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„Stadt gegen Freistaat Bayern“
Bernd Büser (B) plant in der kreisangehörigen Stadt Aichach im Landkreis Aichach-Friedberg ein Hotelgebäude für 1000 Gäste zu errichten. Als Standort ist ein Grundstück des B vorgesehen, das mehrere hundert Meter von der nächsten Bebauung liegt. Für dieses Grundstück existiert ein in Aufstellung befindlicher Bebauungsplan, wonach Grünflächen und eine Kleingartenanlage vorgesehen sind. Einen ordnungsgemäßen Bauantrag reicht B mit Schreiben vom 22.2.2022, eingegangen bei der Stadt Aichach am 23.2.2022, ein. In der Sitzung vom 22.3.2022 beschließt der Stadtrat der Stadt Aichach, die Erteilung des Einvernehmens nach § 36 BauGB zu verweigern. Zum einen füge sich das Hotelgebäude nicht in die umliegende Landschaft ein, die überwiegend ländlich geprägt sei; zum anderen stehe das geplante Vorhaben im Widerspruch zu dem sich in Aufstellung befindlichen Bebauungsplan. Nach der Weitergabe des Bauantrags, verbunden mit der Verweigerung der Erteilung des Einvernehmens, an das Landratsamt Aichach-Friedberg erteilte dieses am 21.4.2022 dem B die bauaufsichtliche Genehmigung entsprechend seinem Antrag vom 22.2.2022. Im Bescheid wird die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens vorgenommen. Zuvor wurde die Stadt aufgefordert, die Erteilung des Einvernehmens noch einmal zu überdenken, da es ansonsten ersetzt werde. Das Landratsamt Aichach-Friedberg vertrat gegenüber der Stadt den Standpunkt, das Vorhaben entspreche öffentlichen Interessen, da hiermit eine nicht unerhebliche Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen werde.
Die Stadt Aichach sieht ihre Planung gefährdet, weshalb der Stadtrat in seiner Sitzung vom 26.4.2022 beschließt, gegen die Zulassung des Vorhabens gerichtliche Schritte einzuleiten. Am 27.4.2022 erhebt daraufhin die Stadt Aichach, vertreten durch den ersten Bürgermeister, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg, mit dem Antrag, die dem B erteilte Baugenehmigung vom 21.4.2022 aufzuheben. Die Klage müsse schon deshalb Erfolg haben, weil das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde nach Art. 28 Abs. 2 GG verletzt und der in Aufstellung befindliche Bebauungsplan einfach ignoriert wurde.
Bearbeitervermerk: Prüfen Sie in einem Gutachten die Erfolgsaussichten der Klage der Stadt Aichach.
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Lösung
Die Klage der Stadt Aichach (A) hat Aussicht auf Erfolg, wenn das angerufene Gericht entscheidungskompetent ist sowie die Klage zulässig und begründet ist.
A. Entscheidungskompetenz des Gerichts
Das angerufene Verwaltungsgericht Augsburg müsste zunächst entscheidungskompetent sein.
Mangels aufdrängender Sonderzuweisung kommt nur die allgemeine Rechtswegeröffnung nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO in Betracht. Vorliegend handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, da es sich bei den streitentscheidenden Normen des BauGB und der BayBO ausschließlich um öffentlich-rechtliche Vorschriften i.S.d. Sonderrechtstheorie handelt. Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit liegt eine Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art vor; die Berufung der A auf ihr grundgesetzlich garantiertes Selbstverwaltungsrecht ist insofern nicht ausreichend.
Die Zuständigkeit des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg ergibt sich aus §§ 45, 52 Nr. 1 VwGO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Nr. 6 AGVwGO.
B. Zulässigkeit der Klage
Weiterhin müsste die Klage zulässig sein; dies ist der Fall, wenn alle erforderlichen Sachentscheidungsvoraussetzungen erfüllt sind.
I. Statthaftigkeit
Die statthafte Klageart richtet sich gemäß §§ 86, 88 VwGO nach dem klägerischen Begehren; die A wendet sich gegen die an B erteilte Baugenehmigung und damit einen Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG; statthaft ist damit eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO.
II. Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO
A müsste durch die Baugenehmigung möglicherweise in eigenen Rechten verletzt sein. Da sie aber nicht Regelungsadressat der Baugenehmigung ist, kann nicht mit der Stellung als Adressat einer belastenden Regelung argumentiert werden. Daran würde auch eine eventuelle Zustellung nach Art. 68 Abs. 3 S. 4 BayBO nichts ändern, da die A hiermit nur zum Zustellungsadressaten, aber nicht zum Regelungsadressaten würde.
Erforderlich ist deshalb, dass A die mögliche Verletzung einer drittschützenden Norm durch die Baugenehmigung geltend machen kann. Da A ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB versagt hat, das Landratsamt Aichach-Friedberg aber dennoch die Baugenehmigung an B erteilt hat, ist § 36 BauGB möglicherweise verletzt. Dabei handelt es sich auch um eine Norm, die (nur) Drittschutz zugunsten der Gemeinde/Stadt entfaltet, da es sich um den Ausfluss des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts nach Art. 28 Abs. 2 GG bzw. Art. 11 Abs. 2 BV im Baugenehmigungsverfahren handelt.
III. Ordnungsgemäß und erfolglos durchgeführtes Vorverfahren
Ein Vorverfahren ist nach § 68 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 VwGO i.V.m. Art. 12 Abs. 1, 2 AGVwGO unstatthaft.
IV. Klagefrist
Nach § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO ist die Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Baugenehmigung zu erheben. Nach Art. 68 Abs. 3 S. 4 BayBO ist die Baugenehmigung der Gemeinde/Stadt zuzustellen, wenn diese dem Vorhaben nicht zugestimmt hat. Da vorliegend keine Zustellung an die Stadt A ersichtlich ist, läuft die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO ab Erteilung der Baugenehmigung an B. Diese wurde durch Klagerhebung am 27.4.2022 offensichtlich gewahrt.
V. Partei- und Prozessfähigkeit und sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen
Die A ist als Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO parteifähig; sie ist selber nicht prozessfähig und wird daher im Prozess durch den ersten Bürgermeister nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GO vertreten.
Der Freistaat Bayern ist als Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO parteifähig; er ist selber nicht prozessfähig und wird daher gemäß § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 3 Abs. 1 und 2 LABV durch das Landratsamt Aichach-Friedberg als Ausgangsbehörde vertreten.
C. Beiladung, § 65 Abs. 2 VwGO
Im gerichtlichen Verfahren ist der B als Inhaber der Baugenehmigung notwendig beizuladen, § 65 Abs. 2 VwGO.
D. Begründetheit der Klage
Die Klage der Stadt A ist begründet, wenn sie gegen den gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO richtigen Beklagten gerichtet ist, die B erteilte Baugenehmigung rechtswidrig ist und A in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
I. Passivlegitimation
Richtiger Beklagter nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist der Freistaat Bayern als Rechtsträger des Landratsamts Aichach-Friedberg, Art. 53 Abs. 1 S. 1 BayBO.
II. Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung
Die dem B erteilte Baugenehmigung müsste weiterhin rechtswidrig sein.
1. Formelle Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung
Die formelle Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung erfordert die Einhaltung der Vorschriften über Zuständigkeit, Verfahren und Form.
Sachlich zuständig war nach Art. 53 Abs. 1 S. 1, 54 Abs. 1 BayBO i.V.m. Art. 37 Abs. 1 S. 2 LKrO das Landratsamt; die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts Aichach-Friedberg ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG.
Hinsichtlich der Verfahrens- und Formvorschriften ergeben sich aus dem Sachverhalt keine Anhaltspunkte für eine Verletzung.
