Insolvenzrecht - Rechtsgrundlagen des Insolvenzrechts

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Insolvenzrecht

Rechtsgrundlagen des Insolvenzrechts

B. Verfahrensbeteiligte

I. Schuldner

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Die Frage, wer als Schuldner eines Insolvenzverfahrens in Frage kommt, ist in den §§ 11, 12 InsO näher geregelt (sog. Insolvenzfähigkeit).

1. Natürliche Personen

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Nach § 11 Abs. 1 S. 1 InsO ist jede natürliche Person insolvenzfähig, egal ob sie ein Gewerbe betreibt, als Angestellte arbeitet oder arbeitssuchend ist.Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 26. Die Insolvenzfähigkeit entspricht der Rechtsfähigkeit (§ 1 BGB).BeckOK InsR/Wolfer InsO § 11 Rn. 1. Im Insolvenzverfahren ist jedoch nicht die Person Insolvenzsubjekt, sondern allein das Vermögen des Schuldners. Nur dieses ist den Gläubigern als Haftungsmasse zugewiesen. Wird ein Bäcker insolvent, wird über „das Vermögen des Herrn Bruno X., Nürnberg“ das Insolvenzverfahren eröffnet, nicht über „Herrn X.“. Aus diesem Grund ist sogar der Nachlass (§§ 315 ff. InsO) oder das Gesamtgut (§§ 332 ff. InsO) als Sondervermögen insolvenzfähig (§ 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO); deren Besonderheiten sind im Skript nicht näher behandelt.

2. Juristische Personen des Privatrechts

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Nach § 11 Abs. 1 S. 1 InsO sind die juristischen Personen (des Privatrechts) insolvenzfähig. Dazu gehören die AG (§ 1 AktG), die GmbH (§ 13 GmbHG), die UG (§ 5a GmbHG), die KGaA (§ 278 Abs. 1 AktG), die eG (§ 2 GenG), der rechtsfähige Verein (§§ 21, 22 BGB), die SE (Art. 1 Abs. 3 SE-VO), der VVaG (§ 171 VAG) sowie die rechtsfähige Stiftung (§§ 80, 86 S. 1, 42 BGB).Vgl. Braun/Bußhardt InsO § 11 Rn. 9. Auch Mischformen, wie die GmbH & Co. KGaA, sind erfasst. Hier ist zu beachten, dass beide Gesellschaften selbstständig insolvenzfähig sind.Graf-Schlicker/Kexel InsO § 11 Rn. 7. Es gilt: eine Gesellschaft, eine (selbstständige) Insolvenz, ein (selbstständiges) Verfahren. Keine Insolvenzfähigkeit besitzen Konzerne.Paulus Insolvenzrecht § 3 Rn. 9 f. Hier bleibt es bei dem Grundsatz, dass allein die einzelnen Rechtsträger insolvenzfähig sind (z.B. AG, GmbH), nicht aber die Holding selbst. Um Konzerninsolvenzen mit ihren Verflechtungen besser zu bewältigen, ermöglicht § 3a i.V.m. § 3e InsO eine koordinierte Insolvenzabwicklung. Nach § 11 Abs. 1 S. 2 InsO ist der nicht rechtsfähige Verein (§ 54 BGB) kraft ausdrücklicher Normierung insolvenzfähig. Damit kann ein Insolvenzverfahren auch über das Vermögen einer Partei eröffnet werden.BGH NZI 2021, 268 Rn. 11 ff.; Braun/Bußhardt InsO § 11 Rn. 9.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH hat ihren Sitz in Nürnberg. Aufgrund erheblicher Umsatzrückgänge (u.a. bedingt durch die COVID-19-Pandemie) ist sie zahlungsunfähig. Die MODEHAUS GmbH ist als GmbH eine juristische Person und damit insolvenzfähig (§ 11 Abs. 1 S. 1 InsO).

3. Personengesellschaften

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Insolvenzfähig sind nach § 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO auch die „Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit“. Gemeint sind die „rechtsfähigen Personengesellschaften“. Diese Formulierung wird ab 2024 auch in der InsO verwendet.Art. 35 des Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG) vom 10.8.2021. Zu den rechtsfähigen Personengesellschaften gehören die OHG (§§ 124 ff. HGB), die KG (§§ 161 ff. HGB), die Partnerschaftsgesellschaft (§§ 1 ff. PartGG), die GbR (§§ 705 ff. BGB) in Form der Außengesellschaft (= rechtsfähige GbR § 705 Abs. 2 BGB n.F. ab 2024),BGH NJW 2001, 1056; HK-InsO/Sternal § 11 Rn. 17 f. die Partenreederei (§§ 489 ff. HGB), die EWIV (Art. 1 ff. EWIV-VO)  sowie die PartmbB als Unterfall der Partnerschaft (§ 8 Abs. 4 PartGG). Auch die Mischformen der GmbH & Co. KG oder der UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG gehören zu den Personengesellschaften. Da jeder Rechtsträger selbstständig betrachtet werden muss, sind Doppelinsolvenzen möglich. Scheidet bei einer GmbH & Co. KG die GmbH wegen Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen als einzige Komplementärin aus der KG aus (§§ 161 Abs. 2, 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 HGB), führt dies zur Vollbeendigung der KG; es kommt zu einem Partikularinsolvenzverfahren über das beim Kommanditisten angewachsene Vermögen.Näher MüKoInsO/Vuia InsO § 11 Rn. 26. Nicht insolvenzfähig ist die stille Gesellschaft (§§ 230 ff. HGB), da es kein gesamthänderisches Vermögen gibt.Uhlenbruck/Hirte InsO § 11 Rn. 384. Auch die Wohnungseigentümergemeinschaft ist nicht insolvenzfähig (§ 9a Abs. 5 WEG).

4. EU-Auslandsgesellschaften

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Insolvenzfähig sind alle Rechtsformen aus den 27 EU-Mitgliedstaaten, soweit sie nach dem Recht ihres Gründungsstaates insolvenzfähig sind,BeckOK InsR/Wolfer InsO § 11 Rn. 7. wie beispielsweise die Besloten venootschap (BV = niederländische GmbH) oder die SARL aus Luxemburg. Seit dem BREXIT wird die englische Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland je nach Fallgestaltung den Regeln der GbR oder der OHG unterworfen.BeckOnline InsR/Wolfer InsO § 11 Rn. 8; siehe auch Gelbrich NZI 2021, 256.

5. Staaten und juristische Personen des öffentlichen Rechts

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Damit der Staat funktionsfähig bleibt, besitzen weder die Bundesrepublik Deutschland noch die sechzehn Bundesländer Insolvenzfähigkeit (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts (z.B. Gemeinden, Körperschaften, Anstalten) fehlt die Insolvenzfähigkeit, wenn das Landesrecht dies bestimmt (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Die Sondernorm des § 12 InsO gilt nicht für politische Parteien oder deren Gebietsverbände, diese sind nach § 11 InsO insolvenzfähig.BGH NZI 2021, 268 Rn. 51 ff.

II. Gläubiger

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Die InsO teilt die Gläubiger in fünf Gruppen ein. Unterschieden wird zwischen Insolvenzgläubigern (§ 38 InsO), Massegläubigern (§ 53 InsO), nachrangigen Insolvenzgläubigern (§ 39 InsO), aussonderungsberechtigten Gläubigern (§ 47 InsO) sowie absonderungsberechtigten Gläubigern (§§ 49, 50, 51 InsO). Den Mittelpunkt bilden die Insolvenzgläubiger, da vorrangiges Ziel der InsO die gleichmäßige Befriedigung der Insolvenzgläubiger ist (§ 1 S. 1 InsO). Die Eingruppierung hat erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Werden Massegläubiger im Regelfall zu 100 % bedient, bekommen Insolvenzgläubiger am Ende des Insolvenzverfahrens eine geringe Quote (5–10 %), während nachrangige Gläubiger regelmäßig leer ausgehen.

Gläubigertypen

1. Insolvenzgläubiger

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Insolvenzgläubiger sind nach § 38 InsO persönliche Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Sie dürfen ihre Forderungen nur noch im Insolvenzverfahren verfolgen (§ 87 InsO), indem sie ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden (§§ 174 ff. InsO).Vgl. BGH NZI 2020, 589 Rn. 16; NJW 2019, 3522 Rn. 15; NZI 2018, 886 Rn. 11. Die Stellung als Insolvenzgläubiger setzt voraus, dass der Schuldner dem Gläubiger persönlich, und nicht nur mit einem einzelnen Gegenstand, haftet. Daher sind dingliche Gläubiger nicht von § 38 InsO erfasst. BeckOK InsR/Kirchner InsO § 38 Rn. 5. Als Vermögensanspruch muss der Anspruch auf Zahlung einer Geldsumme gerichtet sein. Forderungen, die nicht auf Geld lauten, wie beispielsweise Beförderungsansprüche (Flugticket), sind mit ihrem Wert zu schätzen (§ 45 S. 1 InsO).BGH NZI 2022, 694 Rn. 9; NZI 2022, 978 Rn. 9; NZI 2018, 886 Rn. 11. Ansprüche auf unvertretbare Handlungen i.S.d. § 888 ZPO (z.B. Gegendarstellung) sind keine Vermögensansprüche und nehmen daher nicht am Insolvenzverfahren teil.

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Insolvenzgläubiger i.S.d. § 38 InsO sind nur diejenigen Gläubiger, deren Vermögensanspruch bereits im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung begründet war. Der anspruchsbegründende Tatbestand muss vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetreten sein,BGH NZI 2020, 839 Rn. 11; NZI 2019, 499 Rn. 40; NZI 2017, 68 Rn. 17; BayOblG NZI 2020, 44 Rn. 28; BAG NZI 2019, 385 Rn. 13; BVerwG NZI 2019, 765 Rn. 13. d.h. die Grundlage des Anspruchs bereits vor Eröffnung gelegt sein. Ob die Forderung selbst schon entstanden oder fällig ist, ist unerheblich. Dieser Grundgedanke ergibt sich für nicht fällige Forderungen aus § 41 InsO, für auflösend bedingte Forderungen aus § 42 InsO.

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Da der Anspruch vor Verfahrenseröffnung bestanden haben muss, sind Insolvenzgläubiger von den Massegläubigern (§ 55 InsO) abzugrenzen. Die Unterscheidung ist auf den ersten Blick relativ einfach, da die InsO bestimmte Zeitfenster setzt.

