Internationales Privatrecht

Internationales Personen- und Gesellschaftsrecht

A. Internationales Personen- und Gesellschaftsrecht

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Das Internationale Personenrecht lässt sich in das Recht der natürlichen und das der juristischen Personen unterteilen.

I. Natürliche Personen

1. Rechts- und Geschäftsfähigkeit

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Über die Rechts- und Geschäftsfähigkeit einer Person entscheidet nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 das Recht, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt („Recht des Staates, dem die Person angehört“). Es handelt sich um eine Gesamtverweisung.

Erman-Hohloch Art. 7 Rn. 2. Zumeist werden Fragen nach der Rechts- oder Geschäftsfähigkeit als Vorfragen relevant.

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Die Geschäftsfähigkeit meint nur die allgemeine Geschäftsfähigkeit. Besondere Geschäftsfähigkeiten unterstehen nicht Art. 7, sondern den jeweils sachnäheren Kollisionsnormen (z.B. Ehefähigkeit: Art. 13).

Näher Rauscher Rn. 605 ff.

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Über den Wortlaut hinaus richten sich auch die Folgen fehlender Geschäftsfähigkeit nach dem von Art. 7 Abs. 1 S. 1 berufenen Recht.

So die h.M., vgl. nur Looschelders Art. 7 Rn. 15 m.w.N.

Wer erst einmal die Rechts- oder Geschäftsfähigkeit erworben hat, der verliert sie nach Art. 7 Abs. 2 auch durch Statutenwechsel nicht mehr („semel maior, semper maior“).

2. Stellvertretung

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Die Stellvertretung wird nach h.M. nicht nach dem Statut des Vertrages zwischen Vertretenem und Drittem bestimmt, sondern selbstständig angeknüpft.

Palandt-Thorn Anh. zu Art. 10 Rn. 1. Krit. unter Berücksichtigung von Art. 10 Rom I-VO MüKo-Spellenberg Vor Art. 11 EGBGB Rn. 148 ff. Davon zeugt Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom I-VO, der Stellvertretungsfragen entgegen ursprünglicher PlanungenVorgesehen war eine Normierung in Art. 7 Rom I-VO; dazu ausführlich Schwarz RabelsZ 71, 2007, 729, 746 ff. aus dem Anwendungsbereich der Verordnung ausklammert. Das Internationale Stellvertretungsrecht richtet sich daher (weiterhin) nach nationalem IPR. Es ist zwischen gesetzlicher Vertretung und rechtsgeschäftlicher Vertretung (Vollmacht) zu unterscheiden.

a) Gesetzliche Vertretung

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Die gesetzliche Vertretung bestimmt sich nach den jeweils sachnahen Kollisionsnormen, die gesetzliche Vertretungsmacht der Eltern also etwa nach Art. 21, die des Vormunds, Betreuers und Pflegers nach Art. 24, die des Testamentsvollstreckers nach Art. 23 Abs. 2 lit. f EuErbVO i.V.m. Art. 21 EuErbVO bzw. Art. 22 EuErbVO.

Vgl. Looschelders Anhang zu Art. 12 Rn. 2 m.w.N.

b) Rechtsgeschäftliche Vertretung

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Die Anknüpfung der rechtsgeschäftlichen Vertretung (Vollmacht) war – abgesehen von der Vorsorgevollmacht

Dazu bestehen seit 1.1.2009 die Art. 13–21 ESÜ; zum ESÜ später unter Rn. 125. – bis zum 17.6.2017 nicht kodifiziert. Sie beruhte auf nationalem Richterrecht. Seit 17.6.2017 richtet sich die gewillkürte Stellvertretung nach Art. 8, der in Abs. 1 eine subjektive und in den Abs. 2–5 eine objektive Anknüpfung der Vollmacht vorsieht. In der Sache entsprechen die Anknüpfungen des neu eingefügten Art. 8 weitgehend dem bisherigen Richterrecht zum Vollmachtsstatut.Vgl. dazu die Rn. 71 ff. der Vorauflage dieses Skriptes.

