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Polizei- und Ordnungsrecht NRW - Polizei- und ordnungsrechtliches Zwangsverfahren

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Polizei- und Ordnungsrecht NRW

Polizei- und ordnungsrechtliches Zwangsverfahren

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Inhaltsverzeichnis

4. Teil Polizei- und ordnungsrechtliches Zwangsverfahren

A. Überblick

329

In Teil 3 dieses Skripts haben Sie einen Überblick über die vielfältigen Eingriffsermächtigungen der Polizei und der Ordnungsverwaltung im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht erhalten. Den auf der Grundlage dieser Ermächtigungsnormen ergangenen Gefahrenabwehrverfügungen ist gemeinsam, dass sie auf die Vornahme, die Duldung oder die Unterlassung einer Handlung gerichtet sind. Solche Gefahrenabwehrverfügungen können dadurch erfüllt werden, dass die in der Verfügung auferlegte Pflicht durch den Adressaten der Verfügung erfüllt wird. In den Fällen, in denen der Adressat die ihm auferlegte Pflicht nicht freiwillig erfüllt oder in denen die Polizei bzw. die Ordnungsverwaltung ohne zeitliches Zuwarten der Erfüllung der Verfügung durch den Adressaten umgehend zur Abwehr einer Gefahr handeln muss, können die Polizei und die Ordnungsverwaltung sog. Verwaltungszwang anwenden. Das Verfahren, in dem die Polizei und die Ordnungsverwaltung den Verwaltungszwang ausüben, nennt man Zwangsverfahren.

Hinweis

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Die Beitreibung öffentlich-rechtlicher Geldforderungen wird dagegen Beitreibungsverfahren genannt.

330

Anhand der vorstehenden Erwägungen können Sie erkennen, dass das Polizei- und Ordnungsrecht zweistufig aufgebaut ist:

  • 1. Stufe: Grundverfügung
  • 2. Stufe: Zwangsmaßnahmen
 

331

Auf der ersten Stufe steht die sog. Grundverfügung, d.h. die Gefahrenabwehrverfügung der Polizei bzw. der Ordnungsverwaltung, die auf die Vornahme, die Duldung oder die Unterlassung einer Handlung gerichtet ist. Auf der zweiten Stufe stehen die sog. Zwangsmaßnahmen, die der zwangsweisen Durchsetzung der Grundverfügung dienen.

Beispiel

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Die Stadt E beabsichtigt, nach Maßgabe des KAG

Kommunalabgabengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen. eine neue kommunale Abgabe von Gewerbetreibenden einzuführen, und fordert zu diesem Zwecke zunächst mittels Auskunftsverfügung alle im Stadtgebiet von E ansässigen Gewerbetreibenden (u.a. auch P) auf, bestimmte Auskünfte über ihren Umsatz zu machen. Auf der Grundlage dieser Auskünfte will die Stadt E die neue Abgabe kalkulieren. P ist nicht bereit, die angeforderten Auskünfte zu erteilen. – Die Auskunftsverfügung der Stadt E ist eine Grundverfügung, mit der die Stadt E den P zu einem bestimmten Handeln, nämlich der Erteilung bestimmter Auskünfte, verpflichtet. Da P die ihm auferlegte Pflicht nicht freiwillig erfüllt, kann die Stadt E ein Zwangsverfahren gegen P betreiben, um die Auskunftsverfügung durchzusetzen.

332

Die Zwangsmaßnahmen stellen Beugemittel dar,

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen §  3 Rn. 240. mit dem ein entgegenstehender Wille des Adressaten einer Gefahrenabwehrverfügung gebrochen werden soll. Als Beugemittel können sie unbegrenzt wiederholt werden (vgl. § 51 Abs. 3 S. 1 PolG NRW; §§ 57 Abs. 3 S. 1, 60 Abs. 1 S. 3 VwVG NRW). In unserem Beispiel oben (Rn. 331) kann die Stadt E daher beliebig oft z.B. ein Zwangsgeld in Höhe von 100 € gegen P verfügen, um P zu der angeforderten Auskunft zu bewegen. Die Stadt E ist dabei nicht unbedingt verpflichtet, zunächst ein nicht gezahltes Zwangsgeld beizutreiben, bevor sie ein weiteres Zwangsgeld androht oder, wenn bereits eine Androhung erfolgt ist, festsetzt. Die Entscheidung steht vielmehr in ihrem Ermessen, das im Regelfall aber dahin zu betätigen ist, dass eine Festsetzung erfolgt.Vgl. allgemein OVG NRW GewArch. 2015, 399.

B. Rechtsgrundlagen des Zwangsverfahrens

333

Nicht nur für die polizei- und ordnungsrechtlichen Grundverfügungen, sondern auch für das Zwangsverfahren gilt der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes, d.h. sowohl eine Grundverfügung als auch eine Zwangsmaßnahme müssen auf einer jeweils eigenständigen parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 239.

334

Expertentipp

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Werfen Sie einen ersten Blick in §§ 50 ff. PolG NRW und §§ 55 ff. VwVG NRW!

Für Zwangsmaßnahmen der Polizei bilden §§ 50 ff. PolG NRW und für Zwangsmaßnahmen der Ordnungsverwaltung bilden grundsätzlich §§ 55 ff. VwVG NRW die einschlägigen Rechtsgrundlagen. Die für die Polizei und die Ordnungsverwaltung vorgesehenen Zwangsverfahren weisen in vielen Punkten Gemeinsamkeiten, aber vereinzelt auch nicht unwesentliche Unterschiede auf, auf die wir im Einzelnen noch zu sprechen kommen werden.

C. Zwangsmittel

335

Expertentipp

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Lesen Sie § 57 Abs. 1 VwVG NRW und § 51 Abs. 1 PolG NRW!

Das Polizei- und Ordnungsrecht kennt abschließend

Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 24 Rn. 8. folgende drei Zwangsmittel:

 

I. Ersatzvornahme (§ 59 VwVG NRW, § 52 PolG NRW)

336

Expertentipp

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Lesen Sie § 59 VwVG NRW und § 52 PolG NRW!

Die Ersatzvornahme ist die Vornahme einer vertretbaren Handlung anstelle und auf Kosten des Handlungspflichtigen durch einen Dritten.

Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 24 Rn. 10. „Vertretbar“ ist eine Handlung nach der Legaldefinition des § 59 Abs. 1 S.1 VwVG NRW bzw. des § 52 Abs. 1 S. 1 PolG NRW dann, wenn die Vornahme der Handlung durch einen anderen möglich ist (z.B. die bauaufsichtliche Verpflichtung zum Abriss eines baurechtswidrigen Hauses). „Anderer“ kann die Polizei bzw. die Ordnungsverwaltung selbst (sog. Selbstvornahme) oder ein von der Polizei bzw. der Ordnungsverwaltung beauftragter Dritter (sog. Fremdvornahme) sein, vgl. Wortlaut des § 59 Abs. 1 VwVG NRW bzw. des § 52 Abs. 1 S. 1 PolG NRW („…die Handlung selbst ausführen oder einen anderen mit der Ausführung beauftragen“). Die Kostenanforderungen durch die Ordnungsverwaltung sind sofort vollziehbar (vgl. § 59 Abs. 1 S. 2 VwVG NRW). Diese gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit bezweckt eine Verfahrenserleichterung und eine Verbesserung des Gesetzesvollzuges. Vgl. LT-Drs. 16/11845, S. 34.

Beispiel

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Die Stadt A hegt den Verdacht, dass das Grundstück der Familie W kontaminiert ist und fordert sie daher auf, Bodenuntersuchungen durchzuführen. Die Familie W teilt die Ansicht der Stadt A nicht und sieht sich zudem außerstande, ihr Grundstück selbst umzugraben; sie hält die Verpflichtung daher für eine unvertretbare Handlung. Zu Recht? – Nein, auch wenn die Familie W die Bodenuntersuchungen nicht selbst vornehmen, sie aber statt dessen eine Firma mit den Arbeiten beauftragen kann, liegt eine vertretbare Handlung vor.

Vgl. allgemein Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 243.

Expertentipp

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Da allein eine vertretbare Handlung mittels Ersatzvornahme durchgesetzt werden kann, kommt die Ersatzvornahme nicht in Betracht, wenn eine unvertretbare Handlung (z.B. eine Impfpflicht) oder eine Duldung (z.B. einer körperlichen Untersuchung) oder Unterlassung (z.B. einer Ruhestörung) in Rede steht, weil es sich insoweit um höchstpersönliche Verpflichtungen handelt.

Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 24 Rn. 10.

337

Charakteristisch für eine Ersatzvornahme ist eine vollständige Deckungsgleichheit zwischen der auferlegten und der durchgesetzten Handlung.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 243; str.

Beispiel

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Wie oben (Rn. 336) mit dem Unterschied, dass Familie W die Bodenuntersuchungen auch nicht durch eine Firma vornehmen lässt, woraufhin die Stadt A nach Androhung und Festsetzung eine Ersatzvornahme durchführt. – Der Familie W war auferlegt, Bodenuntersuchungen durchzuführen; eben solche Handlungen wurden von der Stadt A auch durchgesetzt, so dass die auferlegte Handlung und die durchgesetzte Handlung vollständig deckungsgleich waren.

338

Gemäß § 59 Abs. 2 S. 1 VwVG NRW und § 52 Abs. 2 S. 1 PolG NRW kann bestimmt werden, dass der Betroffene die voraussichtlichen Kosten der Ersatzvornahme im Voraus zu zahlen hat. Diese Kosten können im Falle der Nichtzahlung beigetrieben werden (vgl. § 59 Abs. 2 S. 2 VwVG NRW, § 52 Abs. 2 S. 2 PolG NRW). Die Beitreibung unterbleibt jedoch, sobald der Betroffene die gebotene Handlung ausführt (vgl. § 59 Abs. 2 S. 3 VwVG NRW, § 52 Abs. 2 S. 3 PolG NRW). Nicht fristgerecht gezahlte Kosten der Ersatzvornahme sind ggf. nach Maßgabe des § 59 Abs. 3 S. 1 bis 2 VwVG NRW zu verzinsen. Die Zinsforderung kann im Verwaltungszwangsverfahren beigetrieben werden (vgl. § 59 Abs. 3 S. 3 VwVG NRW). Grundstücksbezogene Kosten der Ersatzvornahme ruhen als öffentliche Last auf dem Grundstück bzw. auf den grundstücksgleichen Rechten (vgl. § 59 Abs. 4 VwVG NRW). Dadurch haben die entsprechenden Forderungen dinglichen Charakter und für einen bestimmten Zeitraum Vorrang vor den eingetragenen Grundpfandrechten.

Vgl. LT-Drs. 16/11845, S. 34.

II. Zwangsgeld (§ 60 VwVG NRW, § 53 PolG NRW)

339

Expertentipp

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Lesen Sie § 60 VwVG NRW und § 53 PolG NRW!