Insolvenzgläubiger sind nach § 38 InsO alle Gläubiger, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Forderung gegen den Schuldner begründet haben.

Es genügt, wenn der Rechtsgrund vor der Verfahrenseröffnung gelegt ist.

Massegläubiger sind dagegen nach § 55 Abs. 1 InsO die Gläubiger, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Forderung gegen die Insolvenzmasse begründet haben.

Beispiele Lieferant Leon (L) hat der MODEHAUS GmbH vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Druckerpatronen geliefert. Der Kaufpreis wurde nicht gezahlt. (L) ist mit seinem Kaufpreisanspruch (§ 433 Abs. 2 BGB) Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO). Würde (L) dem Insolvenzverwalter die Patronen nach Insolvenzeröffnung verkaufen, wäre er Massegläubiger (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO).

Bei Dauerschuldverhältnissen, die regelmäßig wiederkehrende Leistungen zum Inhalt haben, bildet die Insolvenzeröffnung eine zeitliche Zäsur. Beispielsweise sind Mietzinsansprüche des Vermieters, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, Insolvenzforderungen (§ 38 InsO). Mietzinsansprüche des Vermieters nach der Eröffnung des Verfahrens sind Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO).

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Keine Insolvenzforderungen sind die Ansprüche der Gesellschafter, die auf Rückzahlung der Einlage gerichtet sind; sie betreffen das Eigenkapital und fallen weder unter § 38 InsO noch unter § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO.BGH NZI 2018, 76 Rn. 24; BayOblG NZI 2020, 44 Rn. 30 ff. Sie sind lediglich im Rahmen von § 199 S. 2 InsO zu berücksichtigen. Keine Insolvenzforderungen sind Ansprüche von Neu-Gläubigern (Rn. 54).

2. Massegläubiger

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Massegläubiger (§§ 53 bis 55 InsO) haben es besonders gut. Sie sind gem. § 53 InsO „vorweg“, d.h. im Rang vor allen Insolvenzforderungen (§ 38 InsO), zu befriedigen. Der Insolvenzverwalter muss die Masseverbindlichkeiten (zu 100 %) begleichen, sobald Fälligkeit eingetreten ist.BGH NZI 2022, 472 Rn. 10. Zu den Masseverbindlichkeiten gehören gem. § 53 InsO die Kosten des Insolvenzverfahrens (§ 54 InsO) und die sonstigen Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO). Daneben finden sich vereinzelt Sondernormen (§§ 100, 123 Abs. 2, 169 InsO).

a) Kosten des Insolvenzverfahrens (Massekosten)

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Masseverbindlichkeiten sind die Kosten des Insolvenzverfahrens (§ 53 Fall 1 InsO). Diese sind in § 54 InsO gesetzlich definiert. Dazu gehören die Gerichtskosten (§ 54 Nr. 1 InsO), die Vergütungen und Auslagen des vorläufigen Insolvenzverwalters und des Insolvenzverwalters sowie die Vergütungen und Auslagen der Mitglieder des Gläubigerausschusses (§ 54 Nr. 2 InsO). Die in § 54 InsO getroffene Bestimmung ist abschließend.BGH NZI 2019, 499 Rn. 42 ff.

b) Sonstige Masseverbindlichkeiten

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Zu den Masseverbindlichkeiten gehören die „sonstigen Masseverbindlichkeiten“ (§ 53 Fall 2 InsO). Diese sind in § 55 InsO näher geregelt. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO erfasst Verbindlichkeiten, die durch eine Handlung des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden. Zu den „Handlungen“ nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 InsO gehören vorrangig für die Masse abgeschlossene Rechtsgeschäfte, wie der Kauf von Kopierpapier.Vgl. BAG NZI 2019, 385 Rn. 14; Foerste Insolvenzrecht Rn. 83. Aber auch Steuern, die nach der Eröffnung anfallen (z.B. Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Körperschaftssteuer), sind erfasst. Verbindlichkeiten, die „in anderer Weise“ begründet werden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 InsO), z.B. nach Eröffnung durch Verwaltungsakt festgesetzte Beitragsforderungen der Industrie- und Handelskammer.OVG Münster NZI 2018, 797, 799.

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Gem. § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO entstehen Masseverbindlichkeiten auch dadurch, dass der Insolvenzverwalter in gegenseitige Verträge mit synallagmatischen Leistungspflichten des Schuldners eintritt. Hierzu gehören die Lohnansprüche der nach Insolvenzeröffnung weiterbeschäftigten Arbeitnehmer (§ 611a Abs. 2 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 S. 1 InsO)Vgl. BAG NZI 2021, 323 Rn. 49 ff.; Uhlenbruck/Sinz InsO § 55 Rn. 61. oder der Mietzins für eine nach Insolvenzeröffnung vom Insolvenzverwalter genutzte Immobilie (§ 535 Abs. 2 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 S. 1 InsO).Vgl. BGH NZI 2018, 174 Rn. 30; Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 44 ff. (mit Beispielsfall). Grund für die Sonderstellung ist der Schutz der Vertragspartner.BGH NZI 2019, 499 Rn. 50. Verbindlichkeiten aus ungerechtfertigter Bereicherung der Masse sind ebenfalls Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Hat der Insolvenzverwalter beispielsweise nach Verfahrenseröffnung Sachen verarbeitet, an denen ein Aussonderungsrecht besteht, ist die Masse ungerechtfertigt bereichert.Vgl. BGH NJW 2019, 1940 Rn. 55.

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Grundsätzlich können Masseverbindlichkeiten erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen. Das Gesetz sieht in Sonderfällen vor, dass Masseverbindlichkeiten bereits im Eröffnungsverfahren, also im Zeitraum zwischen Eröffnungsantrag und Eröffnung des Insolvenzverfahrens, begründet werden. Das ist der Fall, wenn im Eröffnungsverfahren ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wird (§§ 21 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Alt. 1, 22 Abs. 1 InsO). Die durch sein Handeln begründeten Forderungen sind nach § 55 Abs. 2 S. 1 InsO automatisch Masseverbindlichkeiten (z.B. Kaufpreis für den Kauf von Kopierpapier). Hat der vorläufig starke Verwalter Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer in Anspruch genommen, sind die Ansprüche auf Lohnzahlung (§ 611 BGB) Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 S. 2 InsO.BAG NZI 2022, 341 Rn. 12; BGH NZI 2016, 779 Rn. 25 ff. Für den vorläufig schwachen Verwalter ist § 55 Abs. 2 InsO nicht analog anwendbar. Das Gericht kann ihm aber durch Einzelermächtigung (§ 21 Abs. 1 S. 1 InsO) die Befugnis verleihen, Masseverbindlichkeiten zu begründen.BGH NJW 2019, 1940 Rn. 53; MüKoInsO/Erdmann InsO § 55 Rn. 63.

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Ein weiterer Sonderfall ist das sog. Fiskusprivileg, das in § 55 Abs. 4 InsO geregelt ist. Die Norm wurde durch das SanInsFoG reformiert. Der Anwendungsbereich ist nunmehr auf bestimmte Steuern und sonstige Abgaben beschränkt. Nach § 55 Abs. 4 S. 1 InsO werden Umsatzsteuerverbindlichkeiten, die von einem vorläufig starken Verwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufig schwachen Verwalters oder im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren mit Zustimmung des Sachwalters begründet worden sind, automatisch zu Masseverbindlichkeiten hochdeklariert.BeckOK InsR/Erdmann InsO § 55 Rn. 71 ff; näher Keilbach NZI 2022, 256. Gleichgestellt sind nach § 55 Abs. 4 S. 2 InsO sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben (Nr. 1), bundesgesetzlich geregelte Verbrauchssteuern (Nr. 2), die Luftverkehr- und Kraftfahrzeugsteuer (Nr. 3) und die Lohnsteuer (Nr. 4). Begründet wird das Fiskusprivileg damit, dass der Fiskus sich den Schuldner nicht aussuchen und keine Sicherheiten für seine Ansprüche vereinbaren kann. Die Kritik an der Neuregelung überwiegt.

Insolvenzgläubiger und Massegläubiger

c) Geltendmachung

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Massegläubiger können ihre Ansprüche außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend machen. Zahlt der Insolvenzverwalter nicht, muss der Massegläubiger seinen Anspruch gegen den Insolvenzverwalter gerichtlich durch Leistungsklage geltend machen.BGH NZI 2022, 472 Rn. 10; NJW 2018, 1169 Rn. 23; Braun/Bäuerle InsO § 53 Rn. 7. Der Insolvenzverwalter ist als Partei kraft Amtes passiv legitimiert.BeckOK InsR/Erdmann InsO § 53 Rn. 10. Örtlich zuständig für die Zahlungsklage sind die ordentlichen Gerichte am Sitz des Insolvenzgerichts (§ 19a InsO). Gewinnt der Massegläubiger den Prozess, ist die Vollstreckung in die Masse erlaubt (§ 90 Abs. 2 InsO). Einschränkungen gelten bei Masseunzulänglichkeit nach § 208 InsO.

3. Nachrangige Gläubiger

a) Grundlagen

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Hinweis

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Lesen Sie die Vorschrift des § 39 InsO einmal vollständig durch. Sie enthält in § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO komplizierte Fragestellungen aus dem Gesellschaftsrecht.

Die nachrangigen Gläubiger (§ 39 InsO) werden erst nach vollständiger Befriedigung der Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) berücksichtigt. Sie stehen in der Insolvenz somit an letzter Stelle und können mit ihren Forderungen erst dann am Insolvenzverfahren teilnehmen, wenn zuvor alle Insolvenzgläubiger zu 100 % befriedigt worden sind (kommt in der Praxis kaum vor). Die nachrangigen Gläubiger sind in § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 5, Abs. 2, 3 InsO abschließend aufgelistet. Die dort genannten Forderungen werden in der zwingenden Rangfolge des § 39 InsO nacheinander befriedigt. An erster Stelle stehen die Zinsansprüche (§ 39 Abs. 1 S. Nr. 1 InsO), an zweiter Stelle Kosten, wie z.B. Anwaltskosten für die Forderungsanmeldung (§ 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO), an dritter Stelle Säumniszuschläge (§ 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 InsO), an vierter Stelle Schenkungsforderungen (§ 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 InsO) und an fünfter Stelle Ansprüche auf Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens (§ 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO). Danach folgen die Gläubiger, deren Nachrang sich aus einer besonderen Vereinbarung ergibt (§ 39 Abs. 2 InsO). Alle nachrangigen Gläubiger dürfen ihre Forderungen erst nach separater Aufforderung durch das Insolvenzgericht zur Tabelle anmelden (§ 174 Abs. 3 InsO).

b) Gesellschafterdarlehen

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In der Insolvenz sind Gesellschafterdarlehen als nachrangige Forderungen im Rang des § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO eingruppiert und damit dem Eigenkapital angenähert.Vgl. BGH NZI 2020, 790 Rn. 27; NJW 2019, 2923 Rn. 24. Die Norm ist anwendbar, wenn der Schuldner (Darlehensempfänger) eine juristische Person oder eine Personengesellschaft ist, die keine natürliche Person als Vollhafter hat (§ 39 Abs. 4 S. 1 InsO). Erfasst sind insbesondere die Rechtsformen der GmbH, UG, AG und die GmbH & Co. KG.

