Strafrecht Allgemeiner Teil 1

Schuld - Entschuldigungsgründe

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E. Entschuldigungsgründe

256

Zum Schluss müssen Sie bei der Schuld danach fragen, ob die Strafbarkeit des Täters nicht aufgrund von Entschuldigungsgründen verneint werden muss.

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Sofern die Voraussetzungen dieser Entschuldigungsgründe vorliegen, ist der Unrechts- und Schuldgehalt soweit herabgesetzt, dass ausnahmsweise auf die Erhebung eines Schuldvorwurfs verzichtet wird. Man kann sagen, dass in diesen Fällen der Gesetzgeber „Nachsicht übt“.

Hinweis

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Da die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ein besonderer Entschuldigungsgrund für Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte ist, werden wir uns mit diesem gesetzlich nicht normierten Entschuldigungsgrund bei den Fahrlässigkeitsdelikten unter der Rn. 292 auseinandersetzen.

 

I. Die Notwehrüberschreitung (Notwehrexzess), § 33

257

Bei der Notwehrüberschreitung soll aufgrund des psychischen Ausnahmezustandes, in welchem sich der Täter befindet, ausnahmsweise kein Schuldvorwurf erhoben werden. Außerdem führt die objektiv gegebene Notwehrlage zu einer Unrechtsminderung, die eine Straffreiheit legitimiert. Die Voraussetzungen des § 33 sind folgende:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Notwehrüberschreitung, § 33

I.

Überschreitung der Grenzen der Notwehr

 

 

 

Überschreitung der Gebotenheit der Verteidigung

Rn. 260

 

 

extensiver Notwehrexzess

Rn. 261

 

 

Putativnotwehrexzess

Rn. 262

II.

Aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken

 

Zu prüfen ist also zunächst, ob der Täter die Grenzen der Notwehr überschritten hat.

Hinweis

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Dieses Überschreiten der Grenzen hat dazu geführt, dass Sie § 33 überhaupt prüfen. Hätte sich der Täter nämlich innerhalb der Grenzen der Notwehr befunden, dann wäre er gem. § 32 gerechtfertigt.

Wann die Grenzen der Notwehr überschritten sind, ist im Einzelnen umstritten. Insofern sind vier Konstellationen zu unterscheiden.

1. Intensiver Notwehrexzess – Überschreiten der Erforderlichkeit

258

Der „Normalfall“ der Notwehrüberschreitung ist gegeben, wenn eine Notwehrlage in Gestalt eines gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs tatsächlich besteht und der Angegriffene diesen Angriff intensiver als erforderlich abwehrt, somit also die Grenzen der Erforderlichkeit überschreitet (intensiver Notwehrexzess).

Voraussetzung der Entschuldigung ist dann ferner, dass diese Überschreitung ihre Ursache in Verwirrung, Furcht oder Schrecken, den sog. asthenischen Affekten („aus der Schwäche heraus“), hatte. Dabei soll es nach überwiegender Auffassung unbeachtlich sein, ob der Täter bewusst oder unbewusst die Grenzen der Notwehr überschritten hat.BGHSt 39, 133; BGH NStZ 2001, 591; Jäger Strafrecht AT Rn. 198.

Nicht erforderlich ist, dass die oben genannten Affekte ausschließlich vorhanden sind, sofern sie zumindest mitursächlich für die Notwehrüberschreitung waren. Die Anwendung des § 33 ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Überschreitung der Notwehr auf sthenischen Affekten wie Hass, Zorn und Kampfeseifer beruht.

Beispiel

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Student S ist in letzter Zeit mehrfach von Skinheads, welche ihn aufgrund seines Aussehens für einen Ausländer gehalten haben, zusammengeschlagen worden. Als ihm eines abends der 1,95 m große, kahlrasierte T gegenübertritt, um ihn ordentlich „aufzumischen“, greift S in Panik zu der angeschafften Schusswaffe und gibt ohne weitere Überlegung einen Schuss auf den Brustkorb des T ab. Infolge dieses Schusses verstirbt T noch an Ort und Stelle.