Danach richtet sich das auf die gewillkürte Stellvertretung anwendbare Recht, das europarechtlich nicht geregelt worden ist (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom I-VO), vorrangig nach dem Parteiwillen (Art. 8 Abs. 1). Die Rechtswahl ist unter den in Art. 8 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen (bitte lesen) formfrei möglich.

Siehe MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 71. Sofern keine (wirksame) Rechtswahl getroffen worden ist, folgt das anwendbare Recht einer dreistufigen Anknüpfungsleiter: Anknüpfungsmoment ist in erster Linie die Vertreterniederlassung (Art. 8 Abs. 2 und Abs. 3), sonst der Gebrauchsort der Vollmacht (Art. 8 Abs. 4 und Abs. 5 S. 1), schließlich der gewöhnliche Aufenthalt des Vollmachtgebers (Art. 8 Abs. 5 S. 3).

Gebrauchsort i.S.d. Art. 8 Abs. 4 und 5 ist der Ort, an dem der Vertreter seine Vertragserklärung abgibt (der Ort des Zugangs der Willenserklärung ist unmaßgeblich).

MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 23.

Die Anknüpfung an die Vertreterniederlassung bzw. die nachrangige Anknüpfung an den Gebrauchsort der Vollmacht setzen jeweils – neben anderen aus den genannten Vorschriften ersichtlichen Voraussetzungen – die Erkennbarkeit dieser Orte für den Dritten voraus. Problematisch kann die Frage sein, was der Dritte erkennen können muss und was nicht. Die Erkennbarkeit kann sich etwa aus einem Briefkopf unzweifelhaft ergeben. Lässt sich dagegen nicht ermitteln, ob der jeweilige Ort für den Dritten erkennbar war oder nicht, so wird von der Nichterkennbarkeit des jeweiligen Ortes auszugehen sein.

Zum Hintergrund für diese Annahme MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 28 f. Die letzte Stufe der Anknüpfungsleiter (Art. 8 Abs. 5 S. 3) setzt nicht die Erkennbarkeit des gewöhnlichen Aufenthalts des Vollmachtgebers für den Dritten voraus, sodass diese Auffanganknüpfung häufig zum Tragen kommen dürfte. Die jeweiligen Verweisungen in Art. 8 sind Sachnormverweisungen.

Im Zusammenhang mit Grundstücksverfügungen i.S.d. Art. 8 Abs. 6 (gilt nicht für schuldrechtliche Grundstücksverträge!

Vollmachten für Grundstückskaufverträge sind nach Art. 8 Abs. 1 bis Abs. 5 anzuknüpfen, siehe MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 129.) wird die Vollmacht – wie bereits früher richterrechtlich anerkannt – nach Internationalem Sachenrecht (lex rei sitae) angeknüpft.Dazu unter Rn. 210. Eine Rechtswahl ist insoweit nicht zulässig.Vgl. MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 125 sowie Rn. 224.

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Für Rechtsscheinsvollmachten (Duldungs- und Anscheinsvollmachten) richtete sich vor dem 17.6.2017 nach der Rechtsprechung das anwendbare Recht nach dem Land, in dem der Rechtsschein entstanden ist und sich ausgewirkt hat.

BGH NJW 2007, 1529, 1530 = NZG 2007, 426 m.w.N.; zum damaligen Meinungsstand und zu Besonderheiten bei Distanzgeschäften BGH NZG 2012, 1192, 1195. Das hat sich nunmehr geändert und vereinfacht: Rechtsscheinsvollmachten sind ab dem 17.6.2017 nach dem System des Art. 8 anzuknüpfen.Siehe dazu näher MüKo-Spellenberg Art. 8 EGBGB Rn. 138.