Beispiel

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Gesellschafter der MODEHAUS GmbH sind Max (M) und Fred (F). Fred hat ein Jahr vor Insolvenzeröffnung der GmbH ein Darlehen über 400 000 EUR gewährt. Im Insolvenzverfahren ist (F) mit seiner Forderung auf Rückzahlung des Darlehens (§ 488 Abs. 1 S. 2 BGB) nachrangiger Gläubiger (§ 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO). Er kann nur nach gesonderter Aufforderung seine Forderung zur Tabelle anmelden (§ 174 Abs. 3 InsO) und bekommt erst dann eine Ausschüttung, wenn sämtliche Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) der MODEHAUS GmbH zu 100 % befriedigt sind. Das ist so gut wie nie der Fall. (F) wird daher leer ausgehen.

aa) Gesellschafter als Darlehensgeber

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Weitere Voraussetzung für die Anwendung des § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO ist, dass der Darlehensgeber Gesellschafter ist. Dazu gehört der unmittelbar am Schuldner beteiligte Gesellschafter. Aber auch Dritte können einem Gesellschafter gleichgestellt sein. Das gilt insbesondere für verbundene Unternehmen bei vertikaler oder horizontaler Verbindung.BGH NZI 2020, 790 Rn. 22; NZI 2020, 422 Rn. 7; Ganter NZI 2021, 1, 7. Ein Dritter kann kraft Vereinbarung einem Gesellschafter gleichgestellt sein.BGH NZI 2020, 790 Rn. 30 ff. Nicht ausreichend ist die Stellung als Hausbank oder Pfandgläubiger.

bb) Gesellschafterdarlehen

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Ein Gesellschafterdarlehen i.S.d. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO liegt vor, wenn der Gesellschafter der Gesellschaft einen Geldbetrag in einer vereinbarten Höhe zur Verfügung gestellt hat und die Gesellschaft verpflichtet ist, den Geldbetrag zurückzuzahlen (§ 488 Abs. 1 BGB).BGH NZI 2021, 90 Rn. 10; NJW 2019, 2923 Rn. 31. Es bedarf einer vertraglich wirksamen Grundlage durch ausdrückliche oder konkludente Vereinbarung. Unerheblich ist, zu welchem Zweck und zu welchem Zeitpunkt das Darlehen gewährt wurde. Auch kurzfristige Überbrückungskredite werden erfasst.BGH NZI 2013, 804 Rn. 29; BeckOK InsR/Prosteder/Dachner InsO § 39 Rn. 82. 

cc) Darlehensgleiche Forderungen

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Nach der Generalklausel des § 35 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO sind Forderungen des Gesellschafters, die einem Darlehen wirtschaftlich entsprechen, Gesellschafterdarlehen gleichgestellt (sog. darlehensgleiche Forderungen). Mit der Regelung sollen sämtliche Rechtshandlungen einbezogen werden, die wie ein Darlehen Finanzierungsfunktion haben.BGH NJW 2019, 2923 Rn. 22 ff.; Braun/Bäuerle InsO § 39 Rn. 20. Entscheidend ist, dass der Gesellschafter der Gesellschaft einen Kapitalwert temporär zur Nutzung überlässt. Der Betrag muss der Gesellschaft zur freien Verfügung stehen und Gesellschafter und Gesellschaft müssen sich von vornherein einig sind, dass der Betrag zurückzuzahlen ist. Darlehensgleich können daher auch Austauschgeschäfte (Kauf-, Miet-, Dienstverträge) sein, wenn der Betrag für das Austauschgeschäft länger als drei Monate (rechtsgeschäftlich) gestundet bzw. (faktisch) stehen gelassen wird.BGH NZI 2021, 90 Rn. 18; NZI 2021, 180 Rn. 12; NZG 2019, 1192 Rn. 13 ff. Auch stehen gelassene Vergütungsansprüche eines Gesellschafters sind erfasst. Ist durch einen Gewinnverwendungsbeschluss ein Anspruch des Gesellschafters auf Ausschüttung entstanden, handelt es sich um eine darlehensgleiche Forderung, wenn die Gewinnforderung über einen längeren Zeitraum stehen gelassen wird.BGH NZI 2021, 180 Rn. 13 (Stehenlassen über 8 Monate). Eine weitere Fallgruppe ist die Zuführung liquider Mittel auf Grund eines nichtigen Darlehensvertrags (z.B. Sittenwidrigkeit § 138 BGB, Scheingeschäft § 117 BGB).BGH NJW 2019, 2923 Rn. 35 f.

dd) Ausnahmen vom Nachrang

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Die Nachrangregelung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO wurde wegen der COVID-19-Pandemie temporär ausgesetzt. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 SanInsKG (vormals COVInsAG) sind die Nachrangregelungen für Insolvenzverfahren, die bis 30.9.2023 beantragt wurden, nicht anwendbar, sofern die Gesellschafterdarlehen im Aussetzungszeitraum neu begeben wurden.BeckOK InsR/Prosteder/Dachner InsO § 39 Rn. 106a. Für zahlungsunfähige Unternehmen war die Insolvenzantragspflicht bis zum 30.9.2020 ausgesetzt, für überschuldete Unternehmen bis zum 31.12.2020 (§ 1 SanInsKG). Die Privilegierung soll gewährleisten, dass Gesellschafter, die ihrer Gesellschaft im Corona-Krisenjahr neue Darlehen zugeführt haben, nicht für ihre „Hilfestellung“ sanktioniert werden.

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Das sog. Sanierungsprivileg des § 39 Abs. 4 S. 2 InsO stellt einen Ausnahmefall zu § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO dar. Erwirbt ein neuer Gesellschafter bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung Gesellschaftsanteile zum Zweck der Sanierung, führt dies bis zur nachhaltigen Sanierung nicht zur Anwendung des § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO. Der Darlehensgeber ist mit seinem Darlehen Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO), nicht nachrangiger Gläubiger. Damit kann die Gesellschaft auch in Krisenzeiten neue Investoren gewinnen.

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Eine weitere Ausnahme stellt das sog. Minderheitenprivileg nach § 39 Abs. 5 InsO dar. Ist ein Gesellschafter mit 10 % oder weniger am Stammkapital beteiligt und nicht als Geschäftsführer tätig, findet § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO keine Anwendung. Grund ist, dass nichtgeschäftsführende Minderheitengesellschafter keinen Einfluss auf das operative Geschäft der Gesellschaft haben. Der Minderheitengesellschafter ist normaler Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO).BGH NZI 2018, 76 Rn. 23.

c) Nachrangvereinbarungen

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Den Parteien steht es frei, freiwillig einen schlechten Rang zu vereinbaren (vgl. § 39 Abs. 2 InsO). Dies wird als Nachrangabrede oder Rangrücktritt bezeichnet. Finanzieren sich Unternehmen über die Ausgabe von Schuldverschreibungen (Anleihen; §§ 793 BGB) oder Genussrechten (§ 221 Abs. 3 AktG) an private oder institutionelle Anleger, sind in den Ausgabebedingungen häufig „Nachrangabreden“ zu finden. Diese Vereinbarungen sind grundsätzlich von § 39 Abs. 2 InsO erfasst. Inhalt und Reichweite eines Nachrangs können Schuldner und Gläubiger frei vereinbaren.BGH NZI 2022, 425 Rn. 35; OLG Düsseldorf NZI 2018, 317, 319. Sind Verbraucher betroffen, unterliegen Nachrangvereinbarungen der AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB). Eine einfache Nachrangvereinbarung ist nicht überraschend und verstößt im Regelfall nicht gegen § 307 Abs. 2 S. 1 BGB.BGH NZI 2018, 482 Rn. 34 ff. Eine strengere Beurteilung trifft der BGH, sofern es sich um hybride Finanzierungsformen mit einer sog. qualifizierten Nachrangabrede handelt. Bei diesem Vertragstypus stellt der Kapitalgeber dem Schuldner für eine bestimmte Laufzeit ein Darlehen zur Verfügung und garantiert zugleich, dass der Anspruch auf Rückzahlung des Kapitals im Fall der wirtschaftlichen Krise (Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit, Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) dauerhaft ausgeschlossen ist (sog. vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre).BGH NZI 2022, 425 Rn. 31, 35; NZI 2019, 509 Rn. 32; BeckOK InsR/Prosteder/Dachner InsO § 39 Rn. 109. Einem formularmäßigen Rangrücktritt setzt der BGH hier enge Grenzen. Wird nicht über den Wesenskern einer qualifizierten Nachrangabrede aufgeklärt, verstößt die Nachrangabrede gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB und ist nichtig.BGH NZI 2020, 269 Rn. 22 ff.; NZI 2019, 509 Rn. 34 ff.; BeckOK InsR/Prosteder/Dachner InsO § 39 Rn. 118.

