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Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern - Die polizeiliche Sekundärmaßnahme (Vollstreckung durch die Polizei)

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Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern

Die polizeiliche Sekundärmaßnahme (Vollstreckung durch die Polizei)

Inhaltsverzeichnis

D. Die polizeiliche Sekundärmaßnahme (Vollstreckung durch die Polizei)

I. Begriff und Arten der Vollstreckung

191

Sofern der Bürger den angeordneten Maßnahmen der Polizei nicht nachkommt, stellt sich die Frage ihrer zwangsweisen Durchsetzung als sogenannte Ebene polizeilicher Sekundärmaßnahmen.

Ausgehend von Art. 70 PAG kann man im Polizeirecht zwei Arten der Vollstreckung unterscheiden. Die sogenannte zweistufige Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 1 PAG zeichnet sich dadurch aus, dass der Zwangsanwendung zunächst eine polizeiliche Primärmaßnahme vorausgegangen ist. Dagegen erfasst die sogenannte einstufige Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 2 PAG den Fall, dass eine Zwangsanwendung ohne den vorherigen Erlass einer Primärmaßnahme erfolgt.

 

II. Systematischer Überblick über die Art. 70–86 PAG

192

Die Regelungen finden sich mit Ausnahme des Sonderfalls der Vollstreckungshilfe (vgl. dazu oben Rn. 74) in den Art. 70 ff. PAG, die für polizeiliche Maßnahmen spezielle Regelungen darstellen (vgl. Art. 18 Abs. 2 VwZVG). Die Art. 70–76 PAG regeln dabei die Vollstreckung zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen. Die drei zulässigen Zwangsmittel, welche der Polizei zur Wahl stehen, sind in Art. 71 Abs. 1 PAG geregelt: Möglich sind Ersatzvornahme – welche in Art. 72 PAG definiert wird – sowie die Verhängung eines Zwangsgeldes gemäß Art. 73 PAG und die Anwendung unmittelbaren Zwangs nach Art. 75 PAG.

Sofern die Polizei dabei die Anwendung unmittelbaren Zwangs als Vollstreckungsmittel wählt, werden aufgrund der damit verbundenen besonderen Intensität des Grundrechtseingriffs in den Art. 77 ff. PAG zusätzlich spezielle Regelungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs aufgestellt.

Expertentipp

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Da das Zwangsgeld nach Art. 73 Abs. 1, 2 PAG mit einer angemessenen Frist zur Zahlung festgesetzt wird und damit mit einem erheblichen Zeitverlust einhergeht, entfaltet es in den polizeirechtlichen Klausuren wenig Bedeutung.
Ganz anders ist dies dagegen in den sicherheitsrechtlichen Klausuren, bei denen das Zwangsgeld das häufigste Vollstreckungsmittel ist.

III. Rechtsnatur der polizeilichen Vollstreckungsmaßnahmen (oder Sekundärmaßnahmen)

193

Wie auch im allgemeinen Vollstreckungsrecht geht das Gesetz im Polizeirecht im Regelfall von einer der Anwendung des Zwangs vorgeschalteten Androhung aus (Art. 71 Abs. 2 PAG). Diese Androhung stellt einen Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG dar.Berner/Köhler/Käß Art. 59 Rn. 5; Berner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 8.

Anders als im allgemeinen Vollstreckungsrecht geht die h.M. im Polizeirecht aber auch bei der Anwendung selbst von einem Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG aus.Vgl. Schenke Rn. 546. Während dies beim Zwangsgeld aufgrund der schriftlichen Festsetzung von Höhe und Zahlungsfrist nach Art. 73 Abs. 1 PAG relativ eindeutigBerner/Köhler/Käß Art. 56 Rn. 3. ist, bedarf es bei der Ersatzvornahme und des unmittelbaren Zwangs, die als unmittelbarer Zugriff erfolgen, eines größeren Begründungsaufwands. Das BVerwG und ihm folgend die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur gehen davon aus, dass jeder Zwangsanwendung der Polizei eine konkludente Duldungsanordnung innewohne, die gleichzeitig mit der Anwendung einhergehe, den Betroffenen zur Duldung der Zwangsmaßnahme verpflichte und deshalb als Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG anzusehen sei.Berner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 8. Nach anderer Ansicht stellen Ersatzvornahme (Art. 72 PAG) und unmittelbarer Zwang (Art. 75 PAG) mangels Pflichtenbegründung gegenüber dem Adressaten Handlungen ohne Regelungswirkung dar und sind daher als Realakte zu qualifizieren.[5]Becker/Heckmann/Kempen/Manssen 3. Teil Rn. 2016; Wollenschläger in: Huber/Wollenschläger § 4 Rn. 270. Letztlich sind bezüglich der Rechtsnatur von Ersatzvornahme und der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Klausuren beide Ansichten gut vertretbar.   

194

Die Zwangsmittel verfolgen dabei zum einen das Ziel, einen entgegenstehenden Willen des Betroffenen zu brechen (Beugefunktion) und zum anderen den rechtstreuen Zustand durch zwangsweise Vornahme des geforderten Handelns herzustellen (Realisierungsfunktion).

