schemata & Übungsfällen
  • Integrierter Lernplan
  • Inhalte auch als PDF
  • Erfahrene Dozenten
  • ab 17,90 € (monatlich kündbar)
Jetzt entdecken!

Klausurenkurse

ab €29,90mtl.

    Klausurtraining für das 1. Staatsexamen in SR, ZR & ÖR mit Korrektur

  • Video-Besprechungen & Wiederholungsfragen
  • Musterlösungen
  • Perfekter Mix aus leichteren & schweren Klausuren
  • Klausurlösung & -Korrektur online einreichen und abrufen
  • Inhalte auch als PDF
  • Erfahrene Korrektoren
  • ab 29,90 € (monatlich kündbar)
Jetzt entdecken!

Übungstrainer

€9,90mtl.

    Übungsaufgaben & Schemata für die Wiederholung

  • In den Einzelkursen & Kurspaketen inklusive
  • Perfekt für unterwegs
  • Trainiert Definitionen, Schemata & das Wissen aller Rechtsgebiete
  • Über 3.000 Interaktive Übungen zur Wiederholung des materiellen Rechts im Schnelldurchlauf
  • 9,90 € (monatlich kündbar)
Jetzt entdecken!