Das Zwangsgeld ist ein typisches Beugemittel, mit dem sowohl unvertretbare als auch vertretbare Handlungen durchgesetzt werden können.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 508. Anders als bei der Ersatzvornahme wird der mit der Grundverfügung angestrebte Erfolg nicht selbst herbeigeführt, sondern der Adressat der Grundverfügung mit dem psychologischen Druckmittel des Zwangsgeldes angehalten, die in der Grundverfügung auferlegte Verpflichtung zu erfüllen. Das Zwangsgeld zielt damit auf die Herbeiführung eines rechtmäßigen Verhaltens in der Zukunft.Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 508.

Hinweis

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Mit dieser Zielsetzung unterscheidet sich das Zwangsgeld grundlegend von einer Geldstrafe oder einem Bußgeld, mit dem gesetzeswidriges Verhalten in der Vergangenheit bestraft werden soll.

340

Die Höhe des Zwangsgeldes wird unter Berücksichtigung seines Zwecks bestimmt;

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 510. gemäß § 60 Abs. 1 S. 2 VwVG NRW ist bei der Bemessung des Zwangsgeldes auch das wirtschaftliche Interesse des Betroffenen an der Nichtverfolgung des Verwaltungsaktes zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Höhe des Zwangsgeldes enthalten § 60 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW und § 53 PolG NRW jeweils eine Unter- und Obergrenze: Die Ordnungsverwaltung kann ein Zwangsgeld zwischen 10 € und 100 000 € festsetzen, während die Polizei das Zwangsgeld lediglich zwischen 5 € und 2500 € festlegen kann.Vgl. zu diesem Unterschied näher Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 242. In unserem Beispiel oben (Rn. 331) kann die Stadt E gegen P ein Zwangsgeld z.B. in Höhe von 100 € festsetzen, wenn er seiner gesetzlichen Auskunftspflicht nicht nachkommt. Mit der Festsetzung des Zwangsgeldes will die Stadt E erreichen, dass P die auferlegte Auskunft doch erteilt.

341

Gemäß § 60 Abs. 2 VwVG NRW und § 53 Abs. 2 PolG NRW ist dem Betroffenen mit der Festsetzung des Zwangsgeldes eine angemessene Zahlungsfrist einzuräumen. Im Falle der nicht fristgerechten Zahlung des Zwangsgeldes sehen § 60 Abs. 3 S. 1 VwVG NRW und § 53 Abs. 3 S. 1 PolG NRW die Beitreibung des Zwangsgeldes vor. Die Beitreibung unterbleibt, sobald der Betroffene die gebotene Handlung ausführt oder die zu duldende Maßnahme gestattet; ein Zwangsgeld ist jedoch beizutreiben, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte (vgl. § 60 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 bis 2 VwVG NRW, § 53 Abs. 3 Sätze 2 und 3 Hs. 1 PolG NRW), wobei § 53 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 PolG NRW einschränkend bestimmt, dass von der Beitreibung abgesehen werden kann, wenn weitere Zuwiderhandlungen nicht mehr zu befürchten sind und die Beitreibung eine besondere Härte darstellen würde.n sind und die Beitreibung eine besondere Härte darstellen würde.

342

Expertentipp

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Lesen Sie § 61 VwVG NRW und § 54 PolG NRW!

Ist das Zwangsgeld uneinbringlich, d.h. blieb die Beibringung des Zwangsgeldes erfolglos oder steht die Erfolglosigkeit der Beibringung von Zwangsgeld von vornherein fest (z.B. bei mittellosen Pflichtigen),

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 511. kann das Verwaltungsgericht auf Antrag der Polizei bzw. der Vollzugsbehörde eine Ersatzzwangshaft zwischen einem Tag und zwei Wochen anordnen, wenn der Betroffene bei der Androhung des Zwangsgeldes oder ggf. nachträglich hierauf hingewiesen worden ist (vgl. § 61 Abs. 1 VwVG NRW, § 54 PolG NRW). Da die Ersatzzwangshaft ein uneinbringliches Zwangsgeld voraussetzt und damit an die erfolglose Zwangsgeldfestsetzung anknüpft, stellt sie kein eigenständiges Zwangsmittel dar (vgl. auch die abschließende Aufzählung in § 57 Abs. 1 VwVG NRW und § 51 Abs. 1 PolG NRW, in der die Ersatzzwangshaft nicht erwähnt wird), sondern tritt nach überwiegender Ansicht lediglich an die Stelle des Zwangsgeldes.Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 24 Rn. 13.

343

Expertentipp

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Lesen Sie § 61a VwVG NRW!

Im Jahr 2016 wurde § 61a neu in das Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW eingefügt. § 61a VwVG NRW erfasst den Fall, dass jemand durch Verwaltungsakt verpflichtet ist, eine Erklärung bestimmten Inhaltes abzugeben. § 61a Abs. 1 S. 1 VwVG NRW sieht vor, dass die Erklärung als abgegeben gilt, sobald der Verwaltungsakt, der die Verpflichtung begründet, unanfechtbar geworden ist. Voraussetzung dafür ist, dass der Pflichtige auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden ist und die Erklärung im Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes rechtswirksam abgeben konnte (vgl. § 61a Abs. 1 S. 2 VwVG NRW). Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, den Beteiligten mitzuteilen, zu welchem Zeitpunkt der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist (vgl. § 61a Abs. 2 S. 1 VwVG NRW). Sie ist gemäß § 61a Abs. 2 S. 2 VwVG NRW berechtigt, die zur Wirksamkeit der abzugebenden Erklärung notwendigen Genehmigungen einzuholen sowie Anträge auf Eintragungen in öffentliche Bücher und Register zu stellen. Bedarf die Vollzugsbehörde eines Erbscheins oder einer anderen Urkunde, die dem Betroffenen auf Antrag von einer Behörde, einem Gericht oder einer Notarin oder einem Notar zu erteilen ist, so kann sie die Erteilung an Stelle des Betroffenen verlangen (vgl. § 61a Abs. 2 S. 3 VwVG NRW).

344

Nach der Gesetzesbegründung

Vgl. zum Ganzen LT-Drs. 16/11845, S. 34. soll § 61a VwVG NRW, der sich an entsprechende Regelungen in Gesetzen anderer Länder und an § 894 ZPO anlehnt, bewirken, dass der Vollstreckungsschuldner, der aus dem zu vollstreckenden Verwaltungsakt zur Abgabe einer Erklärung verpflichtet ist und diese verweigert, im Wege der Fiktion so behandelt wird, als hätte er die Erklärung abgegeben, ohne dass ein Gebrauchmachen vom Mittel des Zwangsgeldes erforderlich wird. Hierdurch wird der Ordnungsverwaltung also die Möglichkeit eröffnet, den mit der Durchführung der Vollstreckung angestrebten Erfolg, nämlich die Abgabe einer bestimmten Erklärung, zügiger zu realisieren.

III. Unmittelbarer Zwang (§ 62 VwVG NRW, § 55 PolG NRW)

345

Expertentipp

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Lesen Sie zunächst § 62 VwVG NRW und § 55 PolG NRW!

§ 62 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW und § 55 Abs. 1 S. 1 PolG NRW ermächtigen die Polizei und die Ordnungsverwaltung zur Anwendung unmittelbaren Zwangs, wenn andere Zwangsmittel nicht in Betracht kommen oder keinen Erfolg versprechen oder unzweckmäßig sind. Im Vergleich zur Ersatzvornahme und zum Zwangsgeld ist der unmittelbare Zwang nach dem Willen des Gesetzgebers ultima ratio.

Expertentipp

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Lesen Sie diese Vorschriften aufmerksam durch!

Wegen der Grundrechtsrelevanz des unmittelbaren Zwangs ist die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwangs in § 62 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 66 ff. VwVG NRW und § 55 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 57 ff. PolG NRW näher geregelt.

346

Der unmittelbare Zwang wird in § 67 Abs. 1 VwVG NRW und § 58 Abs. 1 PolG NRW legaldefiniert als „Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen“.

Expertentipp

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Lesen Sie diese Definitionen im Gesetzestext nach!

Die Begriffe der „körperlichen Gewalt“, der „Hilfsmittel“ und der „Waffen“ werden ihrerseits in § 67 Abs. 2 bis 4 VwVG NRW und § 58 Abs. 2 bis 4 PolG NRW legaldefiniert.

347

In § 74 S. 2 VwVG NRW i.V.m. §§ 61, 63 ff. PolG NRW bzw. §§ 63 ff. PolG NRW ist auch der Schusswaffengebrauch gegen Personen näher geregelt. Der sog. finale Rettungsschuss, d.h. der gezielte Schuss zur Tötung eines Pflichtigen, ist mittlerweile in § 63 Abs. 2 S. 2 PolG NRW geregelt. Danach ist ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.

Vgl. hierzu Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen Rn. 518a; zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des finalen Rettungsschusses Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 244.

348

Unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ist ausgeschlossen (vgl. § 62 Abs. 2 VwVG NRW, § 55 Abs. 2 PolG NRW). Es besteht danach ein Folterverbot.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 244.

Beispiel

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Der Sohn eines Frankfurter Bankiers ist entführt worden. Die Polizei verhaftet den Entführer. Dieser weigert sich beharrlich, den Aufenthaltsort des Kindes mitzuteilen. – Die Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Abgabe einer Erklärung des Kindesentführers ist nach § 62 Abs. 2 VwVG NRW bzw. § 55 Abs. 2 PolG NRW ausdrücklich verboten. Verboten ist hiernach aber auch schon die Androhung einer körperlichen Einwirkung, die darauf gerichtet ist, den Kindesentführer zur Mitteilung des Aufenthaltsortes zu drängen. Damit ist auch eine präventiv-polizeiliche „Rettungsfolter“ rechtlich unzulässig.

Vgl. LG Frankfurt/Main NJW 2005, 692; EGMR NJW 2010, 3145; OLG Frankfurt/Main NJW 2013, 75; Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 244; str.

IV. Exkurs: Qualifizierung des Abschleppens eines verbotswidrig abgestellten Pkw

349

Zu den Klausurklassikern im Polizei- und Ordnungsrecht gehören Abschleppfälle (s. Näheres dazu in Übungsfall 2 [unten Rn. 411 f.]). An dieser Stelle wollen wir uns vorab bereits kurz mit der umstrittenen Frage befassen, wie das Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Pkw zu qualifizieren ist.

Bereits oben (Rn. 234) wurde erwähnt, dass das Abschleppen eines Pkw teilweise als Sicherstellung nach § 43 PolG NRW (i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG) angesehen wird. Dagegen wird jedoch vorgebracht, dass die Sicherstellung auf eine Ingewahrsamnahme des Pkw abziele, die bei einer Abschleppmaßnahme regelmäßig nicht beabsichtigt sei.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 245.

Unter den Vertretern einer vollstreckungsrechtlichen Qualifizierung des Abschleppens besteht wiederum Streit darüber, ob das Abschleppen eine Ersatzvornahme oder einen unmittelbaren Zwang darstellt. Die Befürworter der Ersatzvornahme stehen auf dem Standpunkt, dass ein Halteverbotsschild ein abstraktes „Räumungsgebot“ enthalte, das sowohl durch ein Wegfahren als auch durch ein Wegziehen des Pkw erfüllt werden könne. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise bestehe die für die Ersatzvornahme erforderliche Deckungsgleichheit zwischen der abverlangten und durchgesetzten Handlung (s.o. Rn. 337).