IV. Die zweistufige Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 1 PAG

1. Prüfung der Rechtmäßigkeit der zweistufigen Vollstreckung in der Klausur

195

Die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung unterliegt den folgenden Voraussetzungen. Auf der Ebene der materiellen Rechtmäßigkeit hat es sich bei der Vollstreckung eingebürgert, zwischen allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (Grundvoraussetzungen für jede Art der Vollstreckung) und besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen (spezielle Anforderungen für die einzelnen Zwangsmittel) zu unterscheiden.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Prüfung der Rechtmäßigkeit der „zweistufigen“ Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 1 PAG

I.

Formelle Rechtmäßigkeit

 

 

1.

Sachliche Zuständigkeit der Polizei nach Art. 70 Abs. 1 PAG i.S.d. Art. 1 PAG

 

 

2.

Örtliche Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 POG

 

 

3.

Verfahren/Form: Anhörung nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG: nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG entbehrlich

 

II.

Materielle Rechtmäßigkeit

 

 

1.

Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen (Art. 70 Abs. 1 PAG)

 

 

 

a)

Verwaltungsakt der Polizei (= Primärmaßnahme)

 

 

 

b)

auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassen gerichtet

 

 

 

c)

Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts

 

 

 

d)

Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts

 

 

 

 

 

Grundsatz der Konnexität

Rn. 200

 

 

e)

Nichterfüllung der Verpflichtung

 

 

 

f)

Fortdauer der Gefahrenlage

 

 

 

g)

Verhältnismäßigkeit (Zwang als solcher)

 

 

 

h)

Ordnungsgemäße Ermessensausübung (Zwang als solcher)

 

  

i)

kein Vollstreckungshindernis; Erforderlichkeit einer Duldungsverfügung bei Eingriffen in Rechte Dritter

 

 

2.

Besondere Vollstreckungsvoraussetzungen (Art. 71  ff. PAG)

 

 

 

a)

Androhung eines bestimmten Zwangsmittels (Art. 71 Abs. 2 PAG)

 

 

 

b)

Besondere Voraussetzungen des angedrohten Zwangsmittels

 

 

 

c)

Verhältnismäßigkeit bezüglich Auswahl und Anwendung des konkreten Zwangsmittels

 

 

 

d)

Ordnungsgemäße Ermessensausübung bezüglich Auswahl und Anwendung des konkreten Zwangsmittels

 

Expertentipp

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Bei diesem dargestellten Aufbauschema werden alle denkbaren Prüfungspunkte aufgeführt. In der Klausur sollten Sie aber wirklich nur zu den Punkten ausführlich werden, die im Einzelfall auch problematisch sind. Sofern z.B. keine Probleme im Hinblick auf die Nichterfüllung der Verpflichtung und die Fortdauer der Gefahrenlage bestehen, reicht hierzu eine kurze Feststellung bzw. je nach Klausurtyp (Urteil!) können Ausführungen auch ganz entbehrlich sein. Die Erfahrung der Verfasser zeigt dabei auch, dass es sich bei der Überprüfung einer Sekundärmaßnahme sehr oft um einen bloßen Annex in der Klausur handelt, die keinen besonderen Schwerpunkt bildet.

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme

196

Expertentipp

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Die Anforderungen der formellen Rechtmäßigkeit spielen nach der Erfahrung der Verfasser regelmäßig kaum eine Rolle!

Wie jede Maßnahme, die auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden muss, hat auch die Vollstreckungsmaßnahme der Polizei im Rahmen der zweistufigen Vollstreckung den Anforderungen der formellen Rechtmäßigkeit mit den allgemeinen Unterpunkten der Zuständigkeit, des Verfahrens und der Form zu genügen.

Sachlich zuständig ist nach Art. 70 Abs. 1 PAG i.V.m. Art. 1 PAG wiederum die Polizei im eingeschränkt institutionellen Sinne, also die Vollzugsbeamten. In örtlicher Hinsicht ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 POG wiederum die Allzuständigkeit im gesamten Freistaat Bayern.

Hinsichtlich des Verfahrens ist zu beachten, dass die grundsätzlich erforderliche Anhörung gemäß Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG bei Vollstreckungsmaßnahmen nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG entbehrlich ist.

Ein Schriftformerfordernis schafft beispielsweise Art. 73 Abs. 1 PAG.

3. Materielle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme

197

Die materielle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme wird nicht nach den allgemeinen Regeln mit den Anforderungen einer Rechtsgrundlage oder Befugnis usw. geprüft. Bei der Vollstreckung haben sich insoweit eigenständige Prüfungspunkte eingebürgert. Eine Vollstreckungsmaßnahme ist materiell rechtmäßig, wenn die allgemeinen und die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen.

a) Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen

aa) Verwaltungsakt der Polizei, der vollziehbar ist

198

Grundvoraussetzung der Vollstreckung ist bei der zweistufigen Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 1 PAG ein Verwaltungsakt der Polizei, der auf die Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet ist. Die Anforderungen an den Inhalt des Verwaltungsaktes werden dabei auch als vollstreckbarer Inhalt bezeichnet.

199

Dabei muss dieser unzweifelhaft nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen wirksam sein. Für die Wirksamkeit des Verwaltungsakts ist auf Art. 43 BayVwVfG abzustellen. Insbesondere ist ein nach Art. 44 BayVwVfG nichtiger Verwaltungsakt unwirksam (Art. 43 Abs. 3 BayVwVfG).

Art. 70 Abs. 1 PAG fordert darüber hinaus die Unanfechtbarkeit oder die fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels (sogenannte „Vollziehbarkeit“ des Verwaltungsaktes).Vgl. dazu auch Schenke Rn. 544.