3. Namensrecht

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Das kaum prüfungsrelevante Internationale Namensrecht wird in Art. 10 eigenständig geregelt.

Siehe hierzu aus jüngerer Zeit BGH NJW 2014, 1383 ff. Art. 10 Abs. 1 verweist auf das Heimatrecht des Namensträgers als Gesamtverweisung.Dazu BGH JA 2008, 65 m. Anm. Looschelders; zur Vereinbarkeit dieser Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit mit dem europäischen Diskriminierungsverbot EuGH EuZW 2008, 694 = NJW 2009, 135 (Rechtssache Grunkin-Paul) m. Anm. Rieck NJW 2009, 125. In Abs. 2 und 3 sind beschränkte Rechtswahlmöglichkeiten für den Ehe- und den Kindesnamen vorgesehen.

II. Juristische Personen

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Charakteristisch für das Internationale Gesellschaftsrecht ist dessen geringer Kodifizierungsgrad. Die Rom-Verordnungen klammern „Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht“ in Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I-VO bzw. Art. 1 Abs. 2 lit. d Rom II-VO aus ihrem Anwendungsbereich aus. Das EGBGB hält bisher ebenfalls keinerlei Vorschriften parat und auch staatsvertragliche Gesellschaftskollisionsregeln, wie in Art. 25 Abs. 5 S. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags mit den USA, sind die Ausnahme.

Hinweis

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Der bevorstehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU („Brexit“) wird die Relevanz des Internationalen Gesellschaftsrechts erhöhen.

Näher hierzu Weller IPRax 2017, 167 ff. Welche Folgen der „Brexit“ im Einzelnen auf das IPR insgesamt haben wird, bleibt abzuwarten. Da sich das Vereinigte Königreich schon bislang häufig nicht an der Kollisionsrechtsvereinheitlichung beteiligt hat, dürften die Folgen überschaubar bleiben.Reformbedarf konstatiert R. Wagner NJW 2018, 3421, 2428 etwa hinsichtlich § 122m Umwandlungsgesetz.

1. Anwendungsbereich des Gesellschaftsstatuts

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Das Gesellschaftsstatut bestimmt „unter welchen Voraussetzungen eine juristische Person entsteht, lebt und vergeht“.

BGHZ 25, 134, 144. Es befindet damit über Fragen der Innen- und Außenbeziehungen von Gesellschaften. Erfasst werden Errichtung und Bestehen, Rechts- und Handlungsfähigkeit, innere Verfassung, Auflösung und Beendigung sowie die Haftung der Gesellschaft und ihrer Personen. Auch darüber, wer gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft, des Vereins oder der juristischen Person ist, entscheidet das Gesellschaftsstatut.BGH NZG 2012, 1192, 1195; bis zum 17.12.2009 ergab sich das ausdrücklich aus Art. 37 Nr. 2 EGBGB a.F. Schließlich fallen auch die unternehmerische Mitbestimmung sowie die Parteifähigkeit einer Gesellschaft vor deutschen Gerichten unter das Gesellschaftsstatut.Siehe R. Wagner NJW 2018, 3421, 3428 mit Verweis auf die baden-württembergische Rechtsprechung hierzu. So umfassend damit der gesellschaftsrechtliche Anknüpfungsgegenstand ist, so umstritten ist seit jeher das passende Anknüpfungsmoment. Gegenüber stehen sich im Wesentlichen zwei „Lager“: Die Sitz- und die Gründungstheorie.

2. Anknüpfungsmoment des Gesellschaftsstatuts

a) Sitztheorie

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Nach der Sitztheorie soll das Recht des Staates zur Anwendung kommen, in dem die Gesellschaft den Sitz ihrer Hauptverwaltung hat. Entscheidend ist der effektive Hauptverwaltungssitz, also der Ort, von dem aus die juristische Person tatsächlich gelenkt wird.