Vgl. zum Ganzen Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 245.

Dagegen berufen sich die Befürworter des unmittelbaren Zwangs darauf, dass ein Halteverbotsschild lediglich ein Wegfahrgebot enthalte. Im Zwangsverfahren werde aber nicht ein Wegfahren, sondern ein Wegschleppen des Pkw durchgesetzt. Die für eine Ersatzvornahme erforderliche Deckungsgleichheit zwischen der abverlangten und der durchgesetzten Handlung fehle daher.

Vgl. zum Ganzen Klenke NWVBl. 1994, 288.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung müssen Sie die verschiedenen Lösungsansätze fallbezogen argumentativ darstellen und den Meinungsstreit entscheiden.

 

D. Zwangsverfahren

I. Überblick

350

Expertentipp

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Wiederholen Sie zunächst das Zwangsverfahren im allgemeinen Verwaltungsvollstreckungsrecht!

Wie im allgemeinen Verwaltungsvollstreckungsrecht (s. dazu Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“) sind beim polizei- und ordnungsrechtlichen Verwaltungszwang zwei Verfahrensarten zu unterscheiden: zum einen das sog. gestufte bzw. gestreckte Zwangsverfahren und zum anderen der sog. Sofortvollzug.

351

In polizei- und ordnungsrechtlichen Fallbearbeitungen ist oft die Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme in einem der beiden Zwangsverfahren gutachterlich zu prüfen. Daher wollen wir uns mit der Rechtmäßigkeit von Zwangsmaßnahmen sowohl im gestreckten Zwangsverfahren als auch im Sofortvollzug im Folgenden näher beschäftigen.

II. Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im gestreckten Zwangsverfahren

352

Die Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im gestreckten Zwangsverfahren prüfen Sie wie folgt:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im gestreckten Zwangsverfahren

I.

Ermächtigungsgrundlage für die Zwangsmaßnahme

 

II.

Formelle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

 

 

1.

Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde

 

 

2.

Verfahren

 

III.

Materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

 

 

1.

Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im gestreckten Verfahren

 

 

 

a)

Materiell vollstreckbarer, wirksamer Grundverwaltungsakt

 

 

 

b)

Unanfechtbarkeit des Grundverwaltungsaktes oder fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels

 

 

 

c)

Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsaktes (str.)

 

 

 

 

 

Zulässigkeitsvoraussetzung?

Rn. 366

 

2.

Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels

 

 

3.

Ordnungsgemäße Art und Weise der Anwendung des Verwaltungszwangs

 

 

 

a)

Androhung des Zwangsmittels

 

 

 

b)

Festsetzung des Zwangsmittels

 

 

 

 

 

Entbehrlichkeit der Festsetzung des Zwangsmittels im Falle des Verzichts des Betroffenen?

Rn. 372

 

 

c)

Anwendung des Zwangsmittels

 

 

4.

Ermessen

 

 

 

a)

Entschließungsermessen

 

 

 

b)

Handlungsermessen

 

 

 

c)

Auswahlermessen

 

Expertentipp

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Das Prüfungsschema dient Ihrer Orientierung. Arbeiten Sie es in Gedanken vollständig ab, erörtern Sie in Ihrer Falllösung aber nur diejenigen Prüfungspunkte, die nach dem Sachverhalt Ihres Falles problematisch sind. Unproblematische Punkte können Sie kurz – und dann auch ruhig im Urteilsstil – abhandeln.

353

Den richtigen Einstieg in Ihre Fallbearbeitung finden Sie mit Hilfe eines möglichst präzise formulierten Obersatzes. Wie der Obersatz zu formulieren ist, hängt von der konkreten Fallkonstellation ab. Bei Vollstreckungsfällen kommt es häufig vor, dass sich die Maßnahmen der Polizei bzw. der Ordnungsverwaltung bereits erledigt haben. In diesem Falle will der Betroffene nachträglich wissen, ob die polizei- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen rechtmäßig waren. Wenn eine solche Fallkonstellation prozessual eingekleidet ist, können die Erfolgsaussichten einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO (ggf. analog) zu prüfen sein.

354

Die Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im gestreckten Zwangsverfahren prüfen Sie jedenfalls in drei Schritten:

 

1. Ermächtigungsgrundlage für die Zwangsmaßnahme

355

Im ersten Schritt benennen Sie die einschlägige Ermächtigungsgrundlage. Wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes bedarf auch die Vollstreckung gefahrenabwehrrechtlicher Verfügungen einer formell-gesetzlichen Ermächtigungsrundlage. Ermächtigungsgrundlagen sind für die Ordnungsverwaltung § 55 Abs. 1 VwVG NRW in Verbindung mit den Vorschriften über das jeweils einschlägige Zwangsmittel bzw. für die Polizei § 50 Abs. 1 PolG NRW in Verbindung mit den Vorschriften über das jeweils einschlägige Zwangsmittel.

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Die Ermächtigungsgrundlage z.B. einer ordnungsrechtlichen Ersatzvornahme ist daher § 55 Abs. 1 i.V.m. §§ 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 VwVG NRW. Sie nennen also zuerst die einschlägige Norm, die zum gestreckten Verwaltungszwang ermächtigt, danach das einschlägige Zwangsmittel aus der abschließenden Aufzählung in § 57 Abs. 1 VwVG NRW und schließlich die einschlägige Vorschrift, die das betreffende Zwangsmittel näher regelt.

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

356

Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die Zwangsmaßnahme formell rechtmäßig ist. Die formelle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme untersuchen Sie ihrerseits regelmäßig in zwei Schritten:

a) Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde

357

Zuerst prüfen Sie die Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde.

Expertentipp

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Lesen Sie § 56 VwVG NRW!

Bei einer ordnungsrechtlichen Zwangsmaßnahme ist grundsätzlich die Behörde zuständig, die die Grundverfügung erlassen hat (vgl. § 56 Abs. 1 VwVG NRW). Im Gegensatz zum Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW enthält der Vierte Abschnitt des Polizeigesetzes NRW, in dem der polizeiliche Zwang geregelt ist, keine Bestimmungen in Bezug auf die zuständige Vollstreckungsbehörde. Daher sind die allgemeinen Vorschriften des Polizeiorganisationsgesetzes NRW heranzuziehen.

b) Verfahren

358

Danach untersuchen Sie die Einhaltung des Verfahrens. Von besonderer Relevanz ist dabei, dass eine Anhörung des Betroffenen grundsätzlich entbehrlich ist (vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW).

3. Materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

359

Im dritten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die Zwangsmaßnahme materiell rechtmäßig ist. Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit untersuchen Sie, ob die Zwangsmaßnahme inhaltlich mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang steht. Die materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme prüfen Sie in vier Schritten:

a) Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im gestreckten Verfahren

360

Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob der Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren überhaupt zulässig ist.

Expertentipp

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Lesen Sie zunächst noch einmal § 55 Abs. 1 VwVG NRW und § 50 Abs. 1 PolG NRW!

Die Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im gestreckten Verfahren ist in § 55 Abs. 1 VwVG NRW und in § 50 Abs. 1 PolG NRW geregelt. Danach kann ein Verwaltungsakt, der auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, wenn er unanfechtbar ist oder wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.

aa) Materiell vollstreckbarer, wirksamer Grundverwaltungsakt

361

Nach dem Wortlaut des § 55 Abs. 1 VwVG NRW bzw. des § 50 Abs. 1 PolG NRW muss ein Verwaltungsakt vorliegen, der auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, d.h. es muss ein Verwaltungsakt mit verfügender Regelung gegeben sein. Feststellende oder rechtsgestaltende Verwaltungsakte sind demgegenüber nicht materiell vollstreckbar.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 252.

362

Außerdem muss die durchzusetzende Grundverfügung wirksam sein, d.h. Rechtswirkungen entfalten. Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unbeachtlich (vgl. § 43 Abs. 3 VwVfG NRW) und kann nicht durchgesetzt werden.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 527.

bb) Unanfechtbarkeit des Grundverwaltungsaktes oder fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels

363

Expertentipp

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Wiederholen Sie ggf. zunächst die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes im Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“!

Die durchzusetzende Grundverfügung muss unanfechtbar, d.h. formell bestandskräftig, sein. Formelle Bestandskraft bedeutet, dass in der durch den Verwaltungsakt geregelten Angelegenheit nach den einschlägigen Vorschriften keine ordentlichen Rechtsbehelfe mehr gegeben sind, sei es, weil alle möglichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind, sei es, weil die Rechtsbehelfsfristen abgelaufen sind.

Vgl. dazu Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 43 Rn. 20, 23 ff.

364

Expertentipp

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Wiederholen Sie ggf. zunächst den Suspensiveffekt nach § 80 Abs. 1 VwGO im Skript „Verwaltungsprozessrecht“!

Ist die durchzusetzende Grundverfügung noch nicht unanfechtbar, kommt eine zwangsweise Durchsetzung der Grundverfügung nur in Betracht, wenn ein Rechtsmittel gegen die Grundverfügung keine aufschiebende Wirkung hat, d.h. die Grundverfügung sofort vollziehbar ist. Widerspruch und Anfechtungsklage haben grundsätzlich aufschiebende Wirkung (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO). Ihre aufschiebende Wirkung entfällt nur in den in § 80 Abs. 2 VwGO genannten Fällen. Im Polizei- und Ordnungsrecht sind insoweit vor allem § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 2 und 4 VwGO relevant.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 529 f.

365

Die Unanfechtbarkeit oder die fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels muss in dem Zeitpunkt vorliegen, in dem der Adressat der Grundverfügung die geforderte Handlung, Duldung oder Unterlassung vornehmen soll. Andernfalls erweist sich die Zwangsmittelfestsetzung als rechtswidrig. Das gilt auch dann, wenn die Zwangsmittelandrohung zum Zeitpunkt der Festsetzung bereits bestandskräftig ist. Insoweit kommt der Androhung keine „abschichtende“ Wirkung zu, weil die allgemeinen Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Verwaltungszwangs auch für die Festsetzung erfüllt sein müssen.

Vgl. OVG NRW NVwZ-RR 2013, 172.

cc) Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsaktes (str.)

366

Ob die Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsaktes Zulässigkeitsvoraussetzung für ein Zwangsverfahren ist, ist umstritten. Die h.M., zu der auch das Bundesverwaltungsgericht gehört, steht auf dem Standpunkt, dass es niemals auf die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung ankomme; sie beruft sich vor allem auf den Wortlaut des § 55 Abs. 1 VwVG NRW bzw. § 50 Abs. 1 PolG NRW.

Vgl. BVerwG NVwZ 2009, 122. Die Gegenansicht fordert stets die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung und begründet ihre Auffassung damit, dass andernfalls das Unrecht aus der Grundverfügung durch ihre Vollstreckung „vertieft“ werde.Vgl. Knemeyer Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 358. Nach einer vermittelnden Ansicht ist die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung nur erforderlich, solange die Grundverfügung noch nicht unanfechtbar ist, weil in diesem Falle ein „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ zwischen der Grundverfügung und deren Durchsetzung bestehe.Vgl. Würtenberger in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Band II Kap. 7/1 Rn. 247 f.