2. Materielle Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung
Die Baugenehmigung ist materiell rechtmäßig, wenn ein genehmigungspflichtiges und genehmigungsfähiges Vorhaben vorliegt.
a) Genehmigungspflichtiges Vorhaben
Die von B geplante Errichtung des Hotelgebäudes müsste zunächst ein genehmigungspflichtiges Vorhaben darstellen. Der Anwendungsbereich der BayBO ist nach Art. 1 Abs. 1 S 1. Art. 2 Abs. 1 S. 1 BayBO eröffnet, da es sich bei dem Hotelgebäude um ein mit dem Erdboden fest verbundenes, aus Baustoffen hergestelltes Vorhaben, also ein bauliches Vorhaben handelt. B plant die Errichtung einer baulichen Anlage i.S.d. Art. 55 Abs. 1 BayBO; eine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO ist nicht ersichtlich. Mangels eines bereits in Kraft getretenen Bebauungsplans kommt auch eine Genehmigungsfreistellung nach Art. 58 BayBO nicht in Betracht.
b) Genehmigungsfähiges Vorhaben
Weiterhin müsste das Vorhaben des B genehmigungsfähig sein.
aa) Festlegung des Prüfungsmaßstabs
Bei einer Hotelanlage für 1000 Gäste handelt es sich um eine Beherbergungsstätte mit mehr als zwölf Betten und damit um einen Sonderbau nach Art. 2 Abs. 4 Nr. 8 BayBO. Demgemäß findet das Baugenehmigungsverfahren nach Art. 60 BayBO Anwendung, bei dem keine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs stattfindet.
bb) Vereinbarkeit mit den Vorschriften der §§ 29 ff. BauGB
Nach Art. 60 S. 1 Nr. 1 BayBO prüft die Baugenehmigungsbehörde zunächst die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den §§ 29 ff. BauGB.
(1) Voraussetzungen von § 29 Abs. 1 BauGB eröffnet/kein Vorrang des Fachplanungsrechts nach § 38 BauGB
Die Voraussetzungen nach § 29 Abs. 1 BauGB sind vorliegend erfüllt. Bei dem Hotelgebäude handelt es sich um die Errichtung einer baulichen Anlage; auch die für die Bestimmung einer baulichen Anlage erforderliche bodenrechtliche Relevanz ist gegeben. Dies ergibt sich vorliegend bereits schon aufgrund der Einstufung als Sonderbau i.S.d. BayBO; ein derart umfangreiches Vorhaben ist stets geeignet, bodenrechtlich relevante Spannungen hervorzurufen.
Für eine Überörtlichkeit des Vorhabens und damit einen Vorrang des Fachplanungsrechts nach § 38 BauGB ist nichts ersichtlich.
(2) Festlegung des planungsrechtlichen Bereichs
Ein Bebauungsplan existiert für das betroffene Gebiet nach dem Sachverhalt noch nicht; ein solcher befindet sich lediglich in Aufstellung. Damit handelt es sich nicht um einen Planbereich nach § 30 Abs. 1 BauGB. Da sich das Grundstück nach dem Sachverhalt mehrere hundert Meter von der nächsten Bebauung entfernt befindet, ist auch nicht von einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil i.S.d. § 34 BauGB auszugehen. Damit verbleibt eine Lage im Außenbereich nach § 35 BauGB.
(3) Vereinbarkeit des Vorhabens mit § 35 BauGB
Demnach müsste das Vorhaben mit § 35 BauGB vereinbar sein. Dazu muss zunächst geklärt werden, ob es sich um ein privilegiertes Vorhaben nach § 35 Abs. 1 oder um ein sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB handelt. Mangels Einschlägigkeit des § 35 Abs. 1 BauGB handelt es sich um ein sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB, durch das öffentliche Belange nicht beeinträchtigt werden dürfen. Aufgrund der laut Sachverhalt gegebenen ländlichen Prägung kommt vorliegend eine Verunstaltung des Orts- und Landschaftsbildes nach § 35 Abs. 3 Nr. 5 BauGB in Betracht. Jedenfalls würde die Errichtung eines Hotelgebäudes im Außenbereich die Entstehung einer Splittersiedlung nach § 35 Abs. 3 Nr. 7 BauGB befürchten lassen.