Hier lag ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des T auf S vor, der eine Notwehrlage gem. § 32 begründete. Allerdings hätte S hier zunächst den Einsatz der Schusswaffe androhen müssen. Das sofortige Zielen auf den Brustkorb stellte nicht die erforderliche Verteidigungshandlung dar. Jedoch war S aufgrund der übergroßen Angst und der vergangenen Erfahrung nicht in der Lage, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Gem. § 33 wird aufgrund dieser psychischen Ausnahmesituation in einem Fall wie diesem vom Gesetzgeber Nachsicht geübt und die Schuld verneint.

2. Intensiver Notwehrexzess – Überschreiten der Gebotenheit

259

Expertentipp

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Sofern Sie noch nicht oder nicht mehr wissen, was das ist, sollten Sie an dieser Stelle zunächst das Kapitel „Notwehrprovokation“ unter Rn. 164 lesen.

Umstritten ist, ob § 33 auch anwendbar ist, wenn der Täter zwar die erforderliche, nicht aber die gebotene Verteidigung wählt. Der Streit wird insbesondere in den Fällen der Notwehrprovokation relevant.

Einigkeit herrscht darüber, dass im Falle der Absichtsprovokation eine Berufung auf § 33 nicht möglich ist, da der absichtlich Provozierende kein Notwehrrecht hat, welches er überschreiten könnte.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 702; Jäger Strafrecht AT Rn. 199.

258

Bei der unbeabsichtigten Provokation verbleibt dem Täter hingegen nach dem unter Rn. 173 dargestellten Stufenmodell die Möglichkeit der Notwehr. Wählt er aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken nun Trutzwehr, obgleich er zunächst Schutzwehr hätte üben müssen, so ist ihm die Berufung auf § 33 nach Auffassung des BGH dann verwehrt, wenn er besonders vorwerfbar provoziert hat.

BGHSt 39, 133. In der Literatur wird eine solche Einschränkung nicht vorgenommen. Demnach ist § 33 anwendbar, unabhängig davon, ob der Täter besonders oder kaum vorwerfbar provoziert hat.Jäger Strafrecht AT Rn. 199; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 668.

Beispiel

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In dem vom BGH entschiedenen Fall des Bordellbetreibers B, der einen bevorstehenden Angriff einer Rockerbande eigenmächtig, ohne mögliche Hinzuziehung der Polizei mittels eines Gewehrs abwehren wollte und dabei den ihn überraschend angreifenden X tödlich verletzte, hat der BGH die Anwendbarkeit des § 33 verneint, da B die Situation besonders vorwerfbar herbeigeführt habe.

BGHSt 39, 133. Nach Auffassung der Literatur wäre dies kein Grund, § 33 zu verneinen, sofern B aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken heraus gehandelt hat.

 

3. Extensiver Notwehrexzess

261

Umstritten ist, ob gem. § 33 auch der extensive Notwehrexzess entschuldigt ist. Von einem solchen Notwehrexzess ist dann auszugehen, wenn der Angriff, gegen den sich der Täter zur Wehr setzt, noch nicht oder nicht mehr gegenwärtig ist.

Hinweis

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Der Täter verkennt also die zeitlichen Grenzen der Notwehrlage, wohingegen er beim intensiven Notwehrexzess die Grenzen der Notwehrhandlung verkennt.

Nach h.M. ist in diesen Fällen § 33 nicht anwendbar. Begründet wird dies damit, dass die psychische Situation bei bestehender Notwehrlage eine andere sei und dass der Täter schon dem Wortlaut nach nur etwas überschreiten könne, was auch tatsächlich existiere. Zudem liege in diesen Fällen keine Unrechtsminderung vor, so dass die Legitimation des Notwehrexzesses nicht gegeben sei.Fischer § 33 Rn. 5; BGH NStZ 2003, 596; Jäger Strafrecht AT Rn. 196.