Expertentipp

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Um festzustellen, ob der Meinungsstreit in Ihrer Fallbearbeitung relevant ist, müssen Sie die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung prüfen. Erweist sich die Grundverfügung als rechtmäßig, brauchen Sie den Meinungsstreit nicht zu entscheiden. Anders sieht es aber aus, wenn Ihre Prüfung ergibt, dass die Grundverfügung rechtswidrig ist. Für die h.M. dürfte die Effektivität der Gefahrenabwehr sprechen, die beeinträchtigt werden könnte, wenn vor einer Zwangsmaßnahme zunächst die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung geprüft werden müsste.

 

b) Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels

367

Im zweiten Schritt untersuchen Sie, ob die Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels (Ersatzvornahme, Zwangsgeld, unmittelbarer Zwang) nach §§ 59 bis 62 VwVG NRW bzw. §§ 51 bis 55 PolG NRW vorliegen.

c) Ordnungsgemäße Art und Weise des Verwaltungszwangs

368

Im dritten Schritt prüfen Sie, ob die Art und Weise des Verwaltungszwangs ordnungsgemäß war.

Expertentipp

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Lesen Sie §§ 63, 69 VwVG NRW und §§ 56, 61 PolG NRW!

aa) Androhung des Zwangsmittels

369

Im gestreckten Zwangsverfahren muss das Zwangsmittel dem Betroffenen regelmäßig zunächst angedroht werden (vgl. §§ 63, 69 VwVG NRW, §§ 56, 61 PolG NRW). Bei der Zwangsmittelandrohung handelt es sich um einen eigenständigen belastenden Verwaltungsakt,

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 247. der selbständig mit Rechtsbehelfen angegriffen werden kann. Er kann mit der Grundverfügung verbunden werden (vgl. §§ 63 Abs. 2 VwVG NRW, § 56 Abs. 2 PolG NRW). Eine ordnungsbehördliche Androhung muss immer schriftlich erfolgen (vgl. § 63 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW; s. aber auch § 69 Abs. 2 VwVG NRW), während eine polizeiliche Androhung gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 PolG NRW nur „möglichst“ schriftlich erfolgen soll (s. aber auch § 61 PolG NRW). Die Zwangsmittelandrohung muss sich auf ein konkretes Zwangsmittel bzw. ein Zwangsgeld in bestimmter Höhe beziehen und grundsätzlich eine angemessene Frist zur Erfüllung setzen (vgl. § 63 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 VwVG NRW, § 56 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 PolG NRW). Vor Erlass einer Zwangsmittelandrohung ist grundsätzlich keine Anhörung des Betroffenen erforderlich (vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW). Rechtsbehelfe gegen die Zwangsmittelandrohung haben gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 S. 1 JustG NRWJustizgesetz Nordrhein-Westfalen. bzw. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO keine aufschiebende Wirkung.

bb) Festsetzung des Zwangsmittels

370

Expertentipp

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Lesen Sie § 64 S. 1 VwVG NRW!

Gemäß § 64 S. 1 VwVG NRW muss das angedrohte Zwangsmittel im ordnungsrechtlichen Zwangsverfahren stets festgesetzt werden, wenn die in der Androhung gesetzte Frist zur Erfüllung der auferlegten Verpflichtung nicht eingehalten wird. Im polizeirechtlichen Zwangsverfahren ist eine Festsetzung des angedrohten Zwangsmittels dagegen grundsätzlich nicht vorgesehen. Etwas anderes gilt gemäß § 53 Abs. 1 PolG NRW nur für das Zwangsgeld.

Hinweis

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Merken Sie sich diesen wesentlichen Unterschied zwischen dem polizeirechtlichen und dem ordnungsrechtlichen gestreckten Zwangsverfahren! Auch wenn die Festsetzung des Zwangsmittels im Polizeigesetz NRW grundsätzlich nicht vorgesehen ist, wird sie gleichwohl als sog. „minus-Maßnahme“ gegenüber der sofortigen Anwendung des Zwangsmittels zumindest für zulässig erachtet. Eine solche Festsetzung ist jedoch mangels Regelung i.S.d. § 35 VwVfG NRW kein Verwaltungsakt, sondern ein Realakt.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 250.

371

Die Festsetzung beinhaltet die Anordnung, dass das angedrohte Zwangsmittel zur Anwendung kommt, und muss unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen.

Vgl. OVG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 3.5.2016 – 2 M 6/16 – juris. Wie die vorangegangene Androhung des Zwangsmittels handelt sich bei der Festsetzung des Zwangsmittels um ein Beugemittel, das – wie die Androhung des Zwangsmittels – grundsätzlich nicht mehr angewendet werden darf, wenn der Betroffene die ihm in der Grundverfügung auferlegte Verpflichtung erfüllt. Die Festsetzung ist Bestandteil des Zwangsverfahrens und ein eigenständiger belastender Verwaltungsakt, der selbständig mit Rechtsbehelfen angegriffen werden kann. Wie bei der Androhung des Zwangsmittels (s.o. Rn. 369) ist vor Erlass der Zwangsmittelfestsetzung grundsätzlich keine Anhörung des Betroffenen erforderlich (vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW). Rechtsbehelfe gegen die Zwangsmittelfestsetzung haben keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 S. 1 JustG NRW bzw. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO).

372

Umstritten ist, ob die an sich stets erforderliche Festsetzung des Zwangsmittels entbehrlich ist, wenn der Betroffene auf die Festsetzung des Zwangsmittels verzichtet.

Beispiel

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Wie oben (Rn. 331). P erklärt nach der Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 100 € gegenüber der Stadt E nachdrücklich, dass er die angeforderten Auskünfte auf keinen Fall erteilen wird. Die Stadt E treibt daraufhin sofort 100 € bei. Eine vorherige Festsetzung des Zwangsgeldes hält sie für reine Förmelei, nachdem P klar zu erkennen gegeben habe, dass er die Auskünfte nicht erteilen werde. Konnte die Stadt E zu Recht von der Festsetzung absehen? – Unter Zugrundelegung der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts konnte die Stadt E von der Festsetzung des Zwangsgeldes absehen. Das Bundesverwaltungsgericht steht auf dem Standpunkt, dass der Betroffene auf den durch die Zwangsmittelfestsetzung gewährten Schutz verzichten kann. Seinen Standpunkt begründet das Gericht vor allem damit, dass der mit der gesetzlichen Regelung verfolgte Zweck einer Zwangsmittelfestsetzung jedenfalls dann nicht verfehlt werde, wenn der Betroffene von Anfang an oder während des Laufs der Androhungsfrist ernstlich und endgültig erkläre, dass er – aus welchen Gründen auch immer – die Grundverfügung weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe Dritter erfüllen werde. Er bringe zum Ausdruck, dass er die weitere Initiative der Vollstreckungsbehörde überlasse, und verzichte damit stillschweigend auf die Schutzmöglichkeiten, die eine förmliche Festsetzung an sich zu bieten geeignet sei.

BVerwG NVwZ 1997, 381.

Der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts wird insbesondere der Gesetzeswortlaut entgegengehalten, nach dem die Festsetzung eines Zwangsmittels im gestreckten Verfahren stets erfolgen müsse (vgl. § 64 S. 1 VwVG NRW) und eine Ausnahme hiervon allein für den Sofortvollzug gelte (vgl. § 64 S. 2 VwVG NRW). Daher komme eine Anwendung des § 46 VwVfG NRW von vornherein nicht in Betracht. Außerdem wird gegen die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts vorgebracht, dass es der Ordnungsverwaltung unbenommen bleibe, jederzeit von dem gestreckten Zwangsverfahren in den Sofortvollzug zu wechseln.

Vgl. zum Ganzen Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 249. Nach dieser Auffassung kommt ein konkludenter Verzicht des P nicht in Betracht. Die Stadt E hätte hiernach das Zwangsgeld zuerst festsetzen müssen, bevor sie die angedrohten 100 € beitreibt. Mangels Festsetzung des Zwangsgeldes ist das Vorgehen der Stadt E hiernach rechtswidrig.

Expertentipp

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Angesichts des Wortlauts des § 64 VwVG NRW dürfte die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts in der Tat nicht tragfähig sein. In der Fallbearbeitung dürfte es daher empfehlenswert sein, der Gegenauffassung zu folgen.

cc) Anwendung des Zwangsmittels

373

Expertentipp

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Lesen Sie § 65 VwVG NRW!

Im ordnungsrechtlichen Zwangsverfahren wird das festgesetzte Zwangsmittel der Festsetzung gemäß angewendet (vgl. § 65 Abs. 1 VwVG NRW; s. auch §§ 66 ff. VwVG NRW). Im polizeirechtlichen Zwangsverfahren findet sich keine vergleichbare allgemeine Bestimmung; bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs sind hier jedoch §§ 57 ff. PolG NRW zu beachten (vgl. § 55 Abs. 1 S. 2 PolG NRW). Bei der Anwendung von Zwangsmitteln handelt es sich um Realakte.

Vgl. Ramsauer in: Kopp/Ramsauer, VwVfG § 35 Rn. 113 (str.).

Expertentipp

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Will sich der Betroffene gegen die Realakte zur Wehr setzen, kann er eine vorbeugende Unterlassungsklage (Unterfall der allgemeinen Leistungsklage) erheben. Nach Beendigung einer Zwangsmittelanwendung kommt eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO in Betracht.

374

Leistet der Betroffene bei der Ersatzvornahme oder bei unmittelbarem Zwang Widerstand, kann dieser gemäß § 65 Abs. 2 S. 1 VwVG NRW gebrochen werden. Dabei kann die Polizei auf Verlangen Vollzugshilfe leisten (vgl. hierzu § 65 Abs. 2 Sätze 2 ff. VwVG NRW).

375

Expertentipp

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Lesen Sie § 65 Abs. 3 VwVG NRW!

Gemäß § 65 Abs. 3 VwVG NRW ist der Vollzug einer Zwangsmittelanwendung allerdings einzustellen, sobald der Zweck des Vollzugs erreicht ist (§ 65 Abs. 3 lit. a VwVG NRW), d.h. insbesondere sobald der Betroffene die ihm auferlegte Pflicht erfüllt hat, des Weiteren wenn dem Betroffenen die Erfüllung der zu erzwingenden Leistung unmöglich geworden ist (§ 65 Abs. 3 lit. b VwVG NRW), d.h. wenn der Betroffene die ihm auferlegte Pflicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht erfüllen kann, und schließlich, wenn die Vollstreckungsvoraussetzungen nachträglich weggefallen sind, wobei § 60 Abs. 3 VwVG NRW unberührt bleibt (§ 65 Abs. 3 lit. c VwVG NRW).

d) Ermessen

376

Im vierten Schritt prüfen Sie, ob die Polizei bzw. die Ordnungsverwaltung das ihr nach § 55 Abs. 1 VwVG NRW bzw. § 50 Abs. 1 PolG NRW eingeräumte Ermessen im Einklang mit § 40 VwVfG NRW ausgeübt hat. Die Polizei und die Ordnungsverwaltung besitzen insoweit ein Entschließungs-, ein Handlungs- und ein Auswahlermessen.