Weiterhin könnte dem Vorhaben der ungeschriebene öffentliche Belang der hinreichend konkretisierten Planungsabsicht der Stadt A entgegenstehen. Sofern eine hinreichend konkretisierte Planung für einen bestimmten Bereich vorliegt, kann diese als ungeschriebener öffentlicher Belang solchen Vorhaben entgegengesetzt werden, welche eine Verwirklichung der konkretisierten Planung verhindern würden. Dies ist vorliegend auch der Fall, da ein Hotelgebäude für 1000 Gäste aufgrund seiner Größe und seiner Emissionen die spätere Errichtung von Grünanlagen- und Kleingartenanlagen verhindern würde.
Nach alledem beeinträchtigt das Vorhaben öffentliche Belange und ist als sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB unzulässig. An dieser Beurteilung ändert auch die Ansicht des Landratsamts nichts, wonach das Vorhaben aufgrund der damit verbundenen Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Interesse stehe. Nach der grundsätzlichen Wertung des § 35 BauGB soll der Außenbereich von Bebauung freigehalten werden und der Allgemeinheit als Erholungsort zur Verfügung stehen; soweit ein sonstiges Vorhaben i.S.d. § 35 Abs. 2 BauGB öffentliche Belange beeinträchtigt, ergibt sich nach der gesetzlichen Wertung dessen Unzulässigkeit.
(4) Zulässigkeit des Vorhabens nach § 33 BauGB
Das Vorhaben könnte letztlich nach § 33 BauGB zulässig sein. Bei § 33 BauGB handelt es sich um einen subsidiären Zulassungstatbestand, der erst geprüft werden darf, wenn das Vorhaben mit den §§ 30, 34, 35 BauGB nicht im Einklang steht. § 33 BauGB erklärt Vorhaben ausnahmsweise im Hinblick auf einen zukünftigen Bebauungsplan, der sich bereits in Aufstellung befindet, für zulässig. Vorliegend kann dem geplanten Hotelgebäude aber bereits keine so genannte materielle Planreife i.S.d. § 33 Abs. 1 Nr. 2 BauGB bescheinigt werden; eine Übereinstimmung mit den künftigen Festsetzungen ist nicht gegeben, da nach dem Sachverhalt Grün- und Kleingartenanlagen geplant sind.
(5) Verstoß des Vorhabens gegen § 36 BauGB
Letztlich verstößt das Vorhaben auch gegen die Regelung des § 36 BauGB, da die Stadt ihr städtebaulich notwendiges Einvernehmen nicht erteilt hat. Bei dem Einvernehmen der Gemeinde/Stadt handelt es sich um eine materielle Genehmigungsvoraussetzung für die Erteilung einer Baugenehmigung. Da sich das Vorhaben als bauplanungsrechtlich unzulässig darstellt, durfte das Landratsamt Aichach-Friedberg das fehlende Einvernehmen durch die Erteilung der Baugenehmigung auch nicht gemäß § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB i.V.m. Art. 67 BayBO ersetzen; eine Ersetzungsbefugnis besteht lediglich für ein zu Unrecht versagtes Einvernehmen.
3. Zwischenergebnis
Somit ist das Vorhaben bauplanungsrechtlich unzulässig.
III. Rechtsverletzung der A
Da das Bauvorhaben genehmigt wurde, obwohl die A aufgrund der bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit zu Recht ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB verweigert hatte, verletzt die Baugenehmigung das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde nach Art. 28 Abs. 2 GG bzw. Art. 11 Abs. 2 BV, dessen Ausfluss das Erfordernis des Einvernehmens darstellt.
IV. Vereinbarkeit mit Vorschriften des Bauordnungsrecht und sonstigem Recht
Für eine Prüfung der Vereinbarkeit mit den Vorschriften des Bauordnungsrechts nach Art. 60 S. 1 Nr. 2 BayBO und anderen öffentlich-rechtlichen Anforderungen nach Art. 60 S. 1 Nr. 3 BayBO enthält der Sachverhalt keine Anhaltspunkte.
Insoweit kommt es daher auch auf eine eventuelle zusätzliche Rechtsverletzung der A nicht (mehr) an.
V. Ergebnis
Die Klage der A ist auch begründet und hat demnach Aussicht auf Erfolg.