Nach der Gegenansicht soll auch ein extensiver Notwehrexzess unter § 33 fallen, da die psychische Ausnahmesituation sehr wohl vergleichbar sei. Wie beim intensiven Notwehrexzess auch stehe der Täter unter dem Eindruck einer Notwehrlage.Schönke/Schröder-Perron/Eisele § 33 Rn. 7. Teilweise wird jedoch innerhalb der Literatur differenziert zwischen einem vorzeitigen und einem nachzeitigen Notwehrexzess. Hat der Angriff noch nicht begonnen, so greift dieser Ansicht zu Folge § 33 nicht ein, weil Notwehr noch nicht vorliegt. Fand ein Angriff hingegen statt und hat der Täter lediglich nicht erkannt, dass er schon abgeschlossen ist, wird § 33 angewendet.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 703.

Beispiel

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Detektiv D hat dem von ihm gestellten, renitenten Dieb X, welcher auf dem Boden liegt, von hinten einen Arm um den Hals gelegt (Würgegriff). Irgendwann wird X aufgrund der verminderten Luftzufuhr bewusstlos und stellt die Schläge und Tritte, die er zuvor gegenüber D verübt hat, ein. D erkennt dies nicht, weil er sich in Panik befindet, lässt infolgedessen nicht von X ab und würgt weiter mit der Folge, dass später der Tod des X eintritt.

Nach herrschender Meinung ist hier kein Raum für § 33, da § 33 tatsächlich eine Notwehrlage voraussetzt, diese jedoch ab dem Zeitpunkt der Bewusstlosigkeit nicht mehr vorlag. Nach der Gegenansicht handelt es sich hier um einen nachzeitigen extensiven Notwehrexzess, der zu einer Entschuldigung gem. § 33 führt, da D in Panik gehandelt und aufgrund dessen nicht von X abgelassen hat.

4. Putativnotwehrexzess

262

Eine Besonderheit stellt der sog. Putativnotwehrexzess dar. Dieser liegt vor, wenn zum einen die Voraussetzungen der Notwehrlage nicht gegeben sind, der Täter diese jedoch irrig annimmt und darüber hinaus eine Verteidigungshandlung wählt, die nicht erforderlich oder geboten ist.

Hinweis

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Der Täter befindet sich in dieser Konstellation nicht in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, da dieser voraussetzt, dass der Täter gerechtfertigt gewesen wäre, wenn das, was er sich irrig vorgestellt hat, zutreffend gewesen wäre. Aufgrund der Überschreitung der Notwehr wäre er jedoch nicht gerechtfertigt gewesen!

Nach überwiegender Auffassung ist hier § 33 nicht anwendbar, da § 33 eine Notwehrlage, zumindest eine ehemals bestehende Notwehrlage, voraussetzt, diese aber gerade beim Putativnotwehrexzess nicht vorliegt. BGH NStZ-RR 2002, 203; Jeschek/Weigend Strafrecht AT § 45 II 4. Differenzierend Schönke/Schröder-Perron/Eisele § 33 Rn. 8, wonach § 33 analog angewendet werden soll, wenn das Fehlen der Notwehrlage trotz objektiv pflichtgemäßer Prüfung für den Täter nicht erkennbar war.

Beispiel

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Student S wird im obigen Fall (Rn. 258) dieses Mal gar nicht von T angegriffen. T wollte S lediglich nach dem Weg fragen. Aufgrund seines Aussehens und seiner Körperhaltung hat S jedoch irrig angenommen, er werde angegriffen und hat in seiner Panik sofort den tödlichen Schuss abgegeben.

S befindet sich hier in einem Irrtum, hat aber zusätzlich mehr getan, als nach dem Gesetz erlaubt ist, mit der Folge, dass sein Handeln auch bei tatsächlichem Vorliegen des Vorgestellten nicht gerechtfertigt gewesen wäre. § 33 ist nach überwiegender Auffassung ebenfalls nicht anwendbar.