BGHZ 97, 269, 272; Fingerhuth/Rumpf IPRax 2008, 90 m.w.N.; Sattler ZfRV 2010, 52, 56. Dieser Schwerpunkt des körperschaftlichen Lebens soll unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ermittelt werden.

Traditionell folgten bislang die meisten kontinental-europäischen Rechtsordnungen (u.a. Frankreich, Österreich, Belgien, Luxemburg) dieser Anknüpfung. Auch in Deutschland war sie lange Zeit gewohnheitsrechtlich fest verankert. Für sie spricht die Sachnähe zwischen der Gesellschaftstätigkeit und der diese regelnde Rechtsordnung. Dadurch trägt die Sitztheorie nicht zuletzt den Kontrollbedürfnissen des Sitzstaates Rechnung, dessen Gesetzgebung die Gesellschaften bindet und der dadurch „Herr im eigenen Haus bleibt“.

Anderseits führt auf dem Boden der Sitztheorie jeder Weg- oder Zuzug einer Gesellschaft zu einem Statutenwechsel, da die anknüpfungsrelevante Tatsache (eben der Hauptsitz) wechselt. Dies verkompliziert die Rechtslage.

b) Gründungstheorie

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Die Gründungstheorie beruft das Recht des Staates zur Anwendung, in dem die Gesellschaft gegründet wurde. Sie ist im anglo-amerikanischen Rechtskreis herrschend. Staatsvertraglich angeordnet gilt sie im Verhältnis zwischen den USA und Deutschland gem. Art. 25 Abs. 5 S. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags mit den USA von 1954.

Beispielsfälle zu dieser Norm [J/H Nr. 134], die nach h.M. trotz ihres nicht eindeutigen Wortlauts eine Kollisionsnorm ist: BGH NJW 2003, 1607 = JuS 2003, 1028 m. Anm. Hohloch; BGH NZG 2005, 44 = JuS 2005, 653 m. Anm. Hohloch; BGH NJW-RR 2013, 487. Die Gründungsanknüpfung setzt gegenüber der Sitztheorie an die Stelle der mitunter schwierigen Ermittlung des Hauptverwaltungssitzes ein leicht bestimmbares Anknüpfungsmoment. Sie begünstigt die Mobilität von Gesellschaften, die die Gründung in einem Land ihrer Wahl vornehmen können und mit dieser Rechtsordnung „im Gepäck“ unter Beibehaltung ihrer Rechtsform in ein anderes Land ziehen können (societas shopping). Anders als bei der Sitztheorie führt ein Zu- oder Wegzug nach der Gründungstheorie nicht zu einem Statutenwechsel, was sie vorzugwürdig erscheinen lässt. Anderseits birgt die Gründungstheorie auch Gefahren: Wenn sich Gesellschaften das unternehmerfreundlichste Recht aussuchen können, droht die Vorherrschaft der jeweils „laxesten“ Gesellschaftsrechte (race to the bottom) und die Vereitelung berechtigter Drittinteressen (Gläubiger, Arbeitnehmer, Minderheitsgesellschafter).Nach Kieninger ZEuP 2018, 309, 316, „lehrt die bisherige Erfahrung“ in der EU, dass sich ein race to the bottom faktisch nicht zwangsläufig einstellt.

Besonders deshalb folgte die deutsche Rechtsprechung über Jahrzehnte der Sitztheorie. Durch die Rechtsprechung des EuGH wurde dieser Standpunkt indes aufgeweicht und in einen Wandlungsprozess überführt.

c) Einflüsse der Rechtsprechung des EuGH auf die Sitztheorie

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Dreh- und Angelpunkt dieser EuGH-Rechtsprechung ist die in Art. 49 AEUV (= Art. 43 EG a.F.) verankerte Niederlassungsfreiheit, die nach Art. 54 AEUV (= Art. 48 EG a.F.) auch für Gesellschaften gilt. Sie will die Mobilität innerhalb Europas fördern. Diesem Anliegen wird die Gründungstheorie besser gerecht. Doch ob und inwieweit damit ein Verbot der Sitztheorie verbunden ist, darüber äußerte sich der EuGH erst nach und nach in einer Reihe von Entscheidungen:

Lesenswert hierzu die mit Bildern unterstützte Darstellung von Mohamed JURA 2018, 793 ff.; ausführlich Schmidt ZVglRWiss 116 (2017), 313 ff.

