Inhaltsverzeichnis
464
Vorsicht
Umstritten ist, unter welchen Voraussetzungen der Erlass einer Nutzungsuntersagung nach Maßgabe des § 82 Abs. 1 S. 2 BauO NRW 2018 gerechtfertigt ist.Vgl. näher Stollmann/Beaucamp Öffentliches Baurecht § 19 Rn. 19 f. m.w.N.
Nach einer Ansicht setzt der Erlass einer Nutzungsuntersagung immer voraus, dass die Nutzung der Anlage formell und materiell baurechtswidrig ist. Zur Begründung führt diese Ansicht an, dass wegen des Gewichts und der wirtschaftlichen Bedeutung einer Nutzungsuntersagung keine Veranlassung bestehe, niedrigere Anforderungen als die formelle und materielle Baurechtswidrigkeit einer Nutzung zu verlangen. Dies gelte umso mehr, als auch die Gegenansicht immer einen Blick auf die materielle Rechtslage werfe, um zu verhindern, dass eine genehmigungsfähige Nutzung untersagt werde.Vgl. z.B. VGH Mannheim DÖV 1996, 750. Nach dieser Ansicht ist in unserem Beispiel 2 oben (Rn. 441) der Erlass einer Nutzungsverfügung gerechtfertigt, weil R die vierte und fünfte Etage seines Wohnhauses gewerblich und nicht – wie genehmigt – zu Wohnzwecken nutzt und die ausgeübte gewerbliche Nutzung in einem reinen Wohngebiet nicht genehmigungsfähig ist.
Überwiegend und vor allem in der Rechtsprechung wird demgegenüber vertreten, bereits die formell baurechtswidrige Nutzung einer baulichen Anlage rechtfertige grundsätzlich den Erlass einer Nutzungsuntersagung, weil die Nutzungsuntersagung – ähnlich wie die Stilllegungsverfügung – jederzeit wieder rückgängig gemacht werden könne. Der Erlass einer Nutzungsuntersagung soll trotz formell baurechtswidriger Nutzung einer baulichen Anlage ausnahmsweise jedoch dann nicht gerechtfertigt sein, wenn der Bauherr den Bauantrag gestellt hat, die Nutzung aus der Sicht der Bauaufsichtsbehörde genehmigungsfähig ist und der Genehmigungserteilung auch im Übrigen keine Hindernisse entgegenstehen (sog. passiver Bestandsschutz).Vgl. z.B. OVG NRW Beschluss vom 1.8.2019 – 10 B 813/19 (juris); zum Ganzen Hellermann in: Dietlein/Hellermann Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 4 Rn. 292 m. w. N. In unserem Beispiel 2 oben (Rn. 441) ist der Erlass einer Nutzungsuntersagung auch nach dieser Ansicht gerechtfertigt, weil die gewerbliche Nutzung der vierten und fünften Etage des Wohnhauses der genehmigten Nutzung zu Wohnzwecken widerspricht und die ausgeübte gewerbliche Nutzung in einem reinen Wohngebiet nicht genehmigungsfähig ist.
Die formell baurechtswidrige Nutzung einer baulichen Anlage rechtfertigt jedoch auch nach dieser Ansicht nichts stets den Erlass einer Nutzungsuntersagung. Es ist vielmehr anerkannt, dass der Erlass einer Nutzungsuntersagung trotz formell baurechtswidriger Nutzung einer baulichen Anlage im Einzelfall unverhältnismäßig sein kann. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Nutzungsuntersagung gegenüber einem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ausgesprochen wird und mit Blick auf das damit verbundene Insolvenzrisiko in ihren Auswirkungen nahezu einer Beseitigungsanordnung gleichkommen würde.Vgl. OVG NRW NWVBl. 2014, 466. Das OVG NRW hat insoweit ausgeführt, die Einzelfallumstände dürften trotz des typisierten Umgangs mit Nutzungsuntersagungen nicht aus dem Blick geraten. Je mehr sich eine Nutzungsuntersagung einem Substanzeingriff annähere oder mit anderweitigen schweren, irreversiblen Folgen für den Pflichtigen verbunden sein könnte, desto höher würden mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG die Verhältnismäßigkeitsanforderungen.Vgl. OVG NRW NWVBl. 2014, 466.
Expertentipp
Den Meinungsstreit müssen Sie nur dann näher erörtern und entscheiden, wenn die verschiedenen Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Andernfalls genügt es, wenn Sie kurz erwähnen, dass es den Meinungsstreit gibt, dieser aber in Ihrer Fallkonstellation wegen übereinstimmender Ergebnisse nicht entschieden werden muss.