Insolvenzrecht

Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO - Zustimmungsvorbehalt

2. Zahlungsverbot des §15b Abs.1 S.1 InsO

a) Anwendungsbereich und Normadressaten

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Das Zahlungsverbot betrifft nur juristische Personen (§ 15b Abs. 1 S. 1 InsO) und gleichgestellte Gesellschaften, die keine natürliche Person als Vollhafter haben, wie die GmbH & Co. KG (§ 15b Abs. 6 InsO). Es gilt nicht für Vereine und Stiftungen (§ 15b Abs. 7 InsO). Adressaten der Haftung sind gem. § 15b Abs. 1 S. 1, Abs. 6 InsO die Antragspflichtigen i.S.d. § 15a Abs. 1 S. 1 InsO, d.h. die Mitglieder des Vertretungsorgans der juristischen Person. Dazu gehören die Geschäftsführer der GmbH (auch die faktischen Geschäftsführer), die Vorstandsmitglieder der AG sowie der Komplementär der KGaA.BeckOK InsR/Wolfer InsO § 15b Rn. 4. Bei mehreren Organmitgliedern (z.B. sieben Vorstände) unterliegt jedes Mitglied dem Zahlungsverbot; eine bestehende Ressortaufteilung hat keine Relevanz.Vgl. Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 10.

b) Fristbeginn

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Das Zahlungsverbot beginnt, sobald Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung eingetreten sind. Es setzt also bereits am ersten Tag der Zahlungsunfähigkeit/Überschuldung ein und beginnt nicht erst mit Ablauf der Drei- bzw. Sechs-Wochen-Frist des § 15a InsO.Lötschert/Müller/Schmidt in: Thierhoff/Müller Unternehmenssanierung Kap. 8 Rn. 33.

c) Zahlungsbegriff

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Der Begriff der Zahlung ist weit auszulegen. Er umfasst Geldleistungen, aber auch andere Rechtshandlungen, die zu einer Schmälerung des Schuldnervermögens (Aktiva) führen.HambKomm-InsR/Schmidt InsO § 15b Rn. 16; Hodgson NZI-Beil. 2021, 85. So stellt der Einzug von Forderungen auf ein debitorisches Konto grundsätzlich eine masseschmälernde Zahlung dar, da das Aktivvermögen zugunsten der verrechnenden Bank verringert wird.Vgl. BGH NZI 2021, 45 Rn. 31; NZI 2020, 425 Rn. 15; NZI 2016, 588 Rn. 39. Eine Ausnahme gilt, wenn die Forderungen an die Bank sicherungsabgetreten wurden.Vgl. BGH NZI 2016, 588 Rn. 40 ff.; NZI 2016, 272 Rn. 13, 17. Der BGH berücksichtigt zudem in engen Grenzen objektiv verwertbare Gegenleistungen und lässt (auf Ebene der Rechtsfolge) die Erstattungspflicht entfallen. Wird durch die Zahlung aus dem Schuldnervermögen eine Sicherheit frei, die der Schuldner nun verwerten kann, stellt dies bei wirtschaftlicher Betrachtung eine „Gegenleistung“ und damit keine Verringerung der Aktivmasse dar (sog. Aktiventausch).BGH NZI 2021, 45 Rn. 32 ff.; NZI 2016, 588 Rn. 47. Gleiches gilt, wenn der Schuldner eine Ware unter Eigentumsvorbehalt kauft und diese später bezahlt; damit gelangt das Eigentum in die Masse (Aktiventausch). Bezahlt der Schuldner dagegen eine bereits gelieferte Ware im Nachhinein, liegt ein Verstoß gegen das Zahlungsverbot vor. Grund ist, dass jede Vorleistung bereits zur Masse gehört.BGH NZI 2021, 45 Rn. 44 ff.; Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 25.

d) Privilegierte Zahlungen

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Nach § 15b Abs. 1 S. 2 InsO ist die Haftung des Geschäftsführers für solche Zahlungen ausgeschlossen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers vereinbar sind. Dies wird in § 15b Abs. 2 und 3 InsO konkretisiert.