Unanfechtbarkeit tritt mit Ablauf der jeweiligen Rechtsmittelfristen ein. Der Ausschluss der  aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels bestimmt sich nach § 80 Abs. 2 VwGO.

Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO fallen darunter unaufschiebbare Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten. Mit dem Begriff des Polizeivollzugsbeamten ist der Begriff der Polizei im eingeschränkt institutionellen Sinne i.S.d. Art. 1 PAG gemeint.Vgl. Kopp/Schenke § 80 Rn. 64, der klarstellt, dass nur Maßnahmen der polizeilichen Vollzugsbeamten erfasst werden. Aufgrund der Funktionsgleichheit von manueller Verkehrsregelung durch die Polizei und Verkehrsregelung durch Verkehrszeichen und Verkehrsampeln ist § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO insoweit analog anzuwenden.Kopp/Schenke § 80 Rn. 64.

bb) Rechtmäßigkeit der polizeilichen Primärmaßnahme? (Grundsatz der Konnexität)

200

Expertentipp

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Bei der Frage nach dem Erfordernis der Konnexität handelt es sich um einen schon lange bestehenden Streit im Polizeirecht, zu dem Sie unbedingt ein paar Zeilen schreiben sollten.

Fraglich ist, ob darüber hinaus auch die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes (Grundsatz der Konnexität) erforderlich ist.Vgl. zum Streit um das Erfordernis der Konnexität Schenke Rn. 540 ff. Die von Knemeyer begründete Lehre der Konnexität fordert bei der Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 1 PAG auch die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Primärmaßnahme. Diese Frage wird nur relevant, sofern (wie im Regelfall) ein Fall der fehlenden aufschiebenden Wirkung vorliegt, nicht dagegen im Falle der Unanfechtbarkeit.Letzterer Fall ist aber bei den polizeilichen Maßnahmen aufgrund der grundsätzlich durch Vollzug sofort eintretenden Erledigung lediglich von untergeordneter Bedeutung. Für die Konnexität wird vorgebracht, dass es im Polizeirecht aufgrund der zeitlichen Abfolge zu einer Rechtsschutzverkürzung für den Bürger komme, die vor dem Hintergrund der Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG dadurch ausgeglichen werden soll, dass die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung voraussetze. Gegen das Erfordernis der Konnexität spricht aber, dass der eintretende Rechtsschutzverlust Ausdruck der Situationsgebundenheit des Polizeirechts ist und eine Vollstreckung lediglich auf der Grundlage eines wirksamen Verwaltungsaktes allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundlagen entspricht. Zudem findet die Lehre der Konnexität keinen Anhaltspunkt im Wortlaut des Art. 70 Abs. 1 PAG. Letztlich hat der Gesetzgeber in Art. 70 Abs. 2 PAG den Grundsatz der Konnexität normiert (dazu sogleich mehr), so dass im Umkehrschluss bei Art. 70 Abs. 1 PAG keine Konnexität zu fordern ist.BVerfG NVwZ 1999, 290 ff.; so im Ergebnis auch Becker/Heckmann/Kempen/Manssen 3. Teil Rn. 231 ff.; Wollenschläger in Huber/Wollenschläger § 4 Rn. 285; Schmidbauer/Holzner Rn. 1190.

Expertentipp

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Ganz klassisch begegnet Ihnen in der Examensklausur im Polizeirecht die Konstellation, dass Sie sowohl eine Primärmaßnahme als auch eine Sekundärmaßnahme zu überprüfen haben. Sollten Sie dabei zu dem Ergebnis der Rechtmäßigkeit der Primärmaßnahme kommen, können Sie mit Hinweis darauf die Frage nach dem Erfordernis der Konnexität dahingestellt lassen.

Andernfalls sollten Sie sich nach Diskussion mit den dargestellten Argumenten gegen den Grundsatz der Konnexität entscheiden.

cc) Sonstige allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen

201

Die Nichterfüllung der Verpflichtung ist denknotwendige Voraussetzung für die Anwendung polizeilichen Zwangs (z.B. explizit geregelt für die Ersatzvornahme in Art. 72 Abs. 1 S. 1 PAG); sie ergibt sich bereits aus der oben angesprochenen Realisierungsfunktion der Zwangsmittel.

Daneben ist aber in jedem Fall auch die Fortdauer der Gefahr erforderlich, die die Polizei auf Primärebene zum Handeln berechtigt hat. Aus dem Erfordernis des Fortdauerns ergibt sich dabei, dass an die Art der Gefahr (regelmäßig konkrete Gefahr) dieselben Anforderungen zu stellen sind wie auf der Primärebene.Berner/Köhler/Käß Art. 53 Rn. 2. Die Primärmaßnahme darf sich daher noch nicht erledigt haben etwa infolge Zeitablaufs oder in sonstiger Weise (vgl. Art. 71 Abs. 3 PAG).

202

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezüglich der Frage, ob überhaupt eine zwangsweise Durchsetzung der Primärmaßnahme vorgenommen wird, ergibt sich bereits aus Art. 4 PAG, der als Vorschrift aus dem I. Abschnitt „Allgemeine Vorschriften“ auch bei der Vollstreckung anzuwenden ist.Berner/Köhler/Käß Art. 53 Rn. 1 setzt dies voraus.

203

Letztlich erfordert die Frage, ob überhaupt eine Vollstreckung erfolgt, eine ordnungsgemäße Ermessensausübung i.S.d. § 114 VwGO. Bereits der Wortlaut des Art. 70 Abs. 1 PAG („kann“) ordnet ein polizeiliches Ermessen an.