II. Der entschuldigende Notstand

1. Überblick

263

Der entschuldigende Notstand gem. § 35 unterscheidet sich vom rechtfertigenden Notstand gem. § 34 sowohl in seinen Voraussetzungen als auch in seiner Wirkung.

264

So besteht bei § 35 die entschuldigende Notstandslage in einer gegenwärtigen Gefahr für lediglich Leben, Leib und Freiheit des Täters selbst, eines Angehörigen oder einer anderem ihm nahe stehenden Person, wohingegen bei § 34 Notwehr zu Gunsten eines jeden beliebigen Dritten geübt werden darf, sofern beliebige Individual- oder Universalrechtsgüter betroffen sind. Die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands sind insoweit enger als jene des rechtfertigenden Notstands. Auf der anderen Seite ist bei § 35 kein wesentliches Überwiegen des gefährdeten Rechtsguts erforderlich.

 

§ 34
Rechtfertigender Notstand

§ 35
Entschuldigender Notstand

Notstandslage

Gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut des Individiums oder der Allgemeinheit

Betroffener: Täter oder ein beliebiger Dritter

Gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit

Betroffener: Täter, Angehöriger oder vergleichbar nahe stehende Person

Notstandshandlung

Erforderliche, verhältnismäßige und angemessene Verteidigung

Erforderliche und verhältnismäßige Rettung

Keine Zumutbarkeit der Hinnahme der Gefahr

Subjektiv

Verteidigungswille

Rettungswille

Darüber hinaus liegt bei der Wirkung der wesentliche Unterschied darin, dass die nach § 35 entschuldigte Tat rechtswidrig bleibt mit der Folge, dass gegen den Täter Notwehr verübt werden kann. Auch ist eine Teilnahme möglich, da die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat erhalten bleibt.

265

Der entschuldigende Notstand wird wie folgt geprüft:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Entschuldigender Notstand, § 35

I.

Objektive Voraussetzungen

 

 

1.

Notstandslage

 

 

 

a)

Gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit

 

 

 

b)

für den Täter selbst, einen Angehörigen oder eine andere nahe stehende Person

 

 

2.

Notstandshandlung

 

 

 

a)

Erforderlichkeit, d.h. Geeignetheit und relativ mildestes Mittel

 

 

 

b)

kein krasses Missverhältnis zwischen dem erhaltenen und dem beeinträchtigten Rechtsgut

 

 

3.

Keine Zumutbarkeit i.S.d. § 35 Abs. 1 S. 2

 

 

 

 

Nothilfe zu Gunsten Dritter

Rn. 271

II.

Subjektive Voraussetzung: Rettungswille

 

2. Voraussetzungen

266

Die Notstandslage setzt eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraus. Die gegenwärtige Gefahr wird definiert wie bei § 34 auch.

Definition

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Definition: gegenwärtige Gefahr

Eine gegenwärtige Gefahr ist eine Rechtsgutsbedrohung, die bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen kann.BGHSt 5, 371; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 686.

Die Gefahr kann von Naturereignissen, Sachen oder Menschen ausgehen. Sie muss aber für die Rechtsgüter Leib, Leben und Freiheit bestehen, wobei unter Freiheit ausschließlich die Fortbewegungsfreiheit zu verstehen ist.Schönke/Schröder-Perron § 35 Rn. 4 ff.

Beispiel

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Die Bergsteiger X, Y und Z begeben sich bei schlechten Witterungsbedingungen ins Gebirge. Aufgrund eines aufkommenden Sturms bricht ein Karabinerhaken aus, so dass die Seilschaft an X hängt. X ist sich bewusst, dass aufgrund des Gewichtes von Y und Z diese Leine reißen wird und schneidet, um sein eigenes Leben zu retten, die Leine durch, mit der Folge, dass Y und Z in die Tiefe stürzen und versterben.