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Nach der Fiktion des § 15b Abs. 2 S. 1 InsO gelten Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen, als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers vereinbar. Dazu gehören Zahlungen, die zur Betriebsfortführung objektiv erforderlich sind, wie Lohnzahlungen, Zahlungen für Gas, Wasser, Strom, Telefon, Internet, Miete, Leasingraten, Versicherungen und betriebsnotwendige Güter.Hierzu Klöhn/Zell NZI 2022, 673, 678 f. Das Privileg dient dazu, Sanierungschancen offen zu halten. Allerdings heißt das nicht, dass diese Ausgaben ab Eintritt der Zahlungsunfähigkeit unreflektiert getätigt werden dürfen. Denn in § 15b Abs. 2 S. 2 InsO ist geregelt, dass die Zahlungen im Zeitraum zwischen Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und Ablauf der Drei(Sechs)-Wochen-Frist nur geleistet werden dürfen, solange die Antragspflichtigen Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags tätigen. Der antragspflichtige Geschäftsführer muss also parallel aktiv werden (durch Sanierungsbemühungen oder Insolvenzgespräche). Hat der Geschäftsführer bereits Insolvenzverschleppung begangen, ist jegliche Privilegierung ausgeschlossen (§ 15b Abs. 3 InsO).

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Zahlungen, die im Zeitraum des Eröffnungsverfahrens (= Zeitraum zwischen Insolvenzantrag und Eröffnung des Insolvenzverfahrens) mit Zustimmung eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters (§ 22 Abs. 2 S. 1 InsO) vorgenommen wurden, sind stets sorgfaltsgemäß (§ 15b Abs. 2 S. 3 InsO). Dies ist sachgerecht, da der Geschäftsleiter aufgrund des Zustimmungsvorbehalts gar nicht mehr in der Lage ist, selbstständig Zahlungen zu veranlassen. Ist ein starker vorläufiger Verwalter bestellt, nimmt dieser (und nicht der Geschäftsführer) die Zahlungen vor, so dass eine Haftung des Geschäftsführers von vornherein ausscheidet.BeckOK InsR/Wolfer InsO § 15b Rn. 23.

e) Steuerverbindlichkeiten

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Für steuerrechtliche Zahlungspflichten gilt § 15 Abs. 8 InsO. Die Norm greift einen Konflikt zwischen dem Steuer- und dem Insolvenzrecht auf. Nach den steuerrechtlichen Normen unterliegt der Geschäftsführer der persönlichen Haftung aus §§ 34, 69 AO, wenn er betriebliche Steuern nicht bezahlt. Zahlt er sie, droht ihm die persönliche Haftung aus § 15b Abs. 1 InsO. Dieser Konflikt wird durch § 15 Abs. 8 S. 1 InsO entschärft. Danach liegt eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten nicht vor, wenn der Geschäftsführer seine Pflicht, fristgerecht Insolvenzantrag zu stellen (§ 15a Abs. 1 InsO) erfüllt hat. Demnach kann der Schuldner ab Eintritt der Insolvenzreife sämtliche Zahlungen (§§ 224 ff. AO) stoppen, da keine Gefahr einer persönlichen Haftung besteht.Schneider NZI 2021, 996, 997; Witfeld/Dannemann NZI 2021, 905, 907 und 909. Hat der Geschäftsführer versäumt, rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen, ist eine Verletzung steuerrechtlicher Pflichten nur hinsichtlich der Zahlungspflichten ausgeschlossen, die nach der Bestellung eines vorläufigen Verwalters fällig wurden (§ 15b Abs. 8 S. 2 InsO).

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Für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen (Arbeitnehmeranteilen) fehlt eine dem § 15b Abs. 8 InsO vergleichbare Regelung. Hier besteht ein Konflikt zwischen Zahlungsverbot und Strafrecht. Der Konflikt lässt sich zugunsten des Geschäftsführers dadurch lösen, dass er die Beträge nicht bezahlt. An sich ist die Nichtabführung der Sozialversicherungsbeiträge nach § 266a StGB ein Straftatbestand. Nach der Rechtsprechung begründet das Zahlungsverbot des § 15b Abs. 1 InsO (§ 64 GmbHG a.F.) in der Drei-Wochen-Frist einen temporären Rechtfertigungsgrund, so dass die Strafbarkeit des Geschäftsführers bei Nichtzahlung entfällt.BGH NJW 2003, 3787, 3788; LG Freiburg NZI 2019, 729 Rn. 18; BeckOK StGB/Wittig StGB § 266a Rn. 20.1. Im Eröffnungsverfahren scheidet eine Strafbarkeit bei Bestellung eines (starken oder schwachen) vorläufigen Insolvenzverwalters mangels Zurechenbarkeit von vornherein aus. Versäumt der Geschäftsführer hingegen die rechtzeitige Insolvenzantragstellung, lebt die Strafbarkeit wieder auf.Heinrich NZI 2021, 258, 259.