4. Aussonderungsberechtigte Gläubiger

42

Nach § 35 Abs. 1 InsO steht den Insolvenzgläubigern nur das dem Schuldner gehörende Vermögen (Insolvenzmasse) zur Befriedigung zur Verfügung. Das Aussonderungsrecht betrifft Gegenstände, die nicht zur Insolvenzmasse gehören. Nach § 47 S. 1 InsO ist zur Aussonderung berechtigt, wer aufgrund eines dinglichen oder persönlichen Rechts geltend machen kann, dass ein Gegenstand nicht zur Insolvenzmasse gehört.Braun/Bäuerle InsO § 47 Rn. 1; Foerste Insolvenzrecht Rn. 90.  Der Insolvenzverwalter muss den Gegenstand herausgeben („aussondern“). Geschieht dies nicht freiwillig, muss der Aussonderungsberechtigte seinen materiell-rechtlichen Anspruch (z.B. auf Herausgabe nach § 985 BGB) außerhalb des Insolvenzverfahrens nach den allgemeinen Regeln geltend machen (vgl. § 47 S. 2 InsO; näher Rn. 369 f.).

a) Dinglich Berechtigte

43

Anspruch auf Aussonderung haben die dinglich Berechtigten. Musterfall ist das Eigentum an einer beweglichen Sache oder an einem Grundstück. Der Eigentümer kann Aussonderung verlangen, außer der Schuldner ist aufgrund (noch) bestehender Vertragsbeziehungen zum Besitz der Sache berechtigt (§ 986 BGB).Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 15; Foerste Insolvenzrecht Rn. 392. Auch der einfache Eigentumsvorbehalt (§§ 449 Abs. 1, 929, 158 BGB) gewährt ein Aussonderungsrecht, wenn der Verkäufer aufgrund Zahlungsverzugs vor Insolvenzeröffnung vom Kaufvertrag zurückgetreten ist (§ 323 BGB).Vgl. BGH NJW 2019, 1940 Rn. 65; Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 16 f. Mit dem Rücktritt ist das Besitzrecht des Käufers (§ 986 BGB) entfallen, so dass der Eigentümer (Vorbehaltsverkäufer) die Herausgabe nach § 985 BGB verlangen kann. Wird die Vorbehaltsware verarbeitet (§ 948 BGB) oder vermengt (§ 947 BGB), entsteht Miteigentum zu Bruchteilen, das ebenfalls zur Aussonderung berechtigt, sofern der Anteil bestimmbar und noch vorhanden ist.BGH NJW 2019, 1940 Rn. 72. Kein Aussonderungsrecht, sondern ein Absonderungsrecht gewähren sicherungsübereignete Gegenstände oder der verlängerte Eigentumsvorbehalt (Rn. 48). Weitere Aussonderungsrechte sind beschränkt dingliche Rechte (Nießbrauch, Erbbaurecht, Grunddienstbarkeit) und ein durch Vormerkung gesicherter Anspruch.HK-InsO/Lohmann § 47 Rn. 13 f.

b) Persönlich Berechtigte

44

Auch schuldrechtliche Herausgabeansprüche können Aussonderungsrechte begründen. Der Verleiher kann die entliehene Sache aussondern (§ 604 BGB), der Besteller das dem Werkunternehmer überlassene Werk (§ 631 BGB). In der Mieterinsolvenz steht dem Vermieter nach Beendigung des Mietverhältnisses ein Aussonderungsanspruch zu (§ 546 Abs. 1 BGB).BGH NZI 2019, 536 Rn. 36; Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 20. Auch treuhänderisch übertragene Rechte können vom Treugeber ausgesondert werden.BGH NZI 2012, 803, 804; zu den Voraussetzungen BeckOK InsR/Haneke InsO § 47 Rn. 106 ff. Bloße Verschaffungsansprüche (z.B. Anspruch auf Übereignung der Kaufsache § 433 Abs. 1 S. 1 BGB) begründen hingegen kein Aussonderungsrecht.

5. Absonderungsberechtigte Gläubiger

45

Die Absonderungsrechte sind in den §§ 49 bis 52 InsO geregelt. Klassische Absonderungsrechte sind Grundschulden, Hypotheken, Sicherungsübereignung sowie Sicherungsabtretung. Die Absonderungsberechtigten sind privilegierte Gläubiger, da sie exklusiv aus dem Veräußerungserlös ihres Sicherungsguts befriedigt werden.Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 91 (mit Beispiel).

 

a) Grundstücke

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Nach § 49 InsO ist zur Absonderung berechtigt, wer sich aus einem Gegenstand befriedigen kann, der der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen (Grundstücke, Wohnungseigentum, Erbbaurechte, eingetragene Schiffe, Luftfahrzeuge) unterliegt. Zur abgesonderten Befriedigung berechtigen vor allem die Grundpfandrechte (Grundschuld, Hypothek) und die Reallasten (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG). Auch persönliche Forderungen von Gläubigern, die bereits eine insolvenzfeste Beschlagnahme bewirkt haben (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG), gewähren ein Absonderungsrecht, wobei die Beschlagnahme wegen der Rückschlagsperre des § 88 InsO länger als einen Monat vor dem Eröffnungsantrag zurückliegen muss.

b) Mobiliarsicherheiten

47

Zu den Absonderungsrechten an beweglichen Gegenständen gehören vor allem die typischen Kreditsicherheiten, wie das Sicherungseigentum und die Sicherungszession (§ 51 Nr. 1 InsO). Die Sicherungsübereignung von beweglichen Sachen (§§ 930, 868 BGB) ist in der Unternehmenspraxis besonders häufig anzutreffen. Regelmäßig lassen sich Kreditinstitute zur Absicherung der ausgereichten Kredite Sicherheiten am Umlaufvermögen einräumen, etwa durch Übereignung des Fuhrparks oder des Warenlagers mit wechselndem Bestand (Raumsicherungsvertrag). Auch die Sicherungsabtretung von Forderungen (§ 398 BGB) ist ein klassisches Sicherungsmittel. Forderungen aus Lieferungen und Leistungen werden häufig mittels Globalzession (z.B. Abtretung aller Kundenforderungen mit den Anfangsbuchstaben A bis Z) an die Banken oder Lieferanten abgetreten.Knauth NZI 2021, 158, 161; Huber NZI 2020, 89, 90. Die Sicherungsnehmer sind keine Aus-, sondern Absonderungsberechtigte.Vgl. BGH NZI 2016, 633 Rn. 9 (Sicherungseigentum). Absonderung und Aussonderung unterscheiden sich erheblich. Während die Aussonderung (§ 47 InsO) auf die Herausgabe des Gegenstands gerichtet ist, steht den Absonderungsberechtigten weder ein Anspruch auf Herausgabe noch ein Recht auf Verwertung des Sicherungsguts zu. Vielmehr ist der Insolvenzverwalter für die Verwertung zuständig (§ 166 Abs. 1 InsO; näher Rn. 371 ff.).

Hinweis

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Während das Sicherungseigentum in der Einzelzwangsvollstreckung wie das Vollrecht behandelt wird (= Recht auf Drittwiderspruchsklage § 771 ZPO, nicht nur Recht auf vorzugsweise Befriedigung § 805 ZPO), wird das Sicherungseigentum in der Insolvenz funktionell und wirtschaftlich wie ein Pfandrecht behandelt.

48

Zu den Absonderungsrechten gehören auch die Sonderformen des Eigentumsvorbehalts, wie der verlängerte Eigentumsvorbehalt, der erweiterte Eigentumsvorbehalt oder der verlängerte Eigentumsvorbehalt mit Verarbeitungsklausel.HK-InsO/Lohmann § 51 Rn. 33; Reischl Insolvenzrecht Rn. 417. Der verlängerte Eigentumsvorbehalt ist dadurch gekennzeichnet, dass der Verkäufer dem Schuldner die Weiterveräußerung der Ware gestattet, sich im Gegenzug die Forderungen aus der Weiterveräußerung zur Sicherheit abtreten lässt (§ 398 BGB) und den Schuldner ermächtigt, die Forderungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang einzuziehen (§ 185 BGB).Vgl. BGH NZI 2020, 164 Rn. 17 ff.; Foerste Insolvenzrecht Rn. 397. Beim verlängerten Eigentumsvorbehalt mit Verarbeitungsklausel gestattet der Verkäufer dem Käufer die Verarbeitung auf Grundlage einer Herstellerklausel, so dass der Verkäufer das originäre Eigentum an der neu hergestellten Sache erhält (§ 950 BGB).Foerste Insolvenzrecht Rn. 396; Gottwald/Haas/Adolphsen Insolvenzrechts-Handbuch § 43 Rn. 36 f. Arbeiten mehrere Zulieferer mit der Herstellerklausel, kommt es zu entsprechendem Miteigentum an der neuen Sache.

49

Für das Bestehen des Absonderungsrechts ist der absonderungsberechtigte Gläubiger beweisbelastet. Der Insolvenzverwalter hat die Aufgabe, das Bestehen eines Absonderungsrechts sorgfältig prüfen, insbesondere ob Nichtigkeitsgründe entgegenstehen. Nichtig ist eine Sicherheit, wenn es an der Bestimmbarkeit fehlt, etwa wenn der Raum bei einem Raumsicherungsvertrag nicht klar genug bezeichnet wird oder die erfassten Gegenstände nicht ausreichend individualisiert sind.Gottwald/Haas/Adolphsen Insolvenzrechts-Handbuch § 43 Rn. 76. Ein Nichtigkeitsgrund ist die Übersicherung (§ 138 BGB). Dieses Problem stellt sich vor allem bei den Globalsicherheiten (Globalzession, Übereignung des Warenlagers etc.). Eine Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) kann sich im Einzelfall auch aus der Knebelung des Schuldners, einer Insolvenzverschleppung oder einer anderweitigen Gläubigergefährdung ergeben.BGH NZI 2016, 659 Rn. 39 ff., 51 ff. mit umfangr. Nachw. Ist die Sicherheit nicht wirksam bestellt, besteht kein Absonderungsrecht, so dass der Verwertungserlös in die Masse fällt. Machen mehrere Personen Absonderungsansprüche an denselben Gegenständen geltend, muss der Verwalter penibel prüfen, wer Berechtigter ist. Hat der Schuldner ein Warenlager, treffen Eigentumsvorbehalt, Vermieterpfandrecht und Raumsicherungsübereignung häufig aufeinander. Das Vermieterpfandrecht geht einer Raumsicherungsübereignung vor, und zwar sowohl für Ware, die im Zeitpunkt der Sicherungsübereignung bereits eingebracht war, als auch für später zugeführte Ware.BGH NJW 2019, 1940 Rn. 74. Bei Zusammentreffen eines verlängerten Eigentumsvorbehalts und einer Globalzession gebührt dem verlängerten Eigentumsvorbehalt der Vorrang; die Praxis verwendet dingliche Verzichtsklauseln, die eine Freigabe zugunsten der Lieferanten beinhaltet.HK-InsO/Lohmann § 51 Rn. 45.