Hier war die Tat nicht gem. § 34 gerechtfertigt, da insofern ein wesentliches Überwiegen erforderlich ist, dieses Überwiegen jedoch nicht vorlag. Es kommt jedoch eine Entschuldigung nach § 35 in Betracht. Eine gegenwärtige Gefahr für das Leben des X ist anzunehmen. Diese Gefahr war auch nicht anders abwendbar als durch das Durchtrennen des Seiles. Da X die Hinnahme der Gefahr auch nicht zuzumuten war, war das Verhalten des X entschuldigt.

267

Die Gefahr muss entweder den Rechtsgütern des Täters selbst, jenen eines Angehörigen gem. § 11 Abs. 1 Nr. 1 oder einer anderen, dem Täter nahestehenden Person drohen. Wie sich aus der Gleichstellung mit Angehörigen ergibt, setzt der Begriff der „nahestehenden Person“ das Bestehen eines auf Dauer angelegten zwischenmenschlichen Verhältnisses voraus, das grundsätzlich geeignet ist, ähnliche Solidaritätsgefühle wie unter Angehörigen hervorzurufen und deswegen im Fall der Not auch zu vergleichbaren psychischen Zwängen führt.Schönke/Schröder-Perron § 35 Rn. 15.

268

Die Notstandshandlung besteht wie bei § 34 auch in der erforderlichen Abwehr der Gefahr („nicht anders abwendbar“). Das bedeutet, dass die Handlung geeignet sein muss, die Gefahr zu beseitigen und darüber hinaus von mehreren gleichwirksamen das relativ mildeste Mittel darstellen muss.

269

Darüber hinaus ist die Verhältnismäßigkeit zu beachten: Der angerichtete Schaden darf nicht in einem krassen Missverhältnis zur Schwere der Gefahr stehen. Wichtig ist, dass die Notstandshandlung als „ultima ratio“ den einzigen und letzten Ausweg aus der Notstandslage bildet.BGH NStZ 1992, 478; Schönke/Schröder-Perron § 35 Rn. 13a.

Beispiel

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Würde im obigen Bergsteigerfall (Rn. 266) keine Gefahr für das Leben des X bestehen, weil die Sicherheitsleine problemlos in der Lage ist, Y und Z bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zu halten, wäre X jedoch in seiner Fortbewegungsfreiheit aufgrund der Sicherungsleine eingeschränkt wäre, so wäre ein Durchtrennen der Leine, um die Gefahr für die Fortbewegungsfreiheit abzuwenden, unzulässig, da die Gefahr für das Leben von Y und Z in einem krassen Missverhältnis zur Gefahr für die Fortbewegungsfreiheit des X stünde. Die Handlung des X wäre unverhältnismäßig, da es ihm zuzumuten wäre, diese Gefahr hinzunehmen.

270

Weitere Voraussetzung des § 35 ist, dass gem. Satz 2 dem Täter nach den Umständen die Hinnahme der Gefahr nicht zugemutet werden dürfte.

Dies gilt zum einen dann, wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat. Bei der Verursachung der Gefahr reicht allerdings die rein kausale Herbeiführung nach h.M. nicht aus. Erforderlich ist vielmehr ein objektiv pflichtwidriges Vorverhalten.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 693; Jäger Strafrecht AT Rn. 194. Teilweise wird darüber hinaus sogar noch ein schuldhaftes Vorverhalten verlangt.Schönke/Schröder-Perron § 35 Rn. 20.

Beispiel

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DDR-Bürger A möchte 1987 in den Westen fliehen. Nachdem er es schon beinahe geschafft hat, gerät er in eine überraschende Grenzkontrolle. Um sich der drohenden Freiheitsentziehung durch Verhaftung zu entziehen, erschießt A den Grenzbeamten.