Expertentipp

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Beachten Sie hierbei den eingeschränkten Prüfungsmaßstab eines Gerichts nach § 114 VwGO, wenn Sie die Erfolgsaussichten einer Klage gegen eine Zwangsmaßnahme prüfen.

377

Expertentipp

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Lesen Sie § 58 VwVG NRW!

Neben der notwendigen Bestimmtheit einer Zwangsmaßnahme ist vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz von besonderer Bedeutung, der im ordnungsrechtlichen Zwangsverfahren in § 58 VwVG NRW ausdrücklich geregelt ist. Untersuchen Sie daher stets, ob der Rückgriff auf das Zwangsverfahren sowie die Auswahl und Anwendung des Zwangsmittels verhältnismäßig sind.Vgl. zum u.U. intendierten Ermessen bei der Festsetzung von Zwangsgeldern VGH BW NVwZ-RR 2020, 297.

III. Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug

378

Unter bestimmten Voraussetzungen können die Polizei und die Ordnungsverwaltung ein Zwangsmittel anwenden, ohne zuvor eine Grundverfügung erlassen, diese angedroht und festgesetzt zu haben. Selbst bei Vorliegen einer Grundverfügung können die Polizei und die Ordnungsverwaltung die Grundverfügung im Sofortvollzug durchsetzen, wenn deren Voraussetzungen vorliegen. Dies wird aus einem erst-recht-Schluss gefolgert: Wenn der Sofortvollzug schon ohne Vorliegen einer Grundverfügung zulässig ist, muss er erst recht zulässig sein, wenn eine Grundverfügung bereits vorliegt.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 536. Der Sofortvollzug ist insbesondere für die Ersatzvornahme und den unmittelbaren Zwang relevant.Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 254. Beim Sofortvollzug handelt es sich regelmäßig um einen Realakt.Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 254.

Expertentipp

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Da eine dem § 18 Abs. 2 BVwVG entsprechende Bestimmung im VwVG NRW nicht existiert, kann sich der Betroffene gegen im Sofortvollzug auf der Grundlage des VwVG NRW vorgenommener Realakt mit Hilfe einer vorbeugenden Unterlassungsklage (Unterfall der allgemeinen Leistungsklage) und nach Beendigung einer Zwangsmittelanwendung mittels Feststellungsklage nach § 43 VwGO wehren.

379

Die Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug prüfen Sie wie folgt:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug

I.

Ermächtigungsgrundlage für die Zwangsmaßnahme

II.

Formelle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

 

1.

Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde

 

2.

Verfahren

III.

Materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

 

1.

Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im Sofortvollzug

 

 

a)

Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr

 

 

b)

Notwendigkeit des Sofortvollzugs zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr

 

 

c)

Handeln der Vollstreckungsbehörde „innerhalb ihrer Befugnisse“

 

2.

Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels

 

3.

Ordnungsgemäße Art und Weise des Verwaltungszwangs

 

 

a)

Androhung des Zwangsmittels

 

 

b)

Anwendung des Zwangsmittels

 

4.

Ermessen

 

 

a)

Entschließungsermessen

 

 

b)

Handlungsermessen

 

 

c)

Auswahlermessen

Expertentipp

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Das Prüfungsschema dient Ihrer Orientierung. Arbeiten Sie es in Gedanken vollständig ab, erörtern Sie in Ihrer Falllösung aber nur diejenigen Prüfungspunkte, die nach dem Sachverhalt Ihres Falles problematisch sind. Unproblematische Punkte können Sie kurz – und dann auch ruhig im Urteilsstil – abhandeln.

380

Den richtigen Einstieg in Ihre Prüfung finden Sie mit einem möglichst präzise formulierten Obersatz (vgl. dazu bereits oben Rn. 353).

381

Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug ähnelt im Ansatz der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im gestreckten Verfahren. Im Einzelnen untersuchen Sie die Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug in drei Schritten:

 

1. Ermächtigungsgrundlage

382

Expertentipp

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Lesen Sie § 55 Abs. 2 VwVG NRW und § 50 Abs. 2 PolG NRW!

Im ersten Schritt nennen Sie die einschlägige Ermächtigungsgrundlage. Die nach dem rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes auch für den Sofortvollzug erforderliche Ermächtigungsgrundlage findet sich für den ordnungsrechtlichen Sofortvollzug in § 55 Abs. 2 VwVG NRW in Verbindung mit dem jeweils einschlägigen Zwangsmittel und für den polizeilichen Sofortvollzug in § 50 Abs. 2 PolG NRW in Verbindung mit dem jeweils einschlägigen Zwangsmittel.

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

383

Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die Zwangsmaßnahme formell rechtmäßig ist. Dabei gehen Sie in zwei Schritten vor:

a) Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde

384

Zuerst prüfen Sie die Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde unter Rückgriff auf § 56 Abs. 1 VwVG NRW bzw. das POG NRW (vgl. oben Rn. 357). Da im Sofortvollzug aber grundsätzlich noch keine Grundverfügung erlassen wurde, legen Sie die einschlägige Zuständigkeitsbestimmung dahingehend aus, dass diejenige Behörde für den Sofortvollzug zuständig ist, die eine entsprechende Grundverfügung erlassen dürfte.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 539.

b) Verfahren

385

Danach untersuchen Sie die Einhaltung des Verfahrens. Da es sich beim Sofortvollzug regelmäßig um einen Realakt handelt (s.o. Rn. 378), kommt eine Anhörung i.S.d. § 28 Abs. 1 VwVfG NRW – anders als im gestreckten Verfahren (s.o. Rn. 358) – grundsätzlich nicht in Betracht; jedenfalls wäre sie – wie im gestreckten Verfahren – regelmäßig entbehrlich.

3. Materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme

Im dritten Schritt untersuchen Sie die materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme. Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit untersuchen Sie, ob die Zwangsmaßnahme inhaltlich mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang steht. Die materielle Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme prüfen Sie in vier Schritten:

a) Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im Sofortvollzug

386

Im ersten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob der Verwaltungszwang im Sofortvollzug überhaupt zulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NRW und § 50 Abs. 2 PolG NRW kann der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Vollzugsbehörde hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt (§ 55 Abs. 2 VwVG NRW) bzw. wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist, insbesondere weil Maßnahmen gegen Personen nach den §§ 4 bis 6 PolG NRW nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen, und die Polizei hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt (§ 50 Abs. 2 PolG NRW).

aa) Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr

387

Der Sofortvollzug setzt demnach zunächst das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr voraus.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 543; einschränkend OVG NRW NVwZ-RR 2008, 437. Wann eine gegenwärtige Gefahr vorliegt, wurde bereits oben (Rn. 266) erörtert; auf die dortigen Ausführungen wird verwiesen.

bb) Notwendigkeit des Sofortvollzugs zur Abwehr einer Gefahr

388

Der Sofortvollzug muss des Weiteren zur Abwehr einer Gefahr notwendig sein. Dies ist der Fall, wenn der Zweck der Maßnahme im gestreckten Verfahren selbst bei größtmöglicher Beschleunigung nicht erreichbar wäre.

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 544. Für das Abschleppen eines von Amts wegen stillgelegten Fahrzeuges, das auf einem regulären Parkplatz steht, wird die Notwendigkeit des Sofortvollzuges grundsätzlich verneint, weil ein sofortiges Handeln mangels Verkehrsbehinderung oder anderer Gefahren nicht notwendig sei. Vgl. VG Düsseldorf Urteil vom 21.6.2016 – 14 K 6661/15 – juris (nachfolgend OVG NRW NWVBl 2018, 168); VG Düsseldorf Urteil vom 5.3.2014 – 14 K 6956/13 – juris.

cc) Handeln der Vollstreckungsbehörde innerhalb ihrer Befugnisse

389

Schließlich muss die Vollstreckungsbehörde beim Sofortvollzug innerhalb ihrer Befugnisse handeln. Innerhalb ihrer Befugnisse handelt die Vollstreckungsbehörde, wenn sie berechtigt wäre, gegenüber dem Betroffenen einen Verwaltungsakt mit dem Inhalt zu erlassen, den sie im Rahmen des Sofortvollzuges durchsetzt (sog. „Rechtmäßigkeit einer hypothetischen Grundverfügung“).

Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 542.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung prüfen Sie dementsprechend die Rechtmäßigkeit der hypothetischen Grundverfügung, d.h. des Verwaltungsaktes, der auf die Vornahme einer Handlung oder Duldung oder Unterlassung gerichtet ist und den die Polizei bzw. die Ordnungsverwaltung zwangsweise durchsetzen will. Hierzu orientieren Sie sich an dem Prüfungsschema oben oben Rn. 58.

b) Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels

390

Im zweiten Schritt untersuchen Sie, ob die Vollstreckungsvoraussetzungen des konkreten Zwangsmittels vorliegen (vgl. oben Rn. 367 ff.).

c) Ordnungsgemäße Art und Weise des Verwaltungszwangs

391

Im dritten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die Art und Weise des Verwaltungszwangs ordnungsgemäß war. Anders als im gestreckten Verfahren (s.o. Rn. 369 f.) sind im Sofortvollzug eine Androhung des Zwangsmittels und eine grundsätzlich nur im ordnungsrechtlichen Zwangsverfahren vorgesehene Festsetzung nicht notwendig (vgl. §§ 63 Abs. 1 S. 5, 64 S. 2 VwVG NRW, § 56 Abs. 1 S. 3 PolG NRW).

d) Ermessen

392

Im vierten Schritt untersuchen Sie, ob das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde (vgl. oben Rn. 376 f.).

IV. Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides nach § 77 VwVG NRW

1. Überblick

393

Neben der Frage der Rechtmäßigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen im gestreckten Zwangsverfahren oder im Sofortvollzug ist auch die Frage der Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides nach § 77 VwVG NRW prüfungsrelevant.

Expertentipp

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Lesen Sie § 77 VwVG NRW!

 

Gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW werden Kosten (Gebühren und Auslagen) für Amtshandlungen nach dem VwVG NRW nach näherer Bestimmung einer Kostenordnung

S. Teil 4 der VO VwVG NRW. vom Vollstreckungsschuldner oder dem Pflichtigen erhoben. Das Kostenerhebungsverfahren findet grundsätzlich nach dem Abschluss des Zwangsverfahrens statt und bildet ein gegenüber dem Zwangsverfahren eigenständiges Verwaltungsverfahren i.S.d. § 9 VwVfG NRW, das mit dem Erlass des Kostenbescheides endet. Ausnahmsweise kann die Ordnungsverwaltung auch im Voraus die Kosten für eine Amtshandlung nach dem VwVG NRW erheben.