In der Klausur wird bei der Frage der Verhältnismäßigkeit und ordnungsgemäßen Ermessensausübung insbesondere von Bedeutung sein, ob der Betroffene durch Äußerungen und/oder sein Verhalten zu verstehen gegeben hat, dass er der Primärmaßnahme nicht freiwillig nachkommen wird.

204

Schließlich darf kein Vollstreckungshindernis bestehen. Greift die Vollstreckung in Rechte Dritter ein, bedarf es einer Duldungsanordnung gegenüber dem Dritten. Die Duldungsverfügung hat eine Doppelnatur. Sie ist zum einen Gestaltungsakt, der zivilrechtliche Ansprüche des Duldungspflichtigen ausschließt, zum anderen eine vollstreckungsfähige Anordnung, die dem Pflichtigen untersagt, die Vollstreckung zu behindern.BayVGH NVwZ-RR 2006, 389; BayVGH NVwZ-RR 2002, 608 f. Die Duldungsverfügung ist selbst Verwaltungsakt; ihr Vorliegen berührt allein die Ebene der Vollstreckung. Sie ist hingegen keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der polizeilichen Primärmaßnahme.BayVGH NvwZ-RR 2006, 389 f.

b) Besondere Vollstreckungsvoraussetzungen

205

Neben den allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen erfordert jedes zulässige Zwangsmittel besondere Vollstreckungsvoraussetzungen, die in den Art. 71 ff. PAG geregelt sind.

Zulässige Zwangsmittel sind nach Art. 71 Abs. 1 PAG Ersatzvornahme nach Art. 72 PAG, Zwangsgeld nach Art. 73 PAG und unmittelbarer Zwang nach Art. 75 PAG.

aa) Androhung eines bestimmten Zwangsmittels

206

Nach Art. 71 Abs. 2 PAG sind die Zwangsmittel nach Art. 76 und 81 PAG anzudrohen.

Gemäß Art. 76 Abs. 3 S. 1 PAG muss sich die Androhung auf ein bestimmtes Zwangsmittel beziehen. Dieses Erfordernis gilt ebenso wie Art. 76 Abs. 2 PAG auch bei der Androhung unmittelbaren Zwangs,Über Art. 75 Abs. 1 S. 2, 77 Abs. 1 a.E. PAG. bei dem die erweiternde Spezialregelung des Art. 81 PAG zu beachten ist.   

207

Art. 76 Abs. 1 PAG verlangt grundsätzlich die schriftliche Androhung mit Bestimmung einer angemessenen Frist; nach Art. 76 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 PAG ist dies bei einer Duldung oder Unterlassung nicht erforderlich. Bei Schriftlichkeit ist die Androhung nach Art. 76 Abs. 6 PAG gemäß dem VwZVG zuzustellen.VollzB Nr. 59.2. Sollte ein solcher Fall einmal relevant werden, muss unbedingt auch an die Heilungsmöglichkeit des Art. 9 VwZVG gedacht werden.

Entbehrlich kann die Androhung nach Art. 76 Abs. 1 S. 3 PAG sein. Nach Nr. 59.1. VZBKM soll eine schriftliche Androhung auch dann nicht möglich sein, wenn durch die dadurch bewirkte Verzögerung die Gefahr nicht rechtzeitig abgewendet würde (Sollten Sie wirklich einmal auf den Fall einer Ersatzvornahme stoßen, wäre dies wohl der Regelfall).  

208

Im Falle des unmittelbaren Zwangs genügt nach Art. 81 Abs. 1 S. 1 PAG auch eine mündliche Androhung, da dort das Erfordernis der Schriftlichkeit nicht übernommen wird. Art. 81 Abs. 1 S. 2 PAG erklärt insoweit zudem die Androhung in bestimmten Fällen für entbehrlich.

bb) Besondere Voraussetzungen des angedrohten Zwangsmittels

209

Die Art. 71 ff. PAG enthalten besondere Voraussetzungen für die einzelnen Zwangsmittel.

(1) Ersatzvornahme (Art. 72 PAG)

210

Nach Art. 72 Abs. 1 S. 1 PAG ist Ersatzvornahme zunächst nur bei einer vertretbaren Handlung möglich.

Definition

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Definition: vertretbaren Handlung

Unter einer vertretbaren Handlung versteht man eine Handlung, deren Vornahme durch einen anderen möglich ist.

Vgl. dazu Schenke Rn. 553.

Darunter fallen insbesondere nicht höchstpersönliche Verpflichtungen wie z.B. eine Aussage.Berner/Köhler/Käß Art. 55 Rn. 6 und VollzB Nr. 55.2. Auch die persönliche Entfernung von einem bestimmten Ort stellt eine unvertretbare Handlung dar. Vertretbare Handlungen sind demgegenüber die Entfernung einer SacheVgl. Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 6 und Berner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 3, der als Beispiel der vertretbaren Handlung die Beseitigung des KFZ aufführt. Achtung: zur Rechtsnatur der Abschleppfälle wendet sich Berner/Köhler/Käß hier gegen die Rechtsprechung des BayVGH; insofern ist die Fundstelle mit Vorsicht zu genießen, dazu unten (Rn. 259 ff.) mehr. oder die Räumung einer Sache.

