Staatsorganisationsrecht

Die Staatsziele

G. Staatszielbestimmungen

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Das Grundgesetz enthält an verschiedenen Stellen sogenannte Staatszielbestimmungen, die von den Staatsstrukturprinzipien abzugrenzen sind. Hierzu gehören vor allem der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere nach Art. 20a GG, die Verwirklichung eines vereinten Europas nach Art. 23 Abs. 1 GG sowie die Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit und zur Völkerverständigung (vgl. Präambel, Art. 9 Abs. 2 und 24 Abs. 2 GG).

Staatszielbestimmungen bilden nicht das Fundament der Verfassung und sind mit verfassungsändernder Mehrheit abänderbar. Auch sind sie keine Grundrechte, die als Recht vom Bürger unmittelbar einklagbar sind; vielmehr stehen sie unter dem Vorbehalt des Möglichen.Vgl. Degenhart Staatsrecht I Rn. 593. Ungeachtet dessen

Definition

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Definition: Staatzielbestimmungen

sind Staatszielbestimmungen Werte von Verfassungsrang, die bei auslegungs- und abwägungsrelevanten Entscheidungen von Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung mit zu berücksichtigen sind.BVerfGE 118, 79; BVerwGE 87, 237.

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Eine Legaldefinition des Begriffes Staatsziel enthält Artikel 13 der Verfassung des Freistaates Sachsen:

Das Land hat die Pflicht, nach seinen Kräften die in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten.

Dabei macht die Formulierung „nach seinen Kräften“ deutlich, dass die Verbindlichkeit des Staatsziels schwächer ist als die des Staatsstrukturprinzips. Zudem sind die Staatsziele nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst. Allerdings stellen sie rechtlich bindende Direktiven für alle öffentlichen Gewalten und Ebenen dar und bilden mithin einen verfassungsrechtlichen Wert, der im Rahmen einer Abwägung rechtliche Geltung beanspruchen kann.

I. Umwelt-, Klima- und Tierschutz

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Als objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung vermittelt Art. 20a GG keinen Anspruch des Einzelnen auf Verhütung von Umweltschädigungen oder auf tierschützende Maßnahmen. Die Vorschrift verpflichtet den Staat aber dazu, die Belange der Umwelt zu schützen und Beeinträchtigungen zu vermeiden. Ansprüche können sich aber aus Grundrechten ergeben, die durch die Missachtung der Staatszielbestimmungen gefährdet sind.

Beispiel

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Art. 20a Var. 1 GG verpflichtet den Staat zur Herstellung von Klimaneutralität und Generationengerechtigkeit. Hierbei sind Freiheitsgrundrechte der Bürger betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden sind. Es ist nach der Rechtsprechung des BVerfG mit dem Freiheitsgrundrechten nicht vereinbar, wenn der aktuelle Gesetzgeber hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschiebt und damit die künftige Generation nach 2030 mit drastischen Einschränkungen bedroht. Zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit müssen vielmehr rechtzeitig gesetzliche Vorkehrungen getroffen werden, um diese hohen Lasten abzumildern.BVerfG Beschluss vom 24.3.2021 - 1 BvR 288/20 -, juris.

Das Staatsziel Tierschutz (Art. 20a Alt. 2 GG) wird häufig relevant, wenn im Zusammenhang mit Tierversuchen die Freiheit der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) bzw. die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) eingeschränkt werden soll. Auch kann dieses Staatsziel zu einer Einschränkung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG) führen mit dem Ergebnis, dass die widerstreitenden Verfassungsgüter in einer Einzelfallabwägung zum einem angemessenen Ausgleich geführt werden müssen.

Ein Hirnforscher der Universität U führt Experimente mit Affen durch, die für diese mit erheblichen Schmerzen verbunden sind. Er beantragt bei der zuständigen Behörde eine Genehmigung nach dem Tierschutzgesetz zur Durchführung weiterer solcher Versuche und beruft sich hierbei auf sein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Die Behörde wird bei ihrer Entscheidung und bei der Auslegung des Tierschutzgesetzes im konkreten Fall die beiden verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Wissenschaftsfreiheit (Grundrecht) und des Tierschutzes (Staatszielbestimmung) miteinander abzuwägen haben.BVerwG JuS 2014, 953.