Beispiel

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Z wurde von der Bauaufsichtsbehörde der Stadt K aufgefordert, eine ohne Baugenehmigung errichtete Doppelgarage auf seinem Grundstück abzureißen. Z denkt gar nicht daran und kommt der Aufforderung der Behörde nicht nach. Die Behörde leitet eines Tages ein Zwangsverfahren gegen Z ein und droht ihm eine Ersatzvornahme an. Kurz darauf erhält Z einen Kostenbescheid der Behörde, nach dem er die voraussichtlichen Kosten des Abrisses im Voraus an die Behörde zahlen soll. Z ist empört und hält den Bescheid für rechtswidrig. Zu Recht? – Nein, gemäß § 59 Abs. 2 S. 1 VwVG NRW kann bestimmt werden, dass der Betroffene die voraussichtlichen Kosten einer Ersatzvornahme im Voraus zu zahlen hat. Erfolgt die Zahlung nicht fristgerecht, können die Kosten beigetrieben werden.

394

Im Gegensatz zum VwVG NRW gibt es im Polizeigesetz NRW keine Regelungen über die Kosten einer Zwangsmaßnahme nach dem PolG NRW. Allerdings wird in § 46 Abs. 3 S. 3 PolG NRW und in § 52 Abs. 1 S. 2 PolG NRW auf § 77 VwVG NRW verwiesen. Bei einer Sicherstellung und einer Ersatzvornahme können also Kosten vom Pflichtigen erhoben werden. Bei den anderen Zwangshandlungen nach dem PolG NRW kommt die Erhebung von Kosten gegenüber dem Pflichtigen mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen nicht in Betracht.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 259 (str.).

395

Die Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides nach § 77 VwVG NRW prüfen Sie wie folgt:

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 262.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides nach § 77 VwVG NRW

I.

Ermächtigungsgrundlage für den Kostenbescheid

II.

Formelle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides

 

1.

Zuständigkeit

 

2.

Verfahren

 

3.

Form

 

4.

Begründung

 

5.

Bekanntgabe

III.

Materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides

 

1.

Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Amtshandlung

 

2.

Erstattungsfähigkeit der erhobenen Kosten

 

3.

Fälligkeit der erhobenen Kosten

 

4.

Ermessen

Expertentipp

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Denken Sie auch bei diesem Prüfungsschema daran, dass es lediglich Ihrer Orientierung dient. Erörtern Sie in der Fallbearbeitung nur die Punkte, die nach den Angaben des Sachverhalts problematisch sind; unproblematische Punkte können Sie kurz – und dann ruhig auch im Urteilsstil – abhandeln.

396

Den richtigen Einstieg in die Rechtmäßigkeitsprüfung finden Sie über einen möglichst präzise formulierten Obersatz, der je nach Fallkonstellation unterschiedlich formuliert werden muss. Wenn Sie es in der Fallbearbeitung – wie es dem Regelfall entspricht – die Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage gegen einen Kostenbescheid zu prüfen haben, könnte der Obersatz der Rechtmäßigkeitsprüfung im Rahmen der Begründetheit der Klage wie folgt lauten: „Der Kostenbescheid der … (hier die betreffende Behörde nennen) ist rechtmäßig, wenn und soweit er auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruht sowie formell und materiell rechtmäßig ist“.

Hinweis

Hier klicken zum AusklappenKosten, die auf der Grundlage des § 77 VwVG NRW erhoben werden, stellen nach h.M. keine „öffentlichen Abgaben oder Kosten“ i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO dar. Grundsätzlich hat eine Anfechtungsklage gegen einen Kostenbescheid demgemäß nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Abweichend hiervon, sieht § 59 Abs. 1 S. 2 VwVG NRW für Kostenbescheide zur Abrechnung einer Ersatzvornahme jedoch vor, dass entsprechende Kostenanforderungen sofort vollziehbar sind.Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 259.

397

Die Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides prüfen Sie in drei Schritten:

2. Ermächtigungsgrundlage für den Kostenbescheid

398

Im ersten Schritt arbeiten Sie die einschlägige Ermächtigungsgrundlage für den Kostenbescheid heraus. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Kostenbescheides für Zwangsmaßnahmen nach dem VwVG NRW ist § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW i.V.m. §§ 8 ff. VO VwVG NRW. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Kostenbescheides für eine polizeiliche Sicherstellung oder Ersatzvornahme ist § 46 Abs. 3 S. 3 bzw. § 52 Abs. 1 S. 2 PolG NRW i.V.m. § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW i.V.m. §§ 8 ff. VO VwVG NRW.

Expertentipp

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Welche Bestimmung der VO VwVG NRW einschlägig ist, hängt davon ab, welche Kosten (Gebühren und Auslagen) erstattet verlangt werden. Prüfungsrelevant ist vor allem § 20 Abs. 2 Nr. 7 VO VwVG NRW.

3. Formelle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides

399

Im zweiten Schritt untersuchen Sie die formelle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides. Hierbei gehen Sie regelmäßig wie folgt vor:

a) Zuständigkeit

400

Zunächst erörtern Sie die Frage, wer für den Erlass des Kostenbescheides zuständig ist. Kostengläubiger ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 2 VwVG NRW der Rechtsträger, dessen Behörde die Amtshandlung vornimmt, bei Auslagen auch der Rechtsträger, bei dessen Behörde die Auslagen entstanden sind.

Beispiel

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Wie oben (Rn. 393). Nach Androhung und Festsetzung der Ersatzvornahme beauftragt die Bauaufsichtsbehörde ein Unternehmen, das die Doppelgarage des Z eines Morgens abreißt. Z erhält kurz darauf einen Kostenbescheid der Stadt K, in dem er aufgefordert wird, den für die Ersatzvornahme aufgewendeten Betrag zu begleichen. – Als Rechtsträger ist die Stadt K gemäß § 77 Abs. 1 S. 2 VwVG NRW Kostengläubigerin für den für die Ersatzvornahme aufgewendeten Betrag.

b) Verfahren

401

Sodann gehen Sie der Frage nach, ob das Kostenerhebungsverfahren ordnungsgemäß verlaufen ist. Insbesondere gilt es dabei zu beachten, dass im Kostenerhebungsverfahren – anders als im Zwangsverfahren – eine vorherige Anhörung des Betroffenen gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG erforderlich ist.

c) Form

402

Anschließend untersuchen Sie die Einhaltung der Form des Kostenbescheides nach Maßgabe des § 37 Abs. 2 VwVfG NRW (s. dazu näher Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“).

d) Begründung

403

Danach gehen Sie der Frage nach, ob die Vollstreckungsbehörde den Kostenbescheid unter Beachtung des § 39 VwVfG NRW begründet hat (s. dazu näher Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“).

e) Bekanntgabe

404

Schließlich prüfen Sie, ob der Kostenbescheid ordnungsgemäß nach Maßgabe des § 41 VwVfG NRW bekanntgemacht wurde (s. dazu näher Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“).

4. Materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides

405

Im dritten Schritt untersuchen Sie die materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides. Dabei gehen Sie der Frage nach, ob der Kostenbescheid inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Die materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides prüfen Sie in vier Schritten:

a) Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Amtshandlung

406

Die zentrale Tatbestandsvoraussetzung für das Entstehen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 77 VwVG NRW ist das Vorliegen einer Amtshandlung.

Vgl. weitestgehend ebenso Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 260. Eine Amtshandlung i.S.d. § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW ist allein eine rechtmäßige Amtshandlung.Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 260 m.w.N.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung prüfen Sie an dieser Stelle also inzident die Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme, für die Kosten erhoben werden. Je nachdem, ob ein gestrecktes Zwangsverfahren oder ein Sofortvollzug vorliegt, orientieren Sie sich an dem entsprechenden Prüfungsschema oben (Rn. 352 oder Rn. 379).

b) Erstattungsfähigkeit der erhobenen Kosten

407

Sodann untersuchen Sie, ob die von der Vollstreckungsbehörde erhobenen Kosten nach § 77 Abs. 2 VwVG NRW i.V.m. §§ 8 ff. VO VwVG NRW erstattungsfähig sind. Prüfungsrelevant ist insoweit vor allem § 20 Abs. 2 VO VwVG NRW.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung werden Sie hinreichende Angaben im Sachverhalt finden, die Ihnen ein schnelles Auffinden der möglichen Kosten (Gebühren und Auslagen) erleichtert. Im Zweifel orientieren Sie an § 8 VO VwVG NRW, der als Eingangsbestimmung von Teil 4 Kapitel 1 VO VwVG NRW eine abschließende Aufzählung über die Gebührenarten enthält, und an den amtlichen Überschriften von Teil 4 Kapitel 2 VO VwVG NRW, um die einschlägigen Bestimmungen der VO VwVG NRW für die möglichen Kosten aufzufinden.

c) Fälligkeit der erhobenen Kosten

408

Anschließend gehen Sie der Frage nach, ob die erhobenen Kosten fällig sind. Hinsichtlich der prüfungsrelevanten Auslagen, die der Vollstreckungsbehörde im Rahmen der Ersatzvornahme oder der Sicherstellung entstanden sind, tritt Fälligkeit gemäß § 20 Abs. 4 S. 1 VO VwVG NRW mit der Entstehung der Auslagen ein.Vgl. auch OVG NRW NWVBl 2022, 31.

Beispiel

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Wie oben (Rn. 393). – Bei dem Betrag, den die Behörde an das private Abrissunternehmen bezahlen muss, handelt es sich um eine Auslage nach § 20 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 VO VwVG NRW, die mit der Durchführung der Ersatzvornahme entsteht und fällig wird (vgl. § 20 Abs. 4 S. 1 VO VwVG NRW).

d) Ermessen

409

Schließlich prüfen Sie, ob die Vollstreckungsbehörde bei Erlass des Kostenbescheides das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat (vgl. § 40 VwVfG NRW).

Vgl. hierzu die Überlegungen, dass es sich bei der Entscheidung über die Erhebung von Kosten nach § 77 VwVG NRW um eine Ermessensentscheidung handelt, Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 261.

Expertentipp

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Sofern Sie die Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides aus Sicht eines Gerichts prüfen, denken Sie bitte an den eingeschränkten Überprüfungsmaßstab des § 114 VwGO.

410

Die Vollstreckungsbehörde hat ein Entschließungs-, Handlungs- und Auswahlermessen. So kann die Vollstreckungsbehörde gemäß § 24 Abs. 2 VO VwVG NRW von der Berechnung und Beitreibung der Kosten z.B. ganz oder teilweise absehen, wenn es sich um geringfügige Beträge handelt oder wenn die Beitreibung der Kosten neue, nicht vertretbare Kosten verursachen würde. § 24 Abs. 2 VO VwVG NRW stellt damit erkennbar eine Härtefallregelung dar. Außerdem muss die Vollstreckungsbehörde den richtigen Kostenschuldner auswählen. Richtiger Kostenschuldner ist die Person, die die kostenpflichtige Amtshandlung veranlasst hat. Dazu gehören alle Personen, die nach dem Polizei- und Ordnungsrecht verhaltens- oder zustandsverantwortlich sind (s. dazu oben Rn. 288 ff.). Kein Kostenschuldner ist nach Ansicht des OVG Nordrhein-Westfalen jedoch eine Person, die Verdachtsstörer ist und die Umstände des Gefahrenverdachts nicht zurechenbar veranlasst hat.

Vgl. OVG NRW NVwZ 2001, 1314.