Eine Ersatzvornahme ist dabei auch durch Dritte möglich (Abschleppdienst) und muss nicht zwingend durch die Polizei selbst erfolgen.

Nach Art. 76 Abs. 4 PAG sollen bei der Androhung der Ersatzvornahme die voraussichtlichen Kosten angegeben werden. Aufgrund der Eigenschaft als Soll-Vorschrift führen fehlende Angaben dabei regelmäßig nicht zur Rechtswidrigkeit der Androhung.Becker/Heckmann/Kempen/Manssen Teil 3 Rn. 241 und Berner/Köhler/Käß Art. 59 Rn. 14 im Gegensatz zu der missverständlichen VollzB Nr. 59.3.

(2) Zwangsgeld (Art. 73 PAG)

211

Im Hinblick auf das Erfordernis der sofortigen Abwendung der Gefahr (vgl. Art. 76 Abs. 1 S. 3 PAG) ist kaum ein Fall einer erforderlichen Androhung des Zwangsgeldes denkbar. Da das Zwangsgeld auch niemals unmittelbar zur Beseitigung der Gefahr führen kann, ist sein Anwendungsbereich im Polizeirecht extrem gering (ganz anders dagegen im Sicherheitsrecht).Vgl. dazu die schöne Ausführung in VollzB Nr. 56.1.

Bei einer erforderlichen Androhung muss nach Art. 76 Abs. 5 PAG eine bestimmte Höhe angedroht werden.

(3) Unmittelbarer Zwang

212

Der Fall des unmittelbaren Zwangs wird Ihnen in der Klausur im Regelfall begegnen.

Unmittelbarer Zwang ist nach Art. 78 Abs. 1 PAG die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt (Art. 78 Abs. 2 PAG), ihre Hilfsmittel (Art. 78 Abs. 3 PAG) und durch Waffen und Explosivmittel (Art. 78 Abs. 4 und 5 PAG). Für das Hilfsmittel des Fesselns ist die Spezialvorschrift des Art. 82 PAG zu beachten; unter den Begriff des Fesselns fällt insbesondere das Anlegen von Handschellen.VollzB Nr. 65.3.; auch zur Frage von Alternativen.

Hinweis

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Niemals zulässig ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Erzwingung einer Aussage, insbesondere scheidet damit also die Folter aus. Nach Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG dürfen festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. In diesem ausdrücklichem Verbot finden auch die Schutzpflichten des Staates nach Art. 2 Abs. 2 GG hinsichtlich des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ihre Grenze und können deshalb nicht zur Rechtfertigung von Folterhandlungen dienen.Zu allem Schenke Rn. 558a.   

Nach Art. 75 Abs. 1 S. 1 PAG handelt es sich dabei aufgrund des hohen Eingriffscharakters um ultima ratio.

Becker/Heckmann/Kempen/Manssen Teil 3 Rn. 252; Berner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 5. Andere Zwangsmittel dürfen nicht in Betracht kommen, keinen Erfolg versprechen oder unzweckmäßig sein. Beim Begriff der Zweckmäßigkeit wird der Polizei aber ein weiter Spielraum eingeräumt.Berner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 6. Im Hinblick auf die regelmäßig gegebene Unzweckmäßigkeit des Zwangsgeldes (vgl. Rn. 211) stellt sich meist nur die Frage der Abgrenzung zur Ersatzvornahme, die dabei nur bei vertretbaren Handlungen denkbar ist.

Für die Art und Weise der Anwendung verweist Art. 75 Abs. 1 S. 2 PAG auf die Art. 77 ff. PAG, wobei insbesondere die Erweiterung des Art. 81 PAG für die Androhung (vgl. bereits Rn. 208) und die Art. 83 ff. PAG weiterhin relevant sind.

213

In den Art. 83 ff. PAG werden detailliert der Gebrauch von Waffen und Explosivmitteln durch die Polizei geregelt. Dabei wurden im Rahmen der Novellierungen die Handlungsmöglichkeiten deutlich erweitert, als beispielsweise in Art. 83 Abs. 4 S. 2 PAG unter den dort genannten einschränkenden Voraussetzungen ein Schusswaffengebrauch auch dann zulässig sein soll, wenn für den Polizeibeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden.Insbesondere auch aufgrund dieser Regelung haben die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und das Bündnis #noPAG Verfassungsbeschwerde zum BVerfG eingelegt. Soweit das BVerfG stringent ist, kann es angesichts seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen, dass Art. 84 Abs. 4 S. 2 PAG mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, soweit davon tatunbeteiligte Menschen betroffen sind. Die Verfasser sind angesichts der faktischen Handlungszwänge der Polizeibehörden vor dem Hintergrund neuer Gefährdungslage aber sehr gespannt – eine „Hintertüre“ stünde dem BVerfG noch insoweit zur Verfügung, als es argumentieren könnte, anders als beim Flugzeug stünden in den Situationen nach PAG den unbeteiligten Personen öfter vorherige Entfernens- oder Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung, womit ein Unterschied gegeben wäre. Zwingend erscheint dies aber leider auch nicht, insbesondere wenn man an den Terroranschlag in Berlin denkt, bei welchem auch der Fahrer des als Waffe verwendeten LKW weiterhin gezwungen war, neben dem Attentäter in der Fahrerkabine zu verbleiben und damit als unbeteiligte Person ebenfalls von Maßnahmen der Polizei betroffen gewesen wäre.