c) Pfandrechte und Pfändungspfandrechte

50

Absonderungsrechte nach § 50 Abs. 1 InsO gewähren die vertraglich vereinbarten Pfandrechte (§§ 1204 ff., 1279 ff. BGB)Vgl. BGH NZI 2022, 373 Rn. 5 (Verpfändung eines Sparguthabens). und die gesetzlichen (teils besitzlosen) Pfandrechte (z.B. §§ 562, 592, 647 BGB, § 397 HGB). In der Insolvenz von Unternehmen hat vor allem das Vermieterpfandrecht (§ 562 BGB) Relevanz. Das Absonderungsrecht des Vermieters erstreckt sich auf alle pfändbaren Gegenstände, die während der Mietzeit willentlich auf das Mietgrundstück verbracht worden sind. Dazu gehören auch die dort bestimmungsgemäß abgestellten Fahrzeuge. Nach dem Wortlaut des § 562a S. 1 BGB erlischt das Pfandrecht, wenn das Fahrzeug vom Grundstück „entfernt“ worden ist, wobei auch eine vorübergehende Entfernung genügt (§ 562a S. 1 BGB).BGH NZI 2018, 174 Rn. 15 ff. Entscheidend ist der Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung. Das Vermieterpfandrecht erlischt zudem, wenn der Vermieter der Entfernung der Ware zustimmt (§§ 578 Abs. 2 i.V.m. 578 Abs. 1, 562a BGB). Das Absonderungsrecht des Vermieters ist beim gesetzlichen Vermieterpfandrecht nach der Sonderregelung des § 50 Abs. 2 S. 1 InsO auf die Mietansprüche aus den letzten 12 Monaten vor Insolvenzeröffnung beschränkt und umfasst nicht die Schadensersatzansprüche aus § 109 Abs. 1 S. 3 InsO infolge der Kündigung des Insolvenzverwalters. Für vertragliche Mietsicherheiten (Barkaution, Sparguthaben) gilt § 50 Abs. 2 S. 1 Fall 2 InsO jedoch nicht.Vgl. BGH NZI 2022, 373 Rn. 17 ff.

51

Eine wichtige Gruppe der Absonderungsberechtigten bilden die Vollstreckungsgläubiger. So berechtigt auch das Pfändungspfandrecht zur Absonderung (§ 50 Abs. 1 InsO). Hat der Gerichtsvollzieher eine bewegliche Sache gepfändet (§ 808 ZPO) oder das Vollstreckungsgericht einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erlassen (§§ 828 ff. ZPO), berechtigt das Pfändungspfandrecht zur Absonderung, sofern es mehr als einen Monat vor dem Eröffnungsantrag entstanden ist (andernfalls gilt die Rückschlagsperre des § 88 InsO).Foerste Insolvenzrecht Rn. 415.

d) Sicherheitenpool

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Nicht selten geraten die Absonderungsberechtigten bei der Geltendmachung ihrer Rechte in Beweisschwierigkeiten. Dies gilt vor allem bei konkurrierenden Teil-Verarbeitungsklauseln. Fest steht zwar, dass mehrere Gläubiger die Rechte haben, aber unklar ist, wem bzw. zu welchem Teil sie wem gehören. In derartigen Fällen hilft der sog. Sicherheitenpool.Hierzu Foerste Insolvenzrecht Rn. 417 ff.; K. Schmidt/Thole InsO § 51 Rn. 24 ff. Hier bringen die Absonderungsberechtigten ihre Sicherungsrechte in einen „Pool“ ein, indem sie eine GbR mit dem Ziel der gemeinsamen Durchsetzung/Verwertung der individuell erlangten Sicherheiten gründen und ihre Rechte an die GbR abtreten. Da die GbR damit alle Ansprüche der Zulieferer erworben hat, kann der Verwalter nicht entgegnen, dass der Anteil am Forderungserwerb nicht bestimmbar sei. Im Innenverhältnis müssen sich die Zulieferer über die prozentuale Verteilung der Beträge einigen.

e) Besonderheiten bei Ausfall

53

Häufig sind Absonderungsberechtigte in einer Doppelrolle (vgl. § 52 S. 1 InsO). Wurde einer Bank zur Sicherung ihres Kredits ein Gegenstand sicherungsübereignet, ist sie mit ihrer persönlichen Forderung gegen den Schuldner auf Rückzahlung des Darlehens Insolvenzgläubigerin (§ 38 InsO) und bezüglich des Sicherungseigentums an der beweglichen Sache Absonderungsberechtigte (§ 51 Nr. 1 InsO). Der Absonderungsberechtigte hat ein Wahlrecht. Er kann nur den schuldrechtlichen Anspruch, nur sein Absonderungsrecht oder beides zusammen geltend machen. So kann er auf das Absonderungsrecht verzichten (vgl. § 52 S. 2 InsO) und nur die persönliche Forderung zur Tabelle anmelden.Zum Verzicht BGH NZI 2017, 345 Rn. 12 f. Dieses Vorgehen empfiehlt sich für Grundschuldgläubiger mit schlechtem Rang, die bei Verwertung des Grundstücks (Zwangsversteigerung) leer ausgehen. Der Absonderungsberechtigte kann auch zweigleisig vorgehen, indem er sein Absonderungsrecht geltend macht und parallel die persönliche Forderung mit dem Zusatz „für den Ausfall“ zur Tabelle anmeldet. Meldet er ohne die Beschränkung „für den Ausfall“ an, ist darin kein konkludenter Verzicht auf das Absonderungsrecht zu sehen.BGH NZI 2017, 345 Rn. 16; Braun/Bäuerle InsO § 52 Rn. 13. Grund ist, dass der Ausfall erst im Rahmen der Verteilung Bedeutung erlangt (vgl. § 190 InsO). Die Insolvenzquote wird allein aus dem Ausfall berechnet, also dem Teilbetrag, der durch den Erlös aus der abgesonderten Befriedigung nicht getilgt worden ist.BeckOK InsR/Haneke InsO § 51 Rn. 11; Bork Insolvenzrecht Rn. 306. Das stellt § 52 S. 2 InsO klar.

Beispiel

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Die A-Bank hat der MODEHAUS GmbH zwei Jahre vor Insolvenzeröffnung ein Darlehen über 100 000 EUR gegen Sicherungsübereignung des Warenlagers gewährt. Mit ihrer persönlichen Forderung auf Darlehensrückzahlung ist sie Insolvenzgläubigerin (§ 38 InsO). Die Bank kann die Forderung über 100 000 EUR zur Tabelle anmelden (§§ 174 ff. InsO). Wird das Warenlager verwertet und der Erlös von 48 000 EUR an die Bank herausgegeben,Abgezogen werden noch Umsatzsteuer, Feststellungs- und Verwertungskosten (§ 171 InsO). bekommt die Bank die Insolvenzquote lediglich in Höhe ihres Ausfalls (aus 52 000 EUR).

6. Neugläubiger

54

Die Neugläubiger haben mit dem aktuellen Insolvenzverfahren „nichts am Hut“ (daher gibt es auch keinen Paragrafen in der InsO). Neugläubiger sind Gläubiger, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Vermögensanspruch gegen den Schuldner erwerben.Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 61; MüKoInsO/Breuer/Flöther InsO § 89 Rn. 11. Sie sind keine Massegläubiger, da nicht der Insolvenzverwalter, sondern der Schuldner handelt, der auch nach Insolvenzeröffnung neue Verpflichtungsgeschäfte eingehen kann (§ 81 InsO verbietet nur Verfügungen).Foerste Insolvenzrecht Rn. 65. Sie sind auch keine Insolvenzgläubiger, da es sich um ein Rechtsgeschäft nach Insolvenzeröffnung handelt.

Beispiel

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Hotelbesitzerin Hanna (H) ist insolvent. Nach Insolvenzeröffnung kauft sie bei Einzelhändler Enrico (E) einen Toaster für 50 EUR. (E) kann als Neugläubiger seinen Anspruch auf Kaufpreiszahlung unmittelbar gegen (H) geltend machen.BGH NZI 2016, 484 Rn. 7. (H) haftet gegenüber ihren Neugläubigern jedoch nur mit ihrem insolvenzfreien Vermögen.BGH NZI 2021, 342 Rn. 13. Denn solange das Insolvenzverfahren läuft, gehört ihr altes und neues Vermögen zur Insolvenzmasse (§ 35 InsO). Erst nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens ist ein Zugriff auf das (neue) Vermögen des Schuldners erlaubt.

7. Organisation der Gläubiger

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Die InsO räumt den Insolvenzgläubigern erheblichen Einfluss auf das Insolvenzverfahren ein, da es primär ihren Interessen dient. Aufgrund der Vielzahl von Gläubigern bedarf es einer Organisation, die eine Willensbildung aller Gläubiger ermöglicht. Zwingendes Organ ist die Gläubigerversammlung (eine Art „Hauptversammlung“ für Grundlagenentscheidungen). Weitere Organe sind der vorläufige Gläubigerausschuss und der Gläubigerausschuss.

a) Gläubigerversammlung

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In der Gläubigerversammlung koordinieren und vertreten die Gläubiger ihre Interessen. Teilnahmeberechtigt sind alle Insolvenzgläubiger, alle absonderungsberechtigten Gläubiger, die Mitglieder des Gläubigerausschusses sowie das Insolvenzgericht und der Schuldner (§ 74 Abs. 1 S. 2 InsO). Die Kompetenzen der Gläubigerversammlung sind in §§ 74 ff. InsO näher geregelt.

aa) Einberufung

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Die erste Gläubigerversammlung (= Berichtstermin nach § 156 InsO) soll innerhalb von sechs Wochen (spätestens aber nach drei Monaten) nach Insolvenzeröffnung einberufen werden (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Zuständig ist das Insolvenzgericht (§ 74 Abs. 1 S. 1 InsO), welches auch die Leitung der Versammlung (§ 76 Abs. 1 InsO) übernimmt. Weitere Versammlungen sind der Prüfungstermin (§ 176 InsO), der Schlusstermin (§ 197 InsO) sowie der Erörterungs- und Abstimmungstermin über einen Insolvenzplan (§ 235 InsO). Sollten zusätzliche Versammlungen notwendig werden, sind diese bei Bedarf von Amts wegen oder auf Antrag des Insolvenzverwalters oder des Gläubigerausschusses oder eines Quorums der Gläubiger einzuberufen (§ 75 Abs. 1 InsO).