f) Verschulden

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Die Haftung setzt ein Verschulden des Geschäftsleiters voraus, wobei einfache Fahrlässigkeit genügt.BGH NZI 2022, 385 Rn. 30; Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 33. Nach § 15b Abs. 1 S. 2 InsO wird das Verschulden vermutet. Der Geschäftsführer kann die Vermutung widerlegen, indem er nachweist, dass er mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers gehandelt hat. Mangelnde Sachkenntnis („ich kann keine Bilanz lesen“) kann den Geschäftsführer nicht entschuldigen. Nach Ansicht des BGH muss der Geschäftsleiter zudem für eine Organisation sorgen, die ihm jederzeit eine Übersicht über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft ermöglicht.BGH NZI 2021, 45 Rn. 53; NZI 2019, 225 Rn. 14. Kann er selbst nicht ausreichend sicher beurteilen, ob das Unternehmen insolvenzreif ist, muss er fachkundigen Rat einholen.Vgl. BGH NZI 2020, 425 Rn. 38; NZI 2016, 588 Rn. 34. Schaltet der Geschäftsleiter einen unabhängigen Experten ein, darf er dessen Empfehlung vertrauen, sofern er sämtliche Unterlagen offengelegt und das Ergebnis einer Plausibilitätskontrolle unterzogen hat.Vgl. BGH NZI 2021, 45 Rn. 53; NZI 2020, 425 Rn. 38; NZI 2016, 588 Rn. 34. In einem Dauermandat darf der Geschäftsführer ebenfalls darauf vertrauen, dass er von seinem Steuerberater gem. §§ 280 BGB, 102 StaRUG ungefragt auf eine mögliche Insolvenzreife hingewiesen wird.Vgl. BGH NZI 2016, 588 Rn. 36.

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Die in § 15b InsO normierte Pflicht trifft jedes Mitglied im Kollegialorgan. Sind sieben Vorstände bestellt, ist jedes Vorstandsmitglied haftbar. Ausnahmsweise kann sich ein Organmitglied darauf berufen, dass nicht er, sondern ein anderes Mitglied für die Prüfung der Insolvenzreife zuständig war. Das setzt eine wirksame Ressortverteilung voraus (z.B. Finanzen, Vertrieb, Personal, Entwicklung), d.h. eine eindeutige und einvernehmliche Abgrenzung der Aufgaben, die Übernahme der Aufgaben durch fachlich und persönlich geeignete Personen sowie die Zuständigkeit des Gesamtorgans für nicht delegierbare Aufgaben.BGH NZI 2019, 225 Rn. 17 ff.; Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 35. Weitere Voraussetzung ist ein gegenseitige, engmaschige Kontrolle.

g) Rechtsfolgen

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Nach § 15b Abs. 4 S. 1 InsO muss der Geschäftsführer die Zahlungen an die Gesellschaft zurückerstatten, die entgegen § 15b Abs. 1 S. 1 InsO geleistet wurden (Innenhaftung). Nach Insolvenzeröffnung wird der Anspruch vom Insolvenzverwalter (§ 80 Abs. 1 InsO) geltend gemacht.Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 63, 73. Die dogmatische Einordnung des Anspruchs ist umstritten. Nach h.M. handelt es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch, sondern wegen des Wortlauts „zur Erstattung der Zahlungen“ um einen Ersatzanspruch eigener Art.BeckOK InsR/Wolfer InsO § 15b Rn. 27; HambKomm-InsR/Schmidt InsO § 15b Rn. 65. Der Geschäftsführer ist verpflichtet, jede einzelne Zahlung, die gegen § 15b Abs. 1 S. 1 InsO verstößt, zu erstatten (Additionsmethode).Vgl. Braun/Weber/Dömmecke InsO § 15b Rn. 41; Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 15b Rn. 66. Nach § 15b Abs. 4 S. 2 InsO kann der Geschäftsführer jedoch geltend machen, dass der Gesellschaft insgesamt ein geringerer Schaden entstanden ist. Der Schadensersatzanspruch nach § 15b InsO kann von einer D&O-Versicherung abgedeckt werden.Vgl. BGH NZI 2021, 41; OLG Köln NZI 2022, 498 Rn. 23 f. Der Insolvenzverwalter kann die D&O-Haftpflichtversicherung jederzeit kündigen.Vgl. BGH NZI 2016, 580 Rn. 15, 16. Der Anspruch aus § 15b InsO ist am Gerichtstand des § 29 ZPO (Sitz der Gesellschaft) einzuklagen.Vgl. BGH NZI 2019, 775 Rn. 14 ff. Ein Verzicht der Gesellschaft oder ein Vergleich über die Erstattungsansprüche ist gem. § 15b Abs. 4 S. 4 InsO unwirksam (Ausnahmen regelt § 15b Abs. 4 S. 5 InsO). Nach § 15b Abs. 7 InsO verjähren die Ansprüche in fünf Jahren, bei börsennotieren Gesellschaften beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre.

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