Hier hat der BGHBGH JR 2001, 467. eine Entschuldigung gem. § 35 verneint. Zwar habe die Gefahr für die Freiheit des A bestanden. Aufgrund des seinerzeit gesetzeswidrigen Fluchtvorganges habe A diese Gefahr jedoch selbst verursacht mit der Folge, dass eine besondere Gefahrtragungspflicht i.S.d. § 35 Abs. 1 S. 2 bestanden habe, die eine Entschuldigung ausschließe.    

271

Beachten Sie, dass nach dem Gesetz eine besondere Gefahrtragungspflicht nur dann besteht, wenn der Täter selbst die Gefahr geschaffen hat. Problematisch kann dies in der Fällen der Nothilfe zu Gunsten eines Dritten werden.

Beispiel

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Hobbypilot H soll den Geschäftsmann G nach Zürich fliegen. Obwohl sein Flugzeug derzeit nicht voll verkehrstauglich ist, nimmt er den Auftrag an, wobei er davon ausgeht, dass alles gut gehen werde. Mit im Flugzeug sitzt sein 12-jähriger Sohn S, der in Zürich einen Freund besuchen möchte. Über dem Bodensee kommt es zu einem Absturz des Flugzeugs, den alle drei Insassen überleben. Das Flugzeug versinkt binnen kurzer Zeit, lediglich G hat es geschafft, sich an einem abgerissenen Stück der Tragfläche festzuhalten. Als H feststellt, dass sein schwer verletzter Sohn zu ertrinken droht, schlägt er G von der Tragfläche, die nur eine Person trägt, und lässt S sich daran festhalten. G ertrinkt daraufhin, wohingegen H und S gerettet werden können.

Hier hat H zu Gunsten des S die Rettungshandlung begangen. Allerdings hat er die Gefahr selbst pflichtwidrig und schuldhaft herbeigeführt, so dass fraglich, ist, ob ihm die Hinnahme der Gefahr nicht zugemutet werden muss. Dies wäre sicherlich der Fall, wenn er G von der Tragfläche geschlagen hätte, um sich selbst zu retten. Vorliegend wird sich H jedoch in besonderer Weise seinem Sohn verpflichtet gefühlt haben, so dass nach weit verbreiteter Auffassung entgegen dem Wortlaut eine Entschuldigung für H möglich sein soll.Jäger Strafrecht AT Rn. 194 m.w.N.

Die Hinnahme der Gefahr ist dem Täter zum anderen zumutbar, wenn er in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, sofern dieses mit erhöhten Gefahrtragungspflichten einhergeht, wie das beispielsweise bei Soldaten, Polizeibeamten oder Feuerwehrmännern der Fall ist. Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht kann sich auch aus einer Garantenstellung ergeben.

272

In subjektiver Hinsicht erfordert § 35, dass der Täter in Kenntnis der Gefahrenlage und zum Zwecke der Gefahrenabwehr (Rettungswille) tätig wird. Die Rechtsprechung verlangt darüber hinaus, dass der Täter eine pflichtgemäße Prüfung etwaiger Abwendungsmöglichkeiten vornimmt, wobei die Anforderungen je nach Situation differieren. Sofern sofortiges Handeln zur wirksamen Vermeidung der Rechtseinbußen unumgänglich ist und der Täter keine Zeit hat, ruhig zu überlegen, kann vom Täter nicht verlangt werden, dass er zunächst nach Ausweichmöglichkeiten sucht.BGH NStZ 1992, 478 ff.

3. Irrtümer

273

Nimmt der Täter irrig Umstände an, die ihn entschuldigen würden, so müssen Sie § 35 Abs. 2 beachten, der eine vorrangige Regelung für diese Fälle trifft. Konnte der Täter diesen Irrtum nicht vermeiden, so handelt er ohne Schuld (Umkehrschluss aus § 35 Abs. 2 S. 1).

III. Übergesetzlicher entschuldigender Notstand

274

Für außergewöhnliche Konfliktsituationen, die gekennzeichnet sind durch eine nahezu unlösbare Pflichtenkollision, wurde von der Rechtsprechung ein übergesetzlicher Entschuldigungsgrund geschaffen.