58

Das Gericht muss bei der Einberufung Zeit, Ort und Tagesordnung öffentlich bekannt machen (§ 74 Abs. 2 S. 1 InsO). Die Bekanntmachung erfolgt im Internet (§ 9 Abs. 1 InsO). Seit dem SanInsFoG 2021 kann die Gläubigerversammlung auch virtuell durchgeführt werden (§ 4 S. 2 InsO i.V.m. § 128a ZPO). Das Insolvenzgericht entscheidet nach pflichtgemäßen Ermessen, ob die Versammlung Online oder in Präsenz erfolgt. Im Fall einer virtuellen Versammlung muss die Ladung den Hinweis zu enthalten, dass Ton- und Bildaufzeichnungen zu unterlassen sind und durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen ist, dass Dritten die Ton- und Bildübertragung nicht zugänglich ist (§ 4 S. 2 InsO).

bb) Aufgaben

59

Obwohl zahlreiche verfahrenswichtige Entscheidungen der Gläubigerversammlung vorbehalten sind, ist die Teilnahmequote in der Praxis meist gering.Jungmann/Windau NZI 2021, 849, 850 und 852. Ob Online-Versammlungen die Teilnahmequoten steigern können, bleibt abzuwarten. Die Aufgaben der Gläubigerversammlung sind vielfältig. Sie kann den Insolvenzverwalter auswechseln (§ 57 InsO), über die Einsetzung eines Gläubigerausschusses sowie dessen Zusammensetzung entscheiden (§ 68 InsO) und vom Insolvenzverwalter Auskunft über den Sachstand verlangen (§ 79 InsO). Im Berichtstermin bestimmt die Gläubigerversammlung über den Fortgang des Verfahrens. Ihr Votum entscheidet, ob das Unternehmen stillgelegt oder vorläufig fortgeführt wird (§ 157 S. 1 InsO). Sie kann den Insolvenzverwalter mit der Ausarbeitung eines Insolvenzplans beauftragen (§ 157 S. 2 InsO). In ihrer Entscheidungsgewalt liegt es, die Veräußerung des Unternehmens an „nahestehende Personen“ oder „Großgläubiger“ zu blockieren (§ 162 InsO). Zudem muss der Verwalter die Gläubigerversammlung bei besonders bedeutsamen Rechtshandlungen (z.B. Massekredite, Grundstücksveräußerung) um Zustimmung ersuchen, falls kein Gläubigerausschuss existiert (§ 160 InsO). Sie entscheidet über die Gewährung von Unterhalt an den Schuldner und seine Familie (§ 100 InsO) und prüft die Schlussrechnung des Insolvenzverwalters (§ 66 Abs. 1 InsO).

cc) Beschlüsse

60

Die Gläubigerversammlung entscheidet durch Beschluss. Ein Beschluss der Gläubigerversammlung ist nur wirksam, wenn das Insolvenzgericht die Versammlung ordnungsgemäß einberufen (§ 74 Abs. 1 S. 1 InsO) und die Tagesordnung mit den Beschlussgegenständen ordnungsgemäß bekannt gemacht hat (§ 74 Abs. 2 S. 1 InsO).[2] Andernfalls ist der Beschluss nichtig. Ordnungsgemäß gefasste Beschlüsse der Gläubigerversammlung sind für alle Gläubiger, auch die nicht Erschienenen, bindend.

61

Nicht jeder anwesende und teilnahmeberechtigte Gläubiger hat auch ein Stimmrecht. Nach § 77 Abs. 1 S. 1 InsO gewähren nur Insolvenzforderungen, die angemeldet (§ 174 InsO) und weder vom Verwalter noch von einem Gläubiger bestritten wurden (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO), ein Stimmrecht. Findet die erste Gläubigerversammlung (der Berichtstermin), wie in der Praxis üblich, vor dem Prüfungstermin statt, genügt es für das Stimmrecht, wenn der Gläubiger seine Forderung direkt in der Gläubigerversammlung anmeldet. Wird die Forderung sogleich bestritten, ist eine Einigung über das Stimmrecht nach § 77 Abs. 2 S. 1 InsO nötig; andernfalls entscheidet das Insolvenzgericht (§ 77 Abs. 2 S. 2 InsO). Auch absonderungsberechtigte Gläubiger sind stimmberechtigt.[3] Nachrangige Gläubiger haben kein Stimmrecht (§ 77 Abs. 1 S. 2 InsO).

62

Die Beschlüsse werden mit einfacher Summenmehrheit der Anwesenden gefasst (§ 76 Abs. 2 InsO). Maßgeblich sind die Forderungsbeträge. Daher ist zunächst ist festzustellen, wie hoch die Forderungsbeträge aller stimmberechtigten (§ 77 InsO) anwesenden Gläubiger sind.Braun/Herzig InsO § 76 Rn. 10. Im zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die Forderungsbeträge der zustimmenden Gläubiger mehr als die Hälfte der Summe der Forderungsbeträge der abstimmenden Gläubiger beträgt (§ 76 Abs. 2 Hs. 1 InsO). Ist dies der Fall, ist der Beschluss zustande gekommen, auch wenn nur ein einziger Gläubiger anwesend ist und abstimmt.Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 74. Eine zusätzliche Kopfmehrheit in der Gläubigerversammlung ist nur noch in den Fällen der §§ 57 S. 2, 244 Abs. 1 Nr. 1, 272 Abs. 1 Nr. 3 InsO nötig.

63

Gegen die Beschlüsse der Gläubigerversammlung gibt es kein Rechtsmittel.Bork Insolvenzrecht Rn. 90; BeckOK InsR/Karg InsO § 76 Rn. 5. Ausnahmsweise kann das Gericht den Beschluss der Gläubigerversammlung nach § 78 Abs. 1 InsO aufheben, wenn der Beschluss dem gemeinsamen Interesse der Gläubiger widerspricht und ein Insolvenzgläubiger, ein Absonderungsberechtigter oder der Insolvenzverwalter dies beantragt. Der Verstoß muss erheblich sein. Ein Beschluss, den Betrieb des Schuldners einzustellen, ist daher aufzuheben, wenn objektiv feststeht, dass durch eine Betriebsfortführung eine erhebliche Quotenerhöhung zu erwarten ist.BGH NZI 2017, 758 Rn. 12.

b) Vorläufiger Gläubigerausschuss

64

Die Möglichkeit, einen vorläufigen Gläubigerausschuss im Eröffnungsverfahren zu installieren, wurde mit dem ESUG 2012 geschaffen (§§ 21 Abs. 1 Nr. 1a, 22a InsO). Der vorläufige Gläubigerausschuss ist nur während der Dauer des Eröffnungsverfahrens (ca. 3 Monate) tätig (näher Rn. 189 ff.). Ziel ist es, frühzeitig die Gläubiger einzubeziehen, um Sanierungschancen auszuloten.

c) Gläubigerausschuss

aa) Einsetzung

65

Der Gläubigerausschuss ist ein fakultatives Organ, das wenige Mitglieder hat und damit effizienter arbeiten kann als die Gläubigerversammlung, die wiederum über die Einsetzung und Besetzung des (endgültigen) Gläubigerausschusses entscheidet (§ 68 Abs. 1 S. 1 InsO). Da die erste Gläubigerversammlung regelmäßig erst drei Monate nach der Verfahrenseröffnung stattfindet (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO), kann das Insolvenzgericht einen (ersten) Gläubigerausschuss installieren (§ 67 Abs. 1 InsO), damit in diesem Zeitraum wichtige Entscheidungen nicht ohne Gläubigerbeteiligung erfolgen. Im Ausschuss sollen die absonderungsberechtigten Gläubiger, die Gläubiger mit den höchsten Forderungen, die Kleingläubiger sowie die Arbeitnehmer vertreten sein (§ 67 Abs. 2 S. 1, 2 InsO). Meist werden wirtschaftlich erfahrene Mitglieder benannt. Ob der gerichtlich eingesetzte Ausschuss beibehalten wird und ob alte Mitglieder gegen neue ausgetauscht werden (§ 68 Abs. 2 InsO), wird in der ersten Gläubigerversammlung entschieden. Der Beschluss bedarf der Summenmehrheit (§ 76 Abs. 2 InsO), so dass regelmäßig die Gläubiger mit den höchsten Forderungen (Banken, Lieferanten) Einfluss auf die Mitgliedschaft nehmen können.

bb) Aufgaben und Organisation

66

Eine zentrale Aufgabe des Gläubigerausschusses besteht darin, den Insolvenzverwalter zu überwachen und zu unterstützen (§ 69 S. 1 InsO). Dazu muss der Ausschuss die Geschäftsvorfälle durchforsten, die Papiere einsehen und den Geldverkehr (regelmäßig) überprüfen (§ 69 S. 2 InsO). Bei Verdachtsmomenten muss die Prüfung intensiviert werden. Da die Prüfung häufig komplex ist, kann sie an einen Sachverständigen delegiert werden; dieser muss aber sorgfältig ausgewählt und überwacht werden.BGH NJW 2015, 64, 65 f.; Uhlenbruck/Knof InsO § 69 Rn. 23. Die Pflichten sind von den einzelnen Mitgliedern des Gläubigerausschusses (nicht dem Ausschuss als Organ) zu erfüllen.BGH NJW 2015, 64, 65; Foerste Insolvenzrecht Rn. 77. Bei kleinen Verstößen gegen die InsO kann der Gläubigerausschuss den Verwalter rügen und Abhilfe fordern; erhebliche Verstöße sind dem Insolvenzgericht anzuzeigen, das für die Amtsenthebung (§ 59 InsO) zuständig ist. Der Ausschuss hat eine Vielzahl weiterer Aufgaben. Er muss einer Veräußerung bzw. Stilllegung des Betriebs, die vor dem Berichtstermin erfolgt, zustimmen (§ 158 Abs. 1 InsO) und bedeutsame Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters (z.B. Verkauf des Unternehmens, Grundstücksverkauf, Darlehensaufnahme) genehmigen (§ 160 InsO). Vor Verteilungen muss der Insolvenzverwalter die Zustimmung des Gläubigerausschusses einholen (§§ 187 Abs. 3 S. 2, 195 Abs. 1 S. 1 InsO).