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Die Rechtsprechungskette setzte 1988 mit der Entscheidung „Daily Mail“

EuGH NJW 1989, 2186, 2187. ein. Darin entschied der Gerichtshof, dass eine Gesellschaft „jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität“ hat.EuGH NJW 1989, 2186 Rn. 19. Der Sitzstaat dürfe daher den Wegzug einer Gesellschaft von bestimmten (steuerrechtlichen) Voraussetzungen abhängig machen. Diese Auslegung stand der Sitztheorie zunächst nicht entgegen.

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Eine andere Sichtweise deutete sich 1999 in der „Centros“-Entscheidung

EuGH NJW 1999, 2027. an. „Centros“ hatte pro forma eine Gesellschaft („Briefkastengesellschaft“) in England gegründet, um diese in Dänemark nach englischem Recht und unter Umgehung der strengeren dänischen Mindestanforderungen zu betreiben. Die Billigung dieses Vorgehens durch den EuGH bedeutete allerdings weiterhin keine wesentliche Einschränkung der Sitztheorie.

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Eine deutliche Hinwendung zur Gründungstheorie vollzog sich dann jedoch in der „Überseering“-Entscheidung

EuGH NJW 2002, 3614. von 2002. Darin entschied der EuGH auf Vorlage des BGH,BGH EuZW 2000, 412. dass einer niederländischen Gesellschaft bei Zuzug nach Deutschland ihre Rechts- und Parteifähigkeit nicht abgesprochen werden darf.

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Anhänger der Sitztheorie mussten die Zugrundelegung der Gründungstheorie in der „Überseering“-Entscheidung zwar anerkennen, wollten sie jedoch auf den Bereich der Rechts- und Parteifähigkeit beschränkt sehen. Dieser Deutung entzog der EuGH in der Entscheidung „Inspire Art“

EuGH NJW 2003, 3331. die Grundlage: Das Recht des Gründungsstaates müsse im Grundsatz insgesamt als maßgebliches Gesellschaftsstatut behandelt werden; Ausnahmen hiervon seien nur bei zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses möglich.

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Darin die umfassende Verdrängung der Sitz- durch die Gründungstheorie zu sehen, ginge jedoch zu weit, wie der EuGH in der Entscheidung „Cartesio“

EuGH NJW 2009, 569. vom 16.12.2008 deutlich machte. Darin entschied der Gerichtshof unter Berufung auf seine „Daily Mail“-Entscheidung und in Abgrenzung zu den Zuzugsfällen „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, dass die Niederlassungsfreiheit solchen nationalen Regelungen nicht entgegensteht, die einer nach nationalem Recht gegründeten Gesellschaft den Wegzug verbietet, wenn sie auf der Beibehaltung ihrer Rechtsform beharrt. Abwicklung und Liquidation der Gesellschaft könne bei einem Wegzug aus Deutschland jedoch dann nicht verlangt werden, wenn sich die Gesellschaft unter Änderung ihrer Rechtsnatur nach einer Rechtsform des Zuzugsstaats organisiert.

Beispiel

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Eine eingetragene deutsche OHG könnte unter bestimmten Voraussetzungen ihren Sitz nach Frankreich verlegen, indem sie sich etwa als „Société à responsabilité limitée“ (S.A.R.L.) in das französische Register eintragen und aus dem deutschen Handelsregister löschen lässt.

