Inhaltsverzeichnis
II. Zuständiges Gericht für den Eröffnungsantrag
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Expertentipp
Lesen Sie §§ 2 und 3 InsO aufmerksam durch. Beide Paragrafen enthalten alle relevanten Informationen.
Zuständig für den Eröffnungsantrag ist das Insolvenzgericht, das eine Abteilung des Amtsgerichts ist (§ 2 Abs. 1 InsO). Da das Insolvenzrecht eine komplexe Materie ist, werden von den Richtern und Richterinnen seit 2013 belegbare Kenntnisse im Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht sowie Grundkenntnisse im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht gefordert (§ 22 Abs. 6 S. 2 GVG). Das Insolvenzgericht hat erhebliche Entscheidungsgewalt. Bei der Frage, wer Insolvenzverwalter wird, übt es die Personalhoheit aus. Es entscheidet über Sicherungsmaßnahmen, Anträge auf Eigenverwaltung und über strategische Schuldneranträge, wie das Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO). Daher kann es aus Sicht des Schuldners von großem Interesse sein, das „richtige Gericht“ zu finden, das seine (Insolvenz-)pläne und Sanierungsbemühungen unterstützt. In der InsO finden sich zur Zuständigkeit des Gerichts klare Regelungen.
1. Sachliche Zuständigkeit
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Die sachliche Zuständigkeit ist in § 2 InsO geregelt. Ausschließlich zuständig ist das Amtsgericht (Abteilung Insolvenzgericht). Derzeit existieren in Deutschland 182 Insolvenzgerichte.
Haarmeyer/Frind Insolvenzrecht Rn. 48. In jedem Landgerichtsbezirk sollte nur ein Amtsgericht zuständig sein (§ 2 Abs. 1 InsO), nämlich das Amtsgericht am Sitz des Landgerichts selbst. Die meisten der sechzehn Bundesländer haben aber davon abgesehen, pro Landgerichtsbezirk nur ein Amtsgericht zu benennen (§ 2 Abs. 2 InsO).Foerste Insolvenzrecht Rn. 35. Damit konnte sich die Idee einer stärkeren Zuständigkeitskonzentration nicht durchsetzen. Andere Länder, andere Sitten: In Österreich gibt es beispielsweise nur 16 Insolvenzgerichte.a) Grundregel
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Die örtliche Zuständigkeit ist in § 3 InsO geregelt. Sie gibt Auskunft darüber, welches der 182 Insolvenzgerichte in Deutschland für den Insolvenzfall zuständig ist. Primär richtet sich die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit gem. § 3 Abs. 1 S. 2 InsO danach, wo der Schuldner den Mittelpunkt seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Im Englischen verwendet man die Abkürzung COMI (= centre of main interests). Der Mittelpunkt ist dort, wo die maßgeblichen Unternehmensentscheidungen getroffen werden, also wo die Geschäftsleitung des Rechtsträgers (GmbH, AG, UG, KGaA, SE, OHG, KG etc.) sitzt, Geschäfte schließt und Mitarbeiter einstellt. Dies ist nach objektiven Kriterien (nach außen erkennbar für Dritte) zu bestimmen.
BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06 = NJW-RR 2007, 1062, 1063. Die bloße Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen reicht jedenfalls nicht. Hilfsweise ist gem. § 3 Abs. 1 S. 1 InsO auf den allgemeinen Gerichtsstand abzustellen. Bei Unternehmen ist das der Satzungssitz, der im Handelsregister eingetragen ist (§ 17 ZPO). Bei natürlichen Personen ist es der Wohnsitz (§ 12, 13 ZPO). Das Gericht muss seine Zuständigkeit nach § 5 InsO von Amts wegen prüfen. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Eingang des Eröffnungsantrags bei Gericht.BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06 = NZI 2007, 344. Verlegt der Schuldner nach dem Antrag seinen COMI oder seinen Satzungssitz, bleibt das angegangene Insolvenzgericht zuständig (§ 4 InsO i.V.m. § 261 ZPO).BGH v. 13.11.2008 – IX ZB 201/07 = BeckRS 2008, 24714 Rn. 8.Beispiel
Die MyTV GmbH hat ihren allgemeinen Gerichtsstand (§ 17 ZPO) in Nürnberg, da sie dort ihren Satzungssitz hat (in ihrer Satzung wurde Nürnberg als Satzungssitz gewählt; die GmbH ist dort im Handelsregister unter der Handelsregisternummer HRB XXX eingetragen). Örtlich zuständig ist daher das Insolvenzgericht Nürnberg (§ 3 Abs. 1 S. 1 InsO). Da auch die Hauptniederlassung in Nürnberg ist (die Fernsehgeräte werden dort hergestellt; dort sitzt die Geschäftsleitung), gibt es keine nach § 3 Abs. 1 S. 2 InsO abweichende Zuständigkeit.
b) Konzerninsolvenz
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Bei Konzerninsolvenzen ist derzeit die örtliche Zuständigkeit für jede konzernangehörige Gesellschaft eigenständig zu bestimmen.
Bork Insolvenzrecht Rn. 53. Die Praxis hilft sich teilweise damit, dass sie den COMI der Tochter am Ort der Mutter ansiedelt und einen einheitlichen Verwalter bestellt (z.B. bei der Arcandor AG, der Karstadt Warenhaus GmbH, der Primondo GmbH = Quelle). Dies kann zu Interessenkonflikten führen, wenn der gleiche Verwalter Ansprüche der Tochter gegen die Mutter durchsetzen soll.Bork Insolvenzrecht Rn. 53.c) Forum shopping?