E. Übungsfall Nr. 2

411

„Halten verboten!“

O ist Eigentümer und Halter eines Pkw. An einem frühen Vormittag muss er vor der Arbeit in die Innenstadt von K fahren, um bei seiner Versicherung kurz eine Angelegenheit zu erledigen. Leider findet O in unmittelbarer Umgebung der Versicherung keinen freien Parkplatz. Da O in Eile ist, stellt er seinen Pkw ganz in der Nähe der Versicherung am Fahrbahnrand vor einem Haus ab, das sich in einem Bereich befindet, der durch ein eingeschränktes Halteverbot (VZ 286) mit dem Zusatzschild „Ladezone werktags 8–12 h“ ausgewiesen ist. Vorsorglich schreibt O seine Mobil-Nummer auf einen Zettel und legt den Zettel hinter die Frontscheibe am Beifahrersitz. Kurz nachdem O seinen Pkw verlassen hat, stellen Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt K einen Verkehrsverstoß fest. Die Außendienstmitarbeiter beobachten auch, dass etliche Lieferantenfahrzeuge wegen des Pkw von O nicht in der Ladezone parken können und dadurch gezwungen sind, ihren Lieferwagen auf der Fahrbahn abzustellen, was zu nicht unerheblichen Behinderungen des fließenden Straßenverkehrs führt. Nach ca. 25 Minuten erteilen die Außendienstmitarbeiter einen Abschleppauftrag. Sie sind dienstlich verpflichtet, bei Feststellung von Verkehrsverstößen ein privates Abschleppunternehmen zu beauftragen, das den abgeschleppten Pkw auf einen Abschlepphof verbringt. Den Zettel mit der Mobil-Nummer haben die Außendienstmitarbeiter zwar gesehen, die Nummer aber nicht angewählt, weil sie sich nicht hierzu verpflichtet fühlen. Ein freier Parkplatz in der Nähe ist nicht vorhanden. Nach ca. 10 Minuten trifft der Abschleppwagen ein. Als der Pkw des O bereits auf dem Abschleppwagen steht, kommt O zu seinem Parkplatz zurück und versucht – vergeblich – die Außendienstmitarbeiter davon zu überzeugen, seinen Pkw wieder abzuladen. Das Abschleppen sei unverhältnismäßig, weil er doch jetzt sofort wegfahre. Der Pkw des O wird auf einen Abschlepphof verbracht.

O ist mit dem Vorgehen des Ordnungsamtes der Stadt K nicht einverstanden. Zu Recht?

412

Lösung

Zu prüfen ist die Rechtmäßigkeit der Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K. Die Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K war rechtmäßig, wenn und soweit sie auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruht sowie formell und materiell rechtmäßig erfolgt ist.

I. Ermächtigungsgrundlage für die Abschleppmaßnahme

Aufgrund des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes bedarf die Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K einer gesetzlichen Grundlage. Fraglich ist, welche Ermächtigungsgrundlage für das Abschleppen des Pkw in Betracht kommt. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie die Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K rechtlich zu qualifizieren ist. Die rechtliche Qualifikation des Abschleppens von verbotswidrig abgestellten Pkw ist umstritten. Nach einer Ansicht handelt es sich hierbei um eine Sicherstellung i.S.d. § 43 PolG NRW i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG mit anschließender Verwahrung i.S.d. § 44 PolG NRW i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG. Die Sicherstellung eines Pkw sei notwendig, wenn der verbotswidrig abgestellte Pkw – wie hier – nicht auf einen freien Parkplatz in der Nähe umgesetzt werden könne. Nach dieser Ansicht wurde mit der Abschleppmaßnahme eine Sicherstellung mit anschließender Verwahrung durchgeführt.

Demgegenüber wird überwiegend vertreten, dass es sich beim Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Pkw um eine Zwangsmaßnahme handele. Unter den Vertretern dieser Ansicht ist jedoch umstritten, ob eine Ersatzvornahme oder ein unmittelbarer Zwang vorliegt. Überwiegend wird vertreten, dass grundsätzlich eine Ersatzvornahme i.S.d. § 59 VwVG NRW gegeben sei. Nur in dem – hier nicht einschlägigen – Ausnahmefall, dass der Pkw entzogen werden soll, weil der Pkw z.B. verkehrsuntauglich ist, liege eine Sicherstellung vor. Ziel der Entfernung des Pkw sei die Beendigung der Störung der öffentlichen Sicherheit, nicht jedoch – wie von der Gegenansicht angenommen – die Entziehung des Gewahrsams an den Pkw.

Vereinzelt wird allerdings angenommen, dass es sich beim Abschleppen um unmittelbaren Zwang i.S.d. § 62 VwVG NRW handele, weil ein Halte- oder Parkverbotsschild, das nach allgemeiner Auffassung eine Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 VwVfG NRW ist, lediglich ein sofort vollziehbares Verbot eines bestimmten Verhaltens enthalte. Mit dem Abschleppen des Pkw werde ein Wegschleppen des Pkw durchgesetzt. Die Rechtsprechung, zu der auch das Bundesverwaltungsgericht gehört, steht jedoch auf dem Standpunkt, dass ein Halte- oder Parkverbotsschild nicht nur ein sofort vollziehbares Verbot eines bestimmten Verhaltens, sondern gleichzeitig ein sofort vollziehbares Gebot, den Halte- oder Parkverbotsbereich zu verlassen, enthalte. Dieses Gebot werde im Wege der Ersatzvornahme durchgesetzt.

Nach dieser Ansicht wurde mit dem Abschleppen des Pkw des O eine Ersatzvornahme durchgeführt bzw. unmittelbarer Zwang angewendet.

Wegen der unterschiedlichen Standpunkte, ob das Abschleppen als gefahrenabwehrrechtliche Standardmaßnahme oder als Zwangsmaßnahme zu qualifizieren ist, bedarf es zunächst insoweit einer Entscheidung des Meinungsstreits. Als Sicherstellung mit anschließender Verwahrung könnte die Abschleppmaßnahme qualifiziert werden, wenn die Abschleppmaßnahme auf die Inverwahrungnahme des sichergestellten Pkw gerichtet wäre. Eine Inverwahrungnahme ist indes beim Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Pkw grundsätzlich nicht beabsichtigt. Das Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Pkw ist daher als Zwangsmaßnahme zu qualifizieren.

Wegen der unterschiedlichen Standpunkte innerhalb der Ansicht, die eine Zwangsmaßnahme annehmen, bedarf auch dieser Meinungsstreit einer Entscheidung. Der Standpunkt der Befürworter des unmittelbaren Zwangs beruht auf der Annahme, dass ein Halte- oder Parkverbotsschild lediglich ein Verbot, in dem betreffenden Bereich zu halten oder zu parken, enthalte. Daher fehle die für die Ersatzvornahme erforderliche Deckungsgleichheit zwischen der auferlegten und durchgesetzten Handlung. Diese Ansicht ist jedoch nicht zwingend. In einem Halte- oder Parkverbotsschild kann durchaus – wie von der Rechtsprechung angenommen – neben dem Halte- oder Parkverbot zugleich ein Gebot, den betreffenden Bereich im Falle eines Verkehrsverstoßes zu verlassen, enthalten sein. Sofern man in diesem Gebot ein abstraktes Räumungsgebot sieht, ist die erforderliche Deckungsgleichheit zwischen auferlegter und durchgesetzter Handlung hergestellt.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 245.

Nach alledem ist das Abschleppen des verbotswidrig abgestellten Pkw des O als Ersatzvornahme i.S.d. § 59 VwVG NRW zu qualifizieren.

Fraglich ist nun, ob die Ersatzvornahme im gestreckten Zwangsverfahren oder im Sofortvollzug durchgeführt wurde. Unter Zugrundelegung der Annahme, dass das von O missachtete VZ 286 auch ein abstraktes Räumungsgebot enthält und damit gegenüber O eine Grundverfügung existiert, kann das Abschleppen nicht als Ersatzvornahme im Sofortvollzug betrachtet werden. Der Sofortvollzug setzt ausweislich des § 55 Abs. 2 VwVG NRW voraus, dass der Verwaltungszwang ohne eine Grundverfügung angewendet wird. Ein Vorgehen im gestreckten Zwangsverfahren kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil hier die Ersatzvornahme gemäß § 64 S. 1 VwVG NRW zunächst festgesetzt werden müsste. Die Festsetzung müsste als Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG NRW dem O gegenüber bekanntgegeben werden, damit sie wirksam wird (vgl. § 43 Abs. 1 VwVfG NRW). Aufgrund der Abwesenheit des O konnte eine Bekanntgabe der Festsetzung jedoch nicht erfolgen und ist daher unterblieben. So betrachtet, wäre weder § 55 Abs. 1 VwVG NRW noch § 55 Abs. 2 VwVG NRW als Ermächtigungsgrundlage einschlägig. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, lässt sich im Wege eines erst-recht-Schlusses bei § 55 Abs. 2 VwVG NRW argumentieren, dass ein Sofortvollzug, wenn er schon auf der Grundlage einer hypothetischen Grundverfügung zulässig ist, erst recht auf der Grundlage einer tatsächlich existierenden Grundverfügung zulässig sein muss. Dieser erst-recht-Schluss verstößt nicht gegen das sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergebende Analogierverbot.

Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 256.

Ermächtigungsgrundlage für die Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K ist daher § 55 Abs. 2 i.V.m. §§ 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 VwVG NRW.

II. Formelle Rechtmäßigkeit der Abschleppmaßnahme

Die Abschleppmaßnahme müsste formell rechtmäßig sein.

1. Zuständigkeit des Ordnungsamtes der Stadt K

Das Ordnungsamt der Stadt K müsste für die Abschleppmaßnahme sachlich und örtlich zuständig gewesen sein.

a) Sachliche Zuständigkeit

Gemäß § 56 Abs. 1 VwVG NRW wird ein Verwaltungsakt von der Behörde vollstreckt, die ihn erlassen hat. Problematisch ist, dass das Ordnungsamt der Stadt K die Grundverfügung, nämlich das im VZ 286 enthaltene abstrakte Räumungsgebot, nicht erlassen hat. Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen in Form von Verkehrszeichen werden grundsätzlich nur von Straßenverkehrsbehörden nach Maßgabe der Straßenverkehrsordnung erlassen (vgl. §§ 44, 39, 45 StVO). Somit besteht zwischen der Behörde, die die Grundverfügung erlassen hat, und der Behörde, die die Grundverfügung im Wege des Verwaltungszwangs durchsetzt, keine Identität. Das Ordnungsamt der Stadt K war für die Abschleppmaßnahme demnach sachlich unzuständig, es sei denn, es hätte eine außerordentliche sachliche Zuständigkeit des Ordnungsamtes der Stadt K bestanden. Eine solche außerordentliche sachliche Zuständigkeit käme bei Gefahr im Verzug in Betracht. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 OBG kann jede Ordnungsbehörde in ihrem Bezirk die Befugnisse einer anderen Ordnungsbehörde ausüben. Als sachlich zuständige allgemeine Ordnungsbehörde i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 1 OBG konnte das Ordnungsamt der Stadt K das abstrakte Räumungsgebot der Straßenverkehrsbehörde, einer Sonderordnungsbehörde i.S.d. § 12 OBG, im Wege des Verwaltungszwangs durchsetzen, wenn Gefahr im Verzug vorlag. Gefahr im Verzug liegt vor, wenn ein regulärer Verfahrensweg oder eine Zuständigkeit ausnahmsweise nicht eingehalten werden kann, weil andernfalls eine effektive Gefahrenabwehr nicht möglich wäre. Der Pkw des O war verbotswidrig abgestellt; dadurch konnten Lieferanten nicht in der Ladezone parken, sondern mussten auf die Fahrbahn ausweichen, was zu Behinderungen des fließenden Verkehrs führte. Unter den gegebenen Umständen lag bereits eine Störung der öffentlichen Sicherheit vor, die nur durch eine sofortige Abschleppmaßnahme beseitigt werden konnte. Zur effektiven Gefahrenabwehr war es somit notwendig, dass die vor Ort anwesenden Außenmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt K die Abschleppmaßnahme durchführen. Demnach lag eine Gefahr im Verzug vor. Das Ordnungsamt der Stadt K besaß eine außerordentliche sachliche Zuständigkeit für die Abschleppmaßnahme.

b) Örtliche Zuständigkeit

Das Ordnungsamt der Stadt K war gemäß § 4 Abs. 1 OBG auch örtlich zuständig. Die Störung der öffentlichen Sicherheit lag in ihrem Bezirk vor.

c) Ergebnis zu 1.