67

Der Gläubigerausschuss ist ein unabhängiges und eigenständiges Organ der Insolvenzverwaltung. Wie er sich organisiert, bestimmt er selbst. Die Gläubigerversammlung ist gegenüber dem Ausschuss nicht weisungsbefugt.BGH NZI 2021, 536 Rn. 15; BeckOK InsR/Frind InsO § 69 Rn. 28. Der Gläubigerausschuss unterliegt lediglich (punktuell) der Rechtskontrolle des Insolvenzgerichts, das einen Streit über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit eines Mitglieds analog § 70 InsO entscheiden kann.BGH NZI 2021, 536 Rn. 13 ff.; Becker Insolvenzrecht § 5 Rn. 56. Der Gläubigerausschuss trifft seine Entscheidungen mit Kopfmehrheit (§ 72 InsO). Die Mitglieder haben Anspruch auf Vergütung (§ 73 Abs. 1 InsO), die vom Insolvenzgericht individuell festgesetzt wird (§§ 73 Abs. 2, 64 Abs. 1 InsO). Die Mitglieder haften bei schuldhafter Pflichtverletzung auf Schadensersatz gem. § 71 InsO (z.B. bei unzureichender Überwachung des veruntreuenden Insolvenzverwalters).Vgl. BGH NJW 2015, 64, 65. Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann das Gericht Ausschussmitglieder aus wichtigem Grund entlassen (§ 70 InsO).

d) Individuelle Einsichtsrechte

68

Das Recht auf Akteneinsicht ist im Insolvenzfall besonders bedeutsam, da die Insolvenzakte häufig Hinweise enthält, ob es zu unerlaubten Handlungen des Schuldners gekommen ist oder an welchem Tag Zahlungsunfähigkeit vorlag. Punktuelle Einsichtsrechte finden sich in §§ 154, 175 Abs. 1 S. 2, 188 Abs. 1 S. 2 InsO. Soweit die InsO keine eigene Regelung zur Akteneinsicht enthält, gilt § 299 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 4 InsO, der den Verfahrensbeteiligten ein Einsichtsrecht in die Gerichtsakten erlaubt.BGH NZI 2020,731 Rn. 5; Braun/Baumert InsO § 4 Rn. 42 ff. Zu den Verfahrensbeteiligte gehören die Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO), sofern sie ihre Forderungen zur Insolvenztabelle angemeldet haben,Vgl. BGH NZI 2022, 137 Rn. 10; abw. BGH NZI 2020, 731 Rn. 6 (erst ab Feststellung). sowie der Schuldner und seine Vertretungsorgane.BGH NZI 2021, 123 Rn. 11; MüKoInsO/Ganter/Bruns InsO § 4 Rn. 59. Dritte müssen für ein Einsichtsrecht ein rechtliches Interesse glaubhaft machen (§ 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 4 InsO).BayOblG NZI 2021, 1078 Rn. 16 ff.; NZI 2019, 830 Rn. 17 ff.; Braun/Baumert InsO § 4 Rn. 49. Der Kommanditist des Schuldners gehört nicht zu den Verfahrensbeteiligten, außer er benötigt Informationen aus der Insolvenzakte, um sich gegen eine Inanspruchnahme nach §§ 171 Abs. 2, 172 Abs. 4 HGB zu verteidigen. BGH NZI 2021, 123 Rn. 15 ff. Die Entscheidung über die Akteneinsicht ist als Justizverwaltungsakt nach § 23 Abs. 1 EGGVG justiziabel. Außerhalb des Akteneinsichtsrechts kann das Insolvenzgericht Dritten (Tagespresse, Forschungseinrichtungen) anonymisierte Abschriften seiner Entscheidungen erteilen, sofern keine berechtigten Belange entgegenstehen.BGH NZI 2021, 598 Rn. 13 ff.

III. Insolvenzgericht

1. Aufgaben

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Das Insolvenzgericht ist Hüter des Verfahrens. Es überwacht den Insolvenzverwalter und trifft zentrale Entscheidungen zum Fortgang des Insolvenzverfahrens. Wegen der weitreichenden Folgen für Schuldner und Gläubiger müssen Insolvenzrichter und Insolvenzrichterinnen über belegbare Kenntnisse im Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht sowie über Grundkenntnisse im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht verfügen (§ 22 Abs. 6 S. 2 GVG).

2. Verfahrensgrundsätze

a) Allgemeines

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Für das Insolvenzverfahren gelten die ZPO-Vorschriften analog, es sei denn, die InsO trifft eine abweichende Regelung (§ 4 S. 1 InsO). Es gilt der Dispositionsgrundsatz. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens setzt stets einen Antrag voraus (§ 13 InsO). Es gibt kein Verfahren von Amts wegen. Im Insolvenzverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 5 Abs. 1 S. 1 InsO), nicht der Verhandlungsgrundsatz. Das Insolvenzgericht muss von Amts wegen die relevanten Tatsachen ermitteln; hierzu können Sachverständige eingesetzt werden (§ 5 Abs. 1 S. 2 InsO). Der Mündlichkeitsgrundsatz ist eingeschränkt. Bei überschaubaren Vermögensverhältnissen wird das gesamte Verfahren schriftlich durchgeführt (§ 5 Abs. 2 S. 1 InsO). Auch im Übrigen kann das Gericht nach freiem Ermessen gem. § 5 Abs. 3 S. 1 InsO entscheiden, ob seine Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung ergehen.BeckOK InsR/Madaus InsO § 5 Rn. 21. § 169 GVG gilt nur, wenn das Gericht eine mündliche Verhandlung anberaumt.BGH NZI 2021, 598 Rn. 26. „Gläubigerselbstverwaltungstermine“ (Berichtstermin, Prüfungstermin) beinhalten keine mündliche Verhandlung und sind lediglich parteiöffentlich.Bork Insolvenzrecht Rn. 56.

b) Beschlüsse

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Das Insolvenzgericht entscheidet ausnahmslos durch Beschluss oder Verfügung, nie durch Urteil. Die Zustellungen im Insolvenzverfahren erfolgen stets von Amts wegen (§ 8 Abs. 1 S. 1 InsO). Im Regelfall wird der Insolvenzverwalter mit der Zustellung beauftragt (§ 8 Abs. 3 InsO). In zahlreichen Situationen schreibt die InsO nur noch die öffentliche Bekanntmachung vor. Diese erfolgt (aus Kostengründen) nach § 9 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, 3 InsO ausschließlich über das Internet (www.insolvenzbekanntmachungen.de). Die Bekanntmachung gilt als bewirkt, wenn zwei Tage seit dem Tag der Veröffentlichung im Internet verstrichen sind (§ 9 Abs. 1 S. 3 InsO). Ist beispielsweise eine Entscheidung an einem Dienstag getroffen worden, wird sie am Donnerstag um 24 Uhr wirksam.Foerste Insolvenzrecht Rn. 43. Um den Informationsfluss für die Insolvenzgläubiger, die ihre Forderungen angemeldet haben, zu verbessern, schreibt § 5 Abs. 5 S. 1 InsO Insolvenzverwaltern die Bereitstellung eines Gläubigerinformationssystems (bei Großinsolvenzen) vor, das u.a. alle Entscheidungen des Insolvenzgerichts enthält. Insolvenzkanzleien benötigen daher entsprechende Software.

c) Rechtsbehelfe

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Die InsO regelt die Rechtsschutzmöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten restriktiv. Nicht jede Entscheidung des Insolvenzgerichts ist anfechtbar. Nach § 6 Abs. 1 S. 1 InsO unterliegen die Entscheidungen nur in den Fällen der sofortigen Beschwerde, in denen die InsO die sofortige Beschwerde vorsieht.BVerfG NZI 2021, 989 Rn. 15; BGH NZI 2016, 684 Rn. 9; NZI 2016, 607 Rn. 7. Es muss aus einem Paragrafen der InsO ausdrücklich hervorgehen, dass die Entscheidung mit der sofortigen Beschwerden angreifbar ist (z.B. §§ 21 Abs. 1 S. 2, 272 Abs. 2 S. 3 InsO). Jenseits von § 6 InsO gibt es daher keine Analogien oder „Erst-recht-Schlüsse“.Madaus NZI 2022, 336, 337.

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In Bezug auf die Beschwerdesumme, die Beschwerdefrist und die Einlegung der Beschwerde gelten über § 4 S. 1 InsO die allgemeinen Vorschriften der §§ 567 ff. ZPO. Die Beschwerde muss binnen einer Notfrist von zwei Wochen eingelegt werden (§ 569 Abs. 1 ZPO). Sie ist grundsätzlich beim Ausgangsgericht (= Insolvenzgericht = Amtsgericht) einzulegen (§ 6 Abs. 1 S. 2 InsO); damit wird von § 569 Abs. 1 ZPO abgewichen. Das Insolvenzgericht kann der Beschwerde abhelfen und seine eigene Entscheidung abändern (§ 572 Abs. 1 S. 1 ZPO). Andernfalls muss es die Beschwerde unverzüglich dem Beschwerdegericht (= Landgericht) vorlegen (§ 572 Abs. 1 S. 1, Hs. 2 ZPO). Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist die Rechtsbeschwerde zum BGH eröffnet (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), vorausgesetzt das Landgericht hat diese in seiner Entscheidung zugelassen. Eine Zulassung muss erfolgen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dient (§ 574 Abs. 2, 3 ZPO).

3. Haftung

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Bei schuldhafter Pflichtverletzung des Richters sind Ansprüche aus Amtshaftung aus Art. 34 GG, 839 BGB möglich. Die Tätigkeit des Insolvenzrichters ist vorwiegend „Verwaltung“ und nicht rechtsprechende Gewalt. Das Spruchrichterprivileg (§ 839 Abs. 2 S. 1 BGB) findet nur Anwendung, soweit das Insolvenzgericht Rechtsprechungstätigkeit ausübt. Das ist der Fall, wenn das Gericht einen Insolvenzplan bestätigt (§ 248 InsO) oder eine Beschwerdeentscheidung (§ 253 InsO) trifft.Vgl. BVerfG NZI 2020, 1112 Rn. 49; BayOblG NZI 2022, 837 Rn. 21. Andere Entscheidungen, wie etwa die Auswahl eines ungeeigneten Verwalters oder die Ablehnung von Aufsichtsmaßnahmen, unterfallen nicht dem Spruchrichterprivileg.

IV. Der Insolvenzverwalter

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Die praktische Durchführung des Insolvenzverfahrens liegt in der Hand des Insolvenzverwalters.Zimmermann Insolvenzrecht Rn. 111. Er ist die zentrale Schlüsselfigur und für die Bewältigung der rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Herausforderungen verantwortlich. Die InsO unterscheidet zwischen vorläufigem und endgültigem Insolvenzverwalter. Bei Unternehmensinsolvenzen wird regelmäßig bereits im Eröffnungsverfahren ein vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt (§ 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 InsO). Mit Insolvenzeröffnung wird ein (endgültiger) Insolvenzverwalter bestellt (§ 27 Abs. 1 S. 1 InsO). Aufgaben und Vergütung sind jeweils gesondert geregelt. Ansonsten gelten dieselben Rahmenbedingungen.