214

Nach Art. 77 Abs. 2 PAG bleiben die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt. Sofern z.B. ein polizeilicher Schusswaffengebrauch nach den Vorschriften der Art. 75, 83 ff. PAG als rechtswidrig zu klassifizieren ist, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Maßnahme nicht durch Vorschriften über Notwehr und Notstand gerechtfertigt war.Becker/Heckmann/Kempen/Manssen Teil 3 Rn. 255 f.; Berner/Köhler/Käß Art. 60 Rn. 8.

cc) Verhältnismäßigkeit und ordnungsgemäße Ermessensausübung bezüglich der Auswahl und der Anwendung des konkreten Zwangsmittels

215

Sowohl bei der Frage, welches der Zwangsmittel i.S.d. Art. 71 Abs. 1 PAG die Polizei auswählt als auch bei dessen Anwendung ist der Grundsatz der VerhältnismäßigkeitBerner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 8. (als allgemeine Vorschrift des Art. 4 PAG) zu beachten. Das Erfordernis der ordnungsgemäßen Ermessensausübung ergibt sich bereits aus dem Wortlaut („kann“) der jeweiligen Vorschriften.

Bezüglich der Auswahl des unmittelbaren Zwangs ist die spezielle Regelung des Art. 75 Abs. 1 S. 1 PAG zu beachten.

V. Die einstufige Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 2 PAG („Sofortvollzug“)

216

Der Sofortvollzug nach Art. 70 Abs. 2 PAG zeichnet sich dadurch aus, dass gerade keine vorherige polizeiliche Primärmaßnahme erlassen wurde. Es handelt sich also in chronologischer Hinsicht um die erste Maßnahme der Polizei direkt auf der Ebene der Vollstreckung.

1. Abgrenzung zur unmittelbaren Ausführung nach Art. 9 PAG

217

Der Sofortvollzug nach Art. 70 Abs. 2 PAG ist besonders dann relevant, wenn der Verantwortliche nicht anwesend ist (vgl. den Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 PAG). Insbesondere bei Handeln der Polizei in Fällen der nicht anwesenden Verantwortlichen stellt sich dann die Frage der Abgrenzung zur unmittelbaren Ausführung nach Art. 9 PAG.Sehr schön Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 2. Beiden Konstellationen ist gemein, dass die Polizei selbst Maßnahmen ergreift, ohne zuvor eine entsprechende Anordnung zu erlassen.     

218

Während Art. 9 PAG die unmittelbare Ausführung einer Primärmaßnahme regelt, erfasst Art. 70 Abs. 2 PAG den Bereich des Sofortvollzugs, liegt also im Bereich des Vollstreckungsrechts. Die unmittelbare Ausführung nach Art. 9 PAG kann nach Ansicht des BayVGH bei jeder Primärmaßnahme vollzogen werden.Berner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 4 wendet sich gegen diese Rechtsprechung und bezeichnet die Gegenmeinung als ganz h.L. Dafür spricht auch klar die systematische Stellung im Abschnitt I „Allgemeine Vorschriften“.

Bei der unmittelbaren Ausführung handelt die Polizei quasi „unmittelbar“ für den nicht anwesenden Verantwortlichen. Sie nimmt also die Maßnahme vor, die dieser bei seiner Anwesenheit selbst vornehmen würde.

Bei der Frage der Abgrenzung, ob eine unmittelbare Ausführung einer Primärmaßnahme oder der Sofortvollzug einer Sekundärmaßnahme vorliegt, ist wie folgt vorzugehen:Vgl. dazu auch Wehr Rn. 318 ff.

a) Vorgehensweise bei der Abgrenzung von unmittelbarer Ausführung und Sofortvollzug

219

Ausgangspunkt ist Art. 70 Abs. 2 PAG, der fordert, dass „Maßnahmen nach den Art. 7–10 PAG […] nicht möglich“ sind. Art. 70 Abs. 2 PAG erfordert also auch, dass Maßnahmen nach Art. 9 PAG nicht möglich sind, weshalb vorrangig die Möglichkeit einer unmittelbaren Ausführung geprüft werden muss.

220

Art. 9 PAG erlaubt die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme, wenn der „Zweck durch Inanspruchnahme der nach den Art. 7 oder 8 Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden kann“.

Art. 9 PAG lässt also die Fälle des Nichtverantwortlichen nach Art. 10 PAG aus. Sofern also ein Fall der fehlenden Verantwortlichkeit nach Art. 10 PAG vorliegt, kann es sich nur um einen Fall des Sofortvollzuges einer Sekundärmaßnahme nach Art. 70 Abs. 2 PAG handeln.

Vorsicht bei der missverständlichen Fundstelle Berner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 5; klar bei Berner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 6.

Da die Polizei bei der unmittelbaren Ausführung für den Verantwortlichen (an dessen Stelle) handelt, ist denknotwendige Voraussetzung eine vertretbare Handlung

Definition kann aus Art. 72 Abs. 1 S. 1 PAG entnommen werden., also eine solche, die auch von einem Dritten vorgenommen werden kann. Sofern eine unvertretbare Handlung gegeben ist, kann es sich ebenfalls lediglich um einen Sofortvollzug nach Art. 70 Abs. 2 PAG handeln.Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 3.

221

Lediglich im Bereich einer vertretbaren Handlung und einem (nicht anwesenden) Verantwortlichen nach Art. 7 oder 8 PAG stellt sich also letztlich die Frage der Abgrenzung. Maßgeblich ist hierbei der mutmaßliche Wille des Betroffenen.Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 4.