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Die Entscheidung „VALE“

EuGH EWS 2012, 375 m. Anm. Jaensch EWS 2012, 353 ff.; hierzu auch Böttcher/Kraft NJW 2012, 2701 ff. vom 12.7.2012 führt die spezifische Rechtsprechung in Sachen „SEVIC“EuGH NJW 2006, 425. Zu dieser Entscheidung komprimiert und mit weiteren Nachweisen Frenz JURA 2011, 680, 681 f. und „National Grid Indus“EuGH NZG 2012, 114., aber auch die eben skizzierte „Cartesio“-Rechtsprechung fort. Bis zu der Entscheidung in Sachen „VALE“ gingen die Regierungen etlicher Mitgliedstaaten davon aus, dass eine grenzüberschreitende Umwandlung zur Gründung einer Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat führe.Siehe Mansel/Thorn/R. Wagner IPRax 2013, 1, 3. Im konkreten Fall sah das (ungarische) Recht des Aufnahmestaates die Möglichkeit der Umwandlung nur für inländische Gesellschaften vor; die Umwandlung einer dem Recht eines anderen Mitgliedstaates unterliegende Gesellschaft (im konkreten Fall eine italienische) war nicht zulässig. Der EuGH befand eine derartige Regelung in seiner „VALE“-Entscheidung für unvereinbar mit Art. 49 und 54 AEUV.So zuvor bereits deutlich Thiermann EuZW 2012, 209 ff. Er entschied unter Bezugnahme auf den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz, dass auch eine grenzüberschreitende Umwandlung zuzulassen ist, und zwar unter denselben Bedingungen, die das innerstaatliche Recht des Aufnahmestaates an die inländischen Gesellschaften stellt.

Die jüngste Entscheidung

Zum Sachverhalt und den zentralen Aussagen der Entscheidung Mohamed JURA 2018, 793, 796. „Polpud“EuGH NJW 2017, 3639. Kritisch hierzu Stelmaszczyk EuZW 2017, 890, 893. weist wiederum in die umgekehrte Richtung: Der EuGH relativiert in dieser Entscheidung Aussagen aus „VALE“ und „Daily Mail“ und kehrt zurück zu seiner großzügigeren Linie aus den Entscheidungen „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, welche im Zeichen der Gründungstheorie stehen.Näher Kieninger ZEuP 2018, 309, 313.

d) Folge der EuGH-Rechtsprechung: Eingeschränkte Anwendung der Sitztheorie in Deutschland

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Vor dem Hintergrund jener wechselvollen

Kieninger ZEuP 2018, 309, 316 spricht von einem „Zick-Zack-Kurs des EuGH“. EuGH-Rechtsprechung stellt sich das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht derzeit uneinheitlich dar („gespaltenes Gesellschaftskollisionsrecht“): Die Anwendung von Gründungs- oder Sitztheorie hängt einerseits davon ab, ob der Sachverhalt innerhalb der EU spielt oder Auslandsbezug zu einem Drittstaat hat, andererseits davon, ob es um einen Zu- oder Wegzug von Gesellschaften geht.

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Die räumliche Unterscheidung erklärt sich daraus, dass die Jurisdiktionsgewalt des EuGH auf die EU-Mitgliedstaaten und die Vertragsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), also Island, Norwegen und Liechtenstein, beschränkt ist.

Vgl. Erman-Hohloch Art. 37 Anhang II Rn. 32; Art. 31, 34 EWR-Abkommen entsprechen Art. 49, 54 AEUV. Aufgrund dieses beschränkten Geltungsanspruchs der EuGH-Rechtsprechung gilt im Verhältnis zu Drittstaaten mit Ausnahme der USA weiterhin die Sitztheorie.Kieninger ZEuP 2018, 309, 318, Rauscher/Papst NJW 2010, 3487, 3491; Weller IPRax 2009, 202, 206 f.; Lieder/Kliebisch BB 2009, 338 ff.