Beispiel

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In der NS-Zeit standen Ärzte einer Heilanstalt vor der Alternative, sich entweder durch Auswahl einzelner Kranker in begrenztem Umfang an der Euthanasieaktion zu beteiligen oder aber den Platz besonders skrupellosen Kollegen zu überlassen, die dann sämtliche Anstaltsinsassen der Aktion zugeführt hätten.BGH NJW 1953, 513.

Nach h.M. kann bei einer derartigen Situation kein Schuldvorwurf erhoben werden. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Täter in einer nahezu unlösbaren Pflichtenkollision befindet, welche einen schweren, nicht lösbaren Gewissenskonflikt hervorruft. Der Konflikt ist in der Regel nur dann schwer, wenn die Tat dem Schutz von Leben dient. Rechtlich nicht lösbar ist der Konflikt, wenn weder mit den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes, noch des entschuldigenden Notstandes geholfen werden kann, der Täter aber gleichwohl die Nachsicht des Rechts verdient.

275

In Rechtsprechung und Literatur ist der übergesetzlich entschuldigende Notstand grundsätzlich anerkannt.Jäger Strafrecht AT Rn. 294 ff.; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 713; OLG Hamm NJW 1976, 721 ff. Der übergesetzlich entschuldigende Notstand liegt unter folgenden Voraussetzungen vor:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Übergesetzlicher entschuldigender Notstand

I.

Objektive Voraussetzungen

 

1.

Gegenwärtige Lebensgefahr

 

2.

Notstandshandlung darf

 

 

a)

weder nach § 34 gerechtfertigt noch nach § 35 entschuldigt sein

 

 

b)

der vom Täter angerichtete Schaden muss bei ethischer Gesamtbewertung im Verhältnis zu dem durch die Tat verhinderten Schaden das geringere Übel sein

 

 

c)

Analoge Anwendung des § 35 Abs. 1 S. 2: Fehlende Zumutbarkeit

II.

Subjektive Voraussetzungen

 

 

Gewissenhafte Prüfung der Gefahrenlage und Gefahrabwendungswille

276

Problematisch ist der Prüfungspunkt, wonach der vom Täter angerichtete Schaden bei ethischer Gesamtbewertung im Verhältnis zu dem durch die Tat verhinderten Schaden das geringere Übel gewesen sein muss. Hier geht es um ein zahlenmäßiges Überwiegen, welches bei § 34 keine Berücksichtigung findet. Umstritten ist, ob die getöteten Personen sich in einer Gefahrengemeinschaft mit den Überlebenden befunden haben müssen. Einer Auffassung zufolge scheidet der übergesetzliche entschuldigende Notstand aus, wenn völlig Unbeteiligte geopfert werden.Jäger Strafrecht AT Rn. 207 f.; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 713. Nach anderer Auffassung soll aufgrund der ausweglosen Lage in Extremfällen auch dann eine Entschuldigung möglich sein.Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor §§ 32 Rn. 117a.


Beispiel

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Gleisarbeiter G sieht, wie ein führerloser Zug auf zehn spielende Kinder zufährt und lenkt diesen Zug in letzter Minute auf ein anderes Gleis um, auf welchem sich zwei Bahnarbeiter befinden, die vom Zug überrollt werden.Fall nach Welzel ZStW 1963 (1951), 51. Da sich die getöteten Bahnarbeiter nicht in einer Gefahrengemeinschaft mit den Kindern befanden, wäre nach einer Auffassung eine Entschuldigung zu verneinen. Die Gegenauffassung sieht in einer solchen Fallkonstellation einen Extremfall und bejaht die Entschuldigung. Im obigen „Ärzte“-Beispiel (Rn. 274) hingegen würden beide Auffassungen zur Straffreiheit gelangen, da die geopferten und die überlebenden Patienten „in demselben Boot“ saßen.

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