Die unmittelbare Ausführung einer Primärmaßnahme nach Art. 9 PAG erfolgt – wie bereits ausgeführt – für den Verantwortlichen (an dessen Stelle): Sie ist daher einschlägig, wenn die Polizei im Einklang mit dem hypothetischen Willen handelt, dieser also bei Anwesenheit eine entsprechende polizeiliche Primärmaßnahme befolgen würde.

Der Sofortvollzug der Sekundärmaßnahme nach Art. 70 Abs. 2 PAG ist ein Zwangsmittel und damit auch ein Instrument zur Brechung des entgegenstehenden Willens des Betroffenen (Beugefunktion): Er ist daher einschlägig, wenn die Polizei gegen den mutmaßlichen Willen des Verantwortlichen handelt, dieser also eine entsprechende polizeiliche Maßnahme bei Anwesenheit nicht befolgen würde.

Dabei geht der BayVGH davon aus, dass im Zweifel von einem rechtstreuen Bürger auszugehen ist, der einer entsprechenden polizeilichen Anweisung auch Folge leisten würde.Diese Rspr. wird außerhalb Bayerns kritisiert; dem BayVGH ist aber vollumfänglich zuzustimmen, denn es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass sich der Betroffene einer polizeilichen Maßnahme widersetzt. Jeder, der sich gedanklich in die Situation versetzt, dass die Polizei einem gegenüber z.B. die Beseitigung des KFZ anordnet, wird zugestehen müssen, dass er diesem Gebot auch Folge leisten wird.

b) Rechtsnatur und Prüfung der unmittelbaren Ausführung

222

Trotz der fehlenden Bekanntgabe nach Art. 43/41 BayVwVfG handelt es sich bei der unmittelbaren Ausführung um einen Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG,A.A. insoweit Wehr Rn. 506. da das Bekanntgabeerfordernis durch die Spezialregelung des Art. 9 Abs. 1 S. 2 PAG der Unterrichtung überlagert ist.Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 11. Nach anderer Auffassung liegt hier mangels Regelung gegenüber einem Adressaten ein bloßer Realakt vor, dem folglich gerichtlich mit einer allgemeinen Leistungsklage (vgl. § 43 VwGO) oder nach Erledigung über eine allgemeine Feststellungsklage zu begegnen wäre.Becker/Heckmann/Kempen/Manssen Teil 3 Rn. 278; Schmidbauer/Holzner Rn. 1259; Wollenschläger in: Huber/Wollenschläger § 4 Rn. 323. Nimmt man hingegen einen Verwaltungsakt an, so ist Rechtsschutz wiederum über eine Anfechtungsklage und nach Erledigung über die Fortsetzungsfeststellungsklage zu suchen.Berner/Köhler/Käß vor Art. 9 Rn. 13.

Mit der in Art. 9 PAG erwähnten „Maßnahme“ ist eine polizeiliche Primärmaßnahme gemeint. Da diese aufgrund der Hindernisse nach Art. 9 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 PAG nicht ergehen kann, müsste sie hypothetisch möglich sein, damit die Polizei dieselbe unmittelbar ausführen kann. Daraus ergibt sich in der Klausur folgender Prüfungsaufbau:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Prüfungsaufbau bei der unmittelbaren Ausführung

I.

Abgrenzung zum Sofortvollzug

II.

Rechtmäßigkeit einer hypothetischen PrimärmaßnahmeVgl. Wehr Rn. 425. in Bezug auf eine vertretbare Handlung gegen einen Verantwortlichen nach Art. 7 oder 8 PAGBerner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 2.

III.

Spezielle Voraussetzungen des Art. 9 PAG: Zweck der Maßnahme kann durch Inanspruchnahme der nach Art. 7 oder 8 Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden

Hinweis

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Die Unterrichtung nach Art. 9 Abs. 1 S. 2 PAG ist nicht Teil der unmittelbaren Ausführung und deshalb keine Rechtmäßigkeits- oder Wirksamkeitsvoraussetzung. Relevant ist sie als Bekanntgabesurrogat lediglich für den Lauf der Rechtsmittelfristen.Berner/Köhler/Käß Art. 9 Rn. 9.

2. Prüfung der Rechtmäßigkeit der einstufigen Vollstreckung in der Klausur

223

Die Rechtmäßigkeit der einstufigen Vollstreckung erfordert die formelle und die materielle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme. Die materielle Rechtmäßigkeit ist gegeben, wenn die allgemeinen und die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen gegeben sind.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Rechtmäßigkeit der einstufigen Vollstreckung nach Art. 70 Abs. 2 PAG

I.

Formelle Rechtmäßigkeit

 

1.

Sachliche Zuständigkeit der Polizei nach Art. 70 Abs. 1 PAG i.S.d. Art. 1 PAG

 

2.

Örtliche Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 POG

II.

Materielle Rechtmäßigkeit

 

1.

Rechtmäßigkeit einer hypothetischen Primärmaßnahme (Grundsatz der Konnexität)

 

2.

Besondere Voraussetzungen des Art. 70 Abs. 2 PAG

 

3.

Besondere Voraussetzungen des angewendeten Zwangsmittels

 

4.

Verhältnismäßigkeit bezüglich Auswahl und Anwendung des konkreten Zwangsmittels

 

5.