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Für in der EU bzw. im EWR spielende Fälle kommt es darauf an, ob ein Zu- oder Wegzugsfall vorliegt. Nur der Zuzug, nicht aber der Wegzug, unterliegt der Niederlassungsfreiheit.

Frenz JURA 2011, 678, 680 m.w.N. Bei Zuzug nach Deutschland ist gemäß den Vorgaben des EuGH auf die Gründungstheorie abzustellen, bei Wegzug aus dem Inland gilt die Sitztheorie mit den Maßgaben aus dem Fall „Cartesio“ (siehe Rn. 83).

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Verweisungen auf das Gründungsrecht sind aufgrund ihrer europarechtlichen Dirigierung Sachnormverweisungen; im Übrigen ist von Gesamtverweisungen auszugehen.

3. Ausblick: Hoffnung auf Kodifizierung des Internationalen Gesellschaftsrechts

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Wie die vorstehenden, bereits sehr vereinfachten Ausführungen zeigen, gleicht das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht derzeit einem unübersichtlichen Flickenteppich.

Noch komplexer wird die Lage durch die Differenzierung zwischen Satzungs- und Verwaltungssitz der Gesellschaft. Dazu und zu den Folgen dieser Unterscheidung allgemein Frenz JURA 2011, 678 ff. (Schwerpunktstudierenden zur Lektüre empfohlen) und spezifisch im Hinblick auf die jüngste Rechtsprechung Kieninger ZEuP 2018, 309, 314. Die Hoffnung auf eine legislative Begegnung dieses geradezu chaotischen Rechtszustands gründet eher auf unions- als auf nationaler Ebene.

Das Bundesjustizministerium legte bereits am 7.1.2008 einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zum internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen“ (RefE) vor. Der RefE basiert auf einem Vorschlag des 1954 gegründeten Deutschen Rates für Internationales Privatrecht.

Zu diesem „Motor“ der internationalprivatrechtlichen Gesetzgebung R. Wagner IPRax 2004, 1 f. Der Entwurf enthält Vorschläge zur Neufassung der Art. 10, 10a, 10b, 11 Abs. 6 sowie 12 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB. Kernstück der Reform ist Art. 10 Abs. 1 RefE. Dieser sieht als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH die Kodifizierung der Gründungstheorie in Deutschland vor. Danach soll das Recht des Staates maßgeblich sein, in dem die Gesellschaft konstitutiv oder deklaratorisch in ein öffentliches Register eingetragen wurde. Für Gesellschaften, bei denen eine öffentliche Registereintragung (noch) fehlt, soll das Recht des Staates gelten, nach dem sie tatsächlich organisiert sind.Weiterführend zum Ganzen Wagner/Timm IPRax 2008, 81 ff. Über die Vorgaben des EuGH hinausgehend, soll die Gründungsanknüpfung nach dem RefE nicht nur für EU/EWR-Gesellschaften, sondern auch für Gesellschaften aus Drittstaaten gelten („Einheitslösung“).Bayer/Schmidt ZHR 173 (2009), 735, 741. Die Verabschiedung des RefE würde das Internationale Gesellschaftsrecht erheblich vereinfachen; angesichts der aktuellen Unübersichtlichkeit der Rechtslage wäre das wünschenswert. Allerdings wurde der RefE wegen seiner Ausklammerung von Aspekten der Mitbestimmung vorerst „auf Eis gelegt“.So Bayer/Schmidt ZHR 173 (2009), 735, 742. Mit einer baldigen Verabschiedung ist kaum zu rechnen. Indessen hat sich die EU im Stockholmer ProgrammDezidiert hierzu R. Wagner IPRax 2010, 97 ff. des Europäischen Rates vom 2.12.2009 vorgenommen, Kollisionsnormen zum Gesellschaftsrecht zu schaffen; die im RefE vorgesehen Regelungen sollen dabei zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden.So Mansel/Thorn/R. Wagner IPRax 2013, 1, 36.

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