Nach § 4a TierschutzG ist das betäubungslose Schlachten warmblütiger Tiere grundsätzlich verboten und kann nur dann ausnahmsweise erlaubt werden, wenn zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft dies vorschreiben. Das Staatsziel Tierschutz (Art. 20a Var. 2 GG) kann bewirken, dass die Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden darf, wenn sich solch zwingende Vorgaben der Religion nicht objektiv feststellen lassen.

Gegenstand der Staatszielbestimmung des Schutzes der natürlichen Grundlagen (Art. 20a Var. 1 GG) ist die gesamte natürliche Umwelt des Menschen wie Luft, Wasser, Boden, Grundwasser, Landschaftsbild inklusive der klimatischen Bedingungen und darin lebenden Organismen (Pflanzen etc.). Art. 20a GG ist eine justiziable Rechtsnorm, die zwar keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen hat, aber im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen ist.

Beispiel

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Künstler K möchte im Garten seines im Außenbereich gelegenen Wochenendhauses Monumentalfiguren in Höhe von 7 m auf einen ca. 7 m hohen Sockel aufstellen. Die zuständige Bauaufsichtsbehörde verweigert ihm hierfür wegen des bauplanungsrechtlichen Verunstaltungsgebotes (§ 35 Abs. 3 BauGB) die Baugenehmigung. Das Bundesverwaltungsgericht gab der Bauaufsichtsbehörde recht, da sich K zwar auf sein Grundrecht der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) berufen könne, allerdings die Vorschrift des § 35 Abs. 3 BauGB einen Wert von Verfassungsrang, nämlich die Staatszielbestimmung „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20a GG) konkretisiere. In der Abwägung dieser verfassungsrechtlichen Positionen habe die Staatszielbestimmung im konkreten Fall Vorrang.BVerwG NJW 1995, 2648.

Art. 20a GG verfolgt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch den Schutz künftiger Generationen.BVerfG Beschluss vom 24.3.2021 - 1 BvR 288/20 -, juris. Der Grundsatz der Generationengerechtigkeit schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten. Eine besondere Ausprägung der Staatszielbestimmung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ist der Klimaschutz. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zur Herstellung von Klimaneutralität. In der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern (z.B. Eigentum, Berufsfreiheit etc.) nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots bei fortschreitendem Klimawandel deutlich zu.BVerfG Beschluss vom 24.3.2021 - 1 BvR 288/20 -, juris.

Beispiel

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In Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrages hat der Gesetzgeber das Klimaschutzziel im Klimaschutzgesetz aktuell verfassungsrechtlich zulässig dahingehend bestimmt, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2°C und möglichst auf 1,5°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist. Der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, die Fortschreibung der Minderungsziele für Zeiträume auch langfristig gesetzlich zu regeln.BVerfG Beschluss vom 24.3.2021 - 1 BvR 288/20 -, juris.

II. Friedenspflicht, Vereintes Europa, Völkerverständigung

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Als direkte Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus enthält das Grundgesetz in seiner Präambel in Satz 1 das Bekenntnis des deutschen Volkes, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Expertentipp

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Bitte denken Sie daran, dass das BVerfG das GG als Gegenentwurf zum totalitären NS-Staat ansieht, s. Rn. 6 und 7.

Im engen Zusammenhang mit der Friedenspflicht steht die allgemeine Verpflichtung des Staates zur internationalen Zusammenarbeit und zur Völkerverständigung. Abgeleitet wird sie aus Art. 9 Abs. 2 GG („Vereinigungen, . . . die sich . . . gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten“) i.V.m. Art. 24 Abs. 2 GG, der die Wahrung des Friedens im Bereich der Beziehungen des Bundes betrifft, und den Wertungen der Präambel.BVerwGE 87, 237.

Die beiden Staatsziele der Friedenspflicht und des Gebotes der internationalen Zusammenarbeit zur Völkerverständigung beziehen sich in Abgrenzung zum gesonderten Staatsziel eines vereinten Europas (Art. 23 GG) nicht nur auf Verbindungen in Europa, sondern auf die ganze Welt. Wie bei allen Staatszielen ist hieran nicht nur die unmittelbare Staatsverwaltung (Bund und Länder) gebunden, sondern aufgrund der Einheit der Verfassung alle öffentlich-rechtlichen Träger, insbesondere auch die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften.

Beispiel

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Die Beteiligung einer Gemeinde an einer internationalen Städtepartnerschaft entspricht der Staatszielbestimmung zur internationalen Zusammenarbeit und zur Völkerverständigung. Sie kann daher von der Kommunalaufsichtsbehörde nicht unterbunden werden.BVerwGE 87, 237.

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