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Zuständigkeitsregeln lassen sich durchaus zum eigenen Vorteil nutzen. So gibt es bei Pressestreitigkeiten bestimmte Gerichte, die eher pressefeindlich agieren. Dort werden dann die Persönlichkeitsklagen anhängig gemacht (Stichwort forum shopping). Auch in Insolvenzverfahren sind derartige Strategien nicht mehr unbekannt, wie die Beispiele Securanta AG
Hierzu Reischl Insolvenzrecht Rn. 52. oder Pfleiderer AG zeigen. Die Firma Pfleiderer AG war als Holdinggesellschaft mit zehn eigenen Mitarbeitern tätig. Ihre Töchter (GmbHs mit mehreren tausend Mitarbeitern) waren für das operative Geschäft zuständig. Satzungssitz der AG war laut Handelsregister Neumarkt. Aufgrund gescheiterter Expansionsvorhaben geriet die AG in eine Krise. Zu deren Bewältigung wurde ein Sanierungsexperte aus Düsseldorf herangezogen. Mehrere Monate vor dem Eröffnungsantrag verlegte die AG ihren Geschäftssitz = Verwaltungssitz nach Düsseldorf (die Vorstände zogen von Neumarkt nach Düsseldorf um). Am 28.3.2012 stellte die AG Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim Insolvenzgericht Düsseldorf. Am selben Tag stellte ein Gläubiger einen Eröffnungsantrag beim Insolvenzgericht Nürnberg. Das AG Düsseldorf bejahte wegen § 3 Abs. 1 S. 2 InsO seine Zuständigkeit. Hier zeigt sich, dass Unternehmen durchaus strategische Wege in der „Sitzfrage“ gehen. Manche Unternehmen verändern sogar ihren Firmennamen, um zu erreichen, dass bei ihrem Insolvenzgericht ein anderer Richter alphabetisch für sie zuständig wird.3. Funktionelle Zuständigkeit
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Die funktionelle Zuständigkeit ist in §§ 3 Abs. 2e, 18, 19a RPflG geregelt. Das gesamte Eröffnungsverfahren ist dem Richter/der Richterin vorbehalten. Im eröffneten Verfahren übernimmt vom Grundsatz her der Rechtspfleger/die Rechtspflegerin das Verfahren. Davon gibt es aber zahlreiche Ausnahmen, wie die Erteilung oder Versagung der Restschuldbefreiung (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 RPflG) und das Insolvenzplanverfahren (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 RPflG). Häufig haben die zuständigen Richter und Richterinnen keine ganze Stelle in Insolvenzsachen, sondern werden prozentual auch für Betreuungs- oder Vollstreckungssachen eingesetzt. Das erschwert manchmal die Arbeit.
4. Internationale Zuständigkeit
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Expertentipp
Die Konkurrenz der Rechtsordnungen in der EU ist gerade im Insolvenzrecht ein großes Thema.
Innerhalb der EU ist auch das deutsche Insolvenzrecht einem gewissen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. So bietet England Verbrauchern eine Restschuldbefreiung bereits nach einem Jahr mit dem Nebeneffekt, dass die Vermittlung englischer Wohngemeinschaften zum Geschäftsmodell avanciert ist. Aber auch für Unternehmen gewährt das englische Insolvenz- bzw. Sanierungsrecht (scheme of arrangement) einige Vorteile. Der Netzbetreiber Telecolombus und der Brillenhersteller Rodenstock haben genau aus diesem Grund ihren Sitz nach England verlegt. Ist aufgrund eines Umzugs fraglich, welches europäische Gericht (deutsches oder englisches etc.) für die Insolvenz zuständig ist, hilft ein Blick in die EuInsVO (gilt für die 28 Mitgliedstaaten der EU). Nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsVO sind die Gerichte des Mitgliedsstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner seinen COMI (centre of main interests) hat. Nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO gilt die Vermutung, dass dies der Ort ist, wo sich der satzungsmäßige Sitz befindet. Bei nicht aufklärbaren Zweifeln bleibt es bei diesem Ort.
EuGH NZI 2006, 360, 361; BGH v. 1.12.2011 – IX ZB 232/10 = NZI 2012, 151, 152. Das Gericht des satzungsmäßigen Sitzes darf daher von seiner internationalen Zuständigkeit ausgehen, solange sich aus dem Vortrag des Schuldners nichts anderes ergibt; Ermittlungen „ins Blaue hinein“ verlangt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 5 InsO) nicht.BGH v. 1.12.2011 – IX ZB 232/10 = NZI 2012, 151, 152. Die Eröffnung des Verfahrens in dem Mitgliedstaat hat dann universale Wirkung, da sie sich auch auf das EU-Auslandsvermögen des Unternehmens erstreckt (= Hauptinsolvenzverfahren).EuGH v. 15.12.2011 – C-191/10 = NZI 2012, 147, 148. Existiert eine Zweigniederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat, darf dort ein Sekundärinsolvenzverfahren (beschränkt auf das dortige Vermögen) eröffnet werden.EuGH v. 15.12.2011 – C-191/10 = NZI 2012, 147, 148; BGH v. 18.9.2014 – VII ZR 58/13 = NZI 2014, 969, 970. Bejahen mehrere Mitgliedstaaten ihre internationale Zuständigkeit zur Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens, ist das zeitlich erste Gericht zuständig; alle später eröffneten Verfahren sind Sekundärinsolvenzverfahren (Art. 3 Abs. 3 EuInsVO mit Art. 102 § 3 EGInsO).Ehricke/Biehl Insolvenzrecht S. 137 (Fall 240). Derzeit ist eine Reform der EuInsVO in Arbeit.