Ordnungsgemäße Ermessensausübung bezüglich Auswahl und Anwendung des konkreten Zwangsmittels

Hinweis

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Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der einstufigen Vollstreckung ergeben sich weitreichende Überschneidungen zu den obigen Ausführungen bei der zweistufigen Vollstreckung, weshalb in der Folge nur noch die abweichenden Punkte erläutert werden sollen.

224

Anders als bei Art. 70 Abs. 1 PAG ist beim Sofortvollzug der Grundsatz der Konnexität ausdrücklich normiert. Mit dem Erfordernis „Polizei hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt“ fordert das Gesetz selbst die Rechtmäßigkeit einer hypothetischen Primärmaßnahme.Berner/Köhler/Käß Art. 53 Rn. 7 und VollzB Nr. 53.2.

225

Als besondere Voraussetzungen des Art. 70 Abs. 2 PAG normiert das Gesetz die Notwendigkeit zur Abwehr einer Gefahr, insbesondere weil Maßnahmen gegen Personen nach den Art. 7 bis 10 PAG nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen. Zentrale Voraussetzung des Art. 70 Abs. 2 PAG ist die Notwendigkeit zur Abwehr einer Gefahr. Der Begriff der Gefahr meint dabei eine solche Gefahr, die eine vorausgehende Primärmaßnahme nicht zulässt.Berner/Köhler/Käß Art. 53 Rn. 4; Achtung: eine dringende Gefahr ist nicht erforderlich; ausreichend ist eine konkrete Gefahr. Die nicht oder nicht rechtzeitige Möglichkeit von Maßnahmen gegen Personen nach Art. 7 bis 10 PAG ist dabei lediglich ein erläuterndes („insbesondere“) – wenn auch den Regelfall darstellendes – Beispiel.

226

Letztlich sind die besonderen Voraussetzungen des angewendeten Zwangsmittels erforderlich (z.B. vertretbare Handlung bei Ersatzvornahme nach Art. 72 PAG; vgl. Rn. 210). Die Androhung ist dabei nach Art. 76 Abs. 1 S. 3 bzw. Art. 81 Abs. 1 S. 2 PAG regelmäßig entbehrlich.

227

Auch Verhältnismäßigkeit und ordnungsgemäße Ermessensausübung (Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 PAG: „kann“) bezüglich der Anwendung und der Auswahl des konkreten Zwangsmittels sind zu beachten.

Hinweis

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Kontrollieren Sie sich an dieser Stelle selbst und prüfen Sie, ob Sie den Prüfungsaufbau bei der Vollstreckung verinnerlicht haben. Achten Sie dabei auf die Unterschiede zwischen der zweistufigen und der einstufigen Vollstreckung und prägen Sie sich die unterschiedliche Gesetzeslage und den unterschiedlichen Meinungsstand hinsichtlich des Grundsatzes der Konnexität ein!

VI. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Vollstreckungsmaßnahmen

228

ObenVgl. Rn. 193 f. wurde bereits dargelegt, dass alle Vollstreckungsmaßnahmen als Verwaltungsakte i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG anzusehen sind, weil jeder Zwangsanwendung der Polizei eine konkludente Duldungsanordnung innewohnen soll, die gleichzeitig mit der Anwendung einhergehe, den Betroffenen zur Duldung der Zwangsmaßnahme zu verpflichten.

Expertentipp

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Überprüfen Sie an dieser Stelle, ob Sie das Prüfungsschema der Fortsetzungsfeststellungsklage noch beherrschen und wiederholen Sie dieses eventuell!

Hinweis

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Diese Ansicht hat vor allem historische und praktische Gründe, da früher gegen Realakte keine Rechtsschutzmöglichkeit in der VwGO bestand. Seit langem steht mit der allgemeinen Feststellungsklage nun eine adäquate Rechtsschutzmöglichkeit auch gegen Realakte zur Verfügung, weshalb die „Konstruktion“ eines Verwaltungsaktes mittels einer innewohnenden Duldungsanordnung an sich nicht mehr erforderlich wäre. Trotzdem wird weiterhin allgemein mit dieser Ansicht gearbeitet, weshalb Sie auch den entsprechenden Ansatz in der Klausur verfolgen sollten.

229

Damit ist auch im Bereich des polizeilichen Zwangs der Rechtsschutz mittels Anfechtungsklage und nach Erledigung durch Vollzug des ZwangsDas BVerwG kommt zum selben Ergebnis, geht aber davon aus, dass nicht der Vollzug des Zwangs das entscheidende Kriterium sei, sondern die Beseitigung der Störung, vgl. Berner/Köhler/Käß Art. 58 Rn. 9. mit der Fortsetzungsfeststellungsklage zu suchen. Zwar handelt es sich auch bei der polizeilichen Androhung von Zwangsmaßnahmen um einen Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 S. 1 BayVwVfG, aufgrund des zeitlichen Zusammenfallens von Androhung und Anwendung im Polizeirecht wird aber im Rahmen der Anfechtungs- und Fortsetzungsfeststellungsklage lediglich die Anwendung der Zwangsmaßnahme überprüft, innerhalb dessen die Androhung als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit enthalten ist. Begreift man (durchaus gut vertretbar) Ersatzvornahme und Anwendung unmittelbaren Zwangs sowie die Maßnahmen der einstufigen Vollstreckung als Realakte, so ist Rechtsschutz über die allgemeine Leistungsklage und nach Erledigung über die allgemeine Feststellungsklage zu gewähren.

230

Expertentipp

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