Das Ordnungsamt der Stadt K war für die Abschleppmaßnahme zuständig.

2. Verfahren

Die Abschleppmaßnahme ist unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorgaben durchgeführt worden. Insbesondere war keine vorherige Anhörung des O notwendig, weil es sich beim Sofortvollzug um einen Realakt handelt, für den § 28 VwVfG NRW nicht gilt. Selbst wenn § 28 VwVfG NRW gelten würde, wäre eine Anhörung des O nach § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW entbehrlich gewesen.

3. Ergebnis zu II.

Die Abschleppmaßnahme ist formell rechtmäßig.

III. Materielle Rechtmäßigkeit der Abschleppmaßnahme

Die Abschleppmaßnahme müsste materiell rechtmäßig sein. Dies wäre dann der Fall, wenn und soweit die Abschleppmaßnahme inhaltlich mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang stehen würde.

1. Zulässigkeit des Verwaltungszwangs im Sofortvollzug

Der Sofortvollzug des Ordnungsamtes der Stadt K müsste überhaupt zulässig sein. Gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NRW kann der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Behörde hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt. Wie oben (Ziff. I.) bereits dargelegt, wird § 55 Abs. 2 VwVG NRW im vorliegenden Fall im Wege eines erst-recht-Schlusses angewendet, weil – entgegen § 55 Abs. 2 VwVG NRW – eine Grundverfügung in Form des im VZ 286 enthaltenen abstrakten Räumungsgebots vorhanden ist. Daher erübrigt sich eine Prüfung, ob das Ordnungsamt der Stadt K innerhalb seiner Befugnisse handelte.

Vgl. allgemein Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 256.

Zu prüfen bleibt daher nur, ob die Abschleppmaßnahme zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig war. Zunächst müsste eine gegenwärtige Gefahr vorliegen. Eine solche Gefahr liegt bei einer Sachlage vor, bei der im Einzelfall die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgehend bevorsteht. O stellte seinen Pkw in einem durch das VZ 286 mit dem Zusatzschild „Ladezone werktags 8–12 h“ ausgewiesenen Bereich für länger als die erlaubten drei Minuten ab. Dadurch hat er gegen das in dem VZ 286 angeordnete eingeschränkte Halteverbot und das Räumungsgebot verstoßen. Der Verkehrsverstoß des O als schädigendes Ereignis zeigte bereits Auswirkungen, indem Lieferfahrzeuge nicht in der Ladezone parken konnten, sondern auf die Fahrbahn ausweichen mussten, wodurch es zu Behinderungen des fließenden Verkehrs kam. Folglich lag eine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 55 Abs. 2 VwVG NRW vor.

Des Weiteren müsste die Abschleppmaßnahme zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr notwendig gewesen sein. Dies ist der Fall, wenn der Zweck der Maßnahme im gestreckten Zwangsverfahren selbst bei größtmöglicher Beschleunigung nicht erreichbar wäre. Im gestreckten Zwangsverfahren hätten die Abschleppmaßnahmen gegenüber O angedroht und festgesetzt werden müssen. Diese Maßnahmen waren wegen der Abwesenheit des O zum einen nicht möglich, zum anderen hätten sie das Vorgehen zur Gefahrenabwehr zeitlich verzögert. Da unter den gegebenen Umständen ein sofortiges Handeln der Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt K erforderlich war, um die bereits eingetretene Störung der öffentlichen Sicherheit zu beseitigen, war die Abschleppmaßnahme notwendig i.S.d. § 55 Abs. 2 VwVG NRW.

Der Verwaltungszwang im Sofortvollzug war demnach zulässig.

2. Vollstreckungsvoraussetzungen der Ersatzvornahme

Die Vollstreckungsvoraussetzungen der Ersatzvornahme i.S.d. §§ 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 VwVG NRW müssten vorliegen. Gemäß § 59 Abs. 1 VwVG NRW kann die Ersatzvornahme durchgeführt werden, wenn die Verpflichtung, eine vertretbare Handlung vorzunehmen, nicht erfüllt wird.

Zunächst müsste eine Verpflichtung zur Vornahme einer vertretbaren Handlung bestehen. Eine vertretbare Handlung liegt nach der Legaldefinition des § 59 Abs. 1 VwVG NRW vor, wenn die Vornahme der Handlung durch einen anderen möglich ist. Es darf also keine höchstpersönliche Handlung in Rede stehen. Charakteristisch für eine Ersatzvornahme ist eine vollständige Deckungsgleichheit zwischen der auferlegten und der durchgesetzten Handlung. Das VZ 286 enthält neben dem Halteverbot auch ein abstraktes Räumungsgebot. Das Gebot, einen im Halteverbot abgestellten Pkw aus diesem Bereich zu entfernen, fordert keine Handlung, die nur von dem Halter des betreffenden Pkw vorgenommen werden kann; vielmehr kann die Entfernung auch von Dritten erfüllt werden. Somit liegt eine vertretbare Handlung vor. Die für die Ersatzvornahme charakteristische Deckungsgleichheit zwischen der auferlegten und der durchgesetzten Handlung besteht ebenfalls: Das VZ 286 gebietet, den verbotswidrig abgestellten Pkw zu entfernen; die Entfernung des Pkw aus dem Halteverbot wird im Zwangsverfahren durchgesetzt.

Folglich liegen die Vollstreckungsvoraussetzungen für die Ersatzvornahme vor.

3. Ordnungsgemäße Art und Weise der Ersatzvornahme

Mangels entgegenstehender Hinweis im Sachverhalt war die Ersatzvornahme ihrer Art und Weise nach ordnungsgemäß. Insbesondere bedurfte es im Sofortvollzug weder einer Androhung noch einer Festsetzung des Zwangsmittels (vgl. § 63 Abs. 1 S. 5, § 64 S. 2 VwVG NRW).

4. Ermessen

Das Ordnungsamt der Stadt K müsste das nach § 56 Abs. 2 VwVG NRW eingeräumte Ermessen pflichtgemäß i.S.d. § 40 VwVfG NRW ausgeübt haben. Dem Ordnungsamt der Stadt K ist prinzipiell ein Entschließungs-, ein Handlungs- und ein Auswahlermessen eingeräumt.

Das Entschließungsermessen betrifft die Frage, ob das Ordnungsamt der Stadt K die Abschleppmaßnahme durchführen konnte. Dass dem Ordnungsamt der Stadt K bei dieser Entscheidung ein Ermessensfehler unterlaufen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Bei der gegebenen Sachlage war ein sofortiges Handeln der Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt K angezeigt.

Das Handlungsermessen betrifft die Frage, wie das Ordnungsamt der Stadt K die Abschleppmaßnahme durchgeführt hat. Fraglich ist insoweit, ob die Abschleppmaßnahme verhältnismäßig war. Zweifel an der Verhältnismäßigkeit könnten sich daraus ergeben, dass O seine Mobil-Nummer auf einem Zettel hinter der Windschutzscheibe hinterlegt hatte. Hätten die Außendienstmitarbeiter zunächst versucht, den Aufenthaltsort des O zu ermitteln und hätten sie zu diesem Zwecke versucht, O auf seinem Smartphone telefonisch zu erreichen, hätte O nach Rücksprache mit den Außendienstmitarbeitern seinen Pkw sofort selbst aus dem Halteverbot entfernen können. Die Abschleppmaßnahme wäre dann nicht erforderlich gewesen. Diese Annahme setzt jedoch voraus, dass die Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt K verpflichtet waren, zunächst zu versuchen, den Aufenthaltsort des O durch Anwahl seines Smartphones zu ermitteln. Eine solche Verpflichtung wird von der Rechtsprechung regelmäßig verneint. Danach ist die Behörde grundsätzlich nicht verpflichtet, vor der Beauftragung eines Abschleppunternehmens Ermittlungen über den Aufenthaltsort des Halters oder des Fahrers des verbotswidrig abgestellten Pkw anzustellen, um diesen aufzufordern, den Pkw zu entfernen. Dies gilt auch dann, wenn zwar eine Mobil-Nummer hinterlegt wurde, aber keine weiteren Angaben zum genauen Aufenthaltsort des Fahrers gemacht werden.

Vgl. aus der jüngeren Vergangenheit z.B. VG Düsseldorf Urteil vom 17.2.2010 – 14 K 2614/09 – juris Rn. 15 und Rn. 17; kritisch Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 258.

Die Abschleppmaßnahme war somit erforderlich.

Auch hinsichtlich der Angemessenheit der Abschleppmaßnahme bestehen keine Bedenken. Durch den verbotswidrig abgestellten Pkw des O kam es zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit (s.o. Ziff. III. 1.), die durch die sofortige Entfernung des Pkw aus dem Halteverbot zu beseitigen war. Eine Umsetzung des Pkw des O auf einen freien Parkplatz im Sichtbereich kam ebenfalls nicht in Betracht, weil ein solcher nicht vorhanden war.

Vgl. hierzu allgemein VG Köln Urteil vom 1.10.2015 – 20 K 5858/14 – juris.

Die Abschleppmaßnahme war somit verhältnismäßig.

Das Ordnungsamt der Stadt K hat sein Auswahlermessen ebenfalls pflichtgemäß ausgeübt. Als Verhaltens- und Zustandsstörer wurde O ermessensfehlerfrei zur Gefahrenabwehr in Anspruch genommen.

Die Abschleppmaßnahme wurde folglich ermessensfehlerfrei ausgeübt.

IV. Ergebnis

Die Abschleppmaßnahme des Ordnungsamtes der Stadt K war rechtmäßig. O irrt sich somit in seiner Annahme, dass die Abschleppmaßnahme zu Unrecht erfolgt sei.

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