1. Ernennung

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Die Ernennung des Insolvenzverwalters erfolgt durch das Insolvenzgericht im Eröffnungsbeschluss (§ 27 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 2 InsO). Wurde bereits im Eröffnungsverfahren ein vorläufiger Verwalter bestellt, wird dieser meist zum endgültigen Verwalter ernannt. In der ersten Gläubigerversammlung können die Gläubiger mehrheitlich eine andere Person zum Verwalter wählen (§ 57 S. 1 InsO). Da für den Beschluss ist eine doppelte Mehrheit (Kopf- und Summenmehrheit gem. § 57 S. 2 InsO) erforderlich ist, gelingt die Abwahl eher selten.

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Das Gericht muss bei der Auswahl die Anforderungen des § 56 InsO beachten, die über § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 InsO auch für den vorläufigen Verwalter gelten.Vgl. Braun/Böhm InsO § 22 Rn. 10. Den Gerichten wird ein weiter Ermessenspielraum zugebilligt. Nach § 56 Abs. 1 S. 1 InsO ist zum Insolvenzverwalter eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Beteiligten unabhängige natürliche Person zu bestellen. Näher Spiekermann NZI 2020, 977. Rechtsanwaltskanzleien, die als juristische Person oder Personengesellschaft organisiert sind, können nicht zum Verwalter ernannt werden.BVerfG NZI 2016, 163 Rn. 42 (verfassungsgemäß); BGH NJW 2013, 3374. Geschäftskunde setzt betriebswirtschaftliche und (insolvenz-)rechtliche Kenntnisse sowie praktische Erfahrungen voraus. Das Erfordernis der Unabhängigkeit soll die nötige Distanz zum Schuldner sowie zu den Gläubigern gewährleisten. Sie wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Insolvenzverwalter vom Schuldner oder einem Gläubiger vorgeschlagen wird (§ 56 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 InsO). Auch eine allgemeine Beratung im Vorfeld zum Ablauf und den Folgen einer Insolvenz belässt dem Verwalter die Unabhängigkeit (§ 56 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 InsO). Sie fehlt aber dann, wenn der Verwalter den Schuldner konkret zur Insolvenzreife beraten hatBGH NZI 2016, 508 Rn. 26. oder wenn er am Schuldner beteiligt ist.BGH NZI 2017, 667 Rn. 11. Die vorherige Tätigkeit als Restrukturierungsbeauftragter oder Sanierungsmoderator in einem StaRUG-Verfahren ist grundsätzlich unschädlich. Dies ergibt sich mittelbar aus § 56 Abs. 1 S. 2 InsO, der nur bei Groß-Unternehmen (vgl. § 22a Abs. 1 InsO) eine ausdrückliche Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses verlangt. Zu den persönlichen Anforderungen gehört neben der fachlichen Qualifikation und auch seine persönliche Integrität,BGH NZI 2017, 667 Rn. 14; NZI 2016, 892 Rn. 8. die sowohl persönliche Zuverlässigkeit als auch einen  korrekten Umgang mit fremden Vermögen voraussetzt. Im Übrigen muss der Verwalter über eine hinreichend personelle und technische Büroorganisation verfügen.BGH NZI 2016, 913 Rn. 17 f.; Foerste Insolvenzrecht Rn. 49. Seit 2021 soll er darüber hinaus ein elektronisches Gläubigerinformationssystem vorhalten (§ 5 Abs. 5 InsO).

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Vorsicht

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Der vorläufige Gläubigerausschuss spielt bei der Auswahl des Insolvenzverwalters eine wichtige Rolle.


Existiert ein vorläufiger Gläubigerausschuss (§§ 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1a, 22a InsO), ist er an der Auswahl des Insolvenzverwalters zu beteiligen. Nach § 56a Abs. 1 InsO (i.V.m. § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 InsO) muss er zu den Anforderungen und zur Person des (vorläufigen) Insolvenzverwalters angehört werden. Das Gericht muss die Anforderungen berücksichtigen (§ 56a Abs. 2 S. 2 InsO). Schlägt der vorläufige Gläubigerausschuss im Rahmen der Anhörung einstimmig eine bestimmte Person als Verwalter vor, muss das Gericht den Vorgeschlagenen bestellen, es sei denn, er ist ungeeignet (§ 56a Abs. 2 S. 1 InsO). Damit haben es die Mitglieder des Gläubigerausschusses in der Hand, die Person in Stellung zu bringen, die aus ihrer Sicht das Insolvenzverfahren am besten managt. Das ist gewollt. Die Gläubiger sollen frühzeitig mehr Einfluss auf das Verfahren erhalten. Manchen Gerichten ist diese Regelung suspekt. Da die Gerichte über die Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses entscheiden, werden teils „kritische Gläubiger“ in den Ausschuss entsandt, so dass es zu keiner Einstimmigkeit kommt.

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Ausnahmsweise darf das Gericht die Personalauswahl ohne Konsultation des vorläufigen Gläubigerausschusses in einer Eilentscheidung treffen. Ist ein Zuwarten von zwei Werktagen nicht zumutbar, weil dies offensichtlich zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögenslage des Schuldners führt, darf das Gericht von der Anhörung des vorläufigen Gläubigerausschusses absehen (§ 56a Abs. 1 InsO). Es muss seine Entscheidung schriftlich begründen (§ 56a Abs. 3 S. 1 InsO). Der vorläufige Gläubigerausschuss hat jedoch das letzte Wort und kann in seiner ersten Sitzung einstimmig eine andere Person zum (vorläufigen) Verwalter wählen (§ 56a Abs. 3 S. 2 InsO).

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Da die Auswahlentscheidung bei Unternehmensinsolvenzen äußerst schnell getroffen werden muss, führen die Insolvenzgerichte über die zur Amtsübernahme bereiten Personen Vorauswahllisten.Vgl. OLG Brandenburg NZI 2020, 488; OLG Celle NZI 2019, 160; näher Blankenburg NZI 2020, 768; Nicht NZI 2022, 360; Brzoza NZI 2021, 513; Moderegger NZI 2017, 241. Die Vorauswahlliste hat die Funktion, dem Insolvenzgericht eine hinreichend sichere Grundlage verschaffen, damit es sein Ermessen bei der Bestellung des Insolvenzverwalters sachgerecht ausüben kann.BGH NZI 2022, 377 Rn. 28; NZI 2008, 161 Rn. 20; OLG Celle NZI 2019, 160, 161. Nach den Vorgaben des BVerfG müssen die Listen für neue geeignete Bewerber offen sein (kein „Closed Shop“). Zudem müssen die Gerichte konkrete und transparente Kriterien für die Feststellung der persönlichen und fachlichen Eignung festlegen, um die Chancengleichheit der Bewerber zu gewährleisten.BVerfG NJW 2006, 2613, 2616; BGH NZI 2016, 913 Rn. 11; NZI 2016, 516 Rn. 24; NZI 2016, 512 Rn. 23. Nicht immer genügen die Vorauswahllisten diesen Vorgaben. So sind die Merkmale der Ortsnähe und der persönlichen Erreichbarkeit keine sachgerechten Kriterien, um in die Vorauswahlliste aufgenommen zu werden.BGH NZI 2016, 512 Rn. 24 ff. Auch ein Punktesystem, das nicht sicherstellt, dass die Daten über die Verwalter auf einer gesicherten Grundlage gewonnen werden und miteinander vergleichbar sind, ist rechtswidrig.BGH NZI 2022, 377 Rn. 30 ff. (Hannoveraner Modell); Vorinstanz KG NZI 2020, 753. Die Nichtaufnahme in die Vorauswahlliste oder ein inkorrektes Ranking ist gerichtlich überprüfbar (§ 23 EGGVG).BVerfG NJW 2004, 2725, 2727 f.; BGH NZI 2022, 377 Rn. 18 ff.; OLG Brandenburg NZI 2020, 488 Rn. 9; zum Antragsgegner BGH NZI 2016, 508 Rn. 8 ff.; zur Beteiligung des zuständigen Richters BGH NZI 2017, 278.

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Die Vorauswahlliste bildet allerdings nur die Brücke zur konkreten Auswahlentscheidung des Insolvenzgerichts, das aus der Vorauswahlliste den geeignetsten Bewerber ermittelt. Die Auswahlentscheidung selbst ist unanfechtbar. Eine Konkurrentenklage in dem Sinne, dass der beste Bewerber Anspruch auf Ernennung hat, gibt es nicht.Vgl. BGH NZI 2022, 377 Rn. 48; KG NZI 2020, 753 Rn. 30; Foerste Insolvenzrecht Rn. 53. In der Praxis konkurrieren verschiedene Berufsgruppen um das Amt, wobei die Anwälte klar dominieren. Rund 95 % der bestellten Insolvenzverwalter sind Rechtsanwälte.Foerste Insolvenzrecht Rn. 49. 2022 gab es ca. 1800 Fachanwältinnen und Fachanwälte für Insolvenzrecht (ab 1.6.2022 kann die Bezeichnung „Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht“ lauten, § 1 S. 2 FAO). Dass das Berufsbild des Insolvenzverwalters nicht nur spannend, sondern auch finanziell attraktiv ist, verdeutlichen die Verdienstmöglichkeiten bei Insolvenzen großer Unternehmen. So betrug die Vergütung des Insolvenzverwalters bei Lehmann Brothers 80 Mio. EUR und bei Schlecker 15 Mio. EUR.

2. Vergütung

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Der Insolvenzverwalter hat für seine Tätigkeit Anspruch auf Vergütung (§ 63 Abs. 1 InsO). Die Höhe richtet sich nach dem Wert der Insolvenzmasse zur Zeit der Beendigung des Insolvenzverfahrens (§ 63 Abs. 1 S. 2 InsO). Näheres regeln §§ 2 ff. InsVV. Der Vergütungsanspruch ist Masseverbindlichkeit (§ 54 Nr. 2 InsO) und wird erst mit Beendigung des Insolvenzverfahrens fällig; davor kann ein Vorschuss gewährt werden.BGH NZI 2022, 137 Rn. 15. Für die Festsetzung der Vergütung ist das Insolvenzgericht zuständig (§ 64 Abs. 1 InsO). Die Bestimmungen über Höhe der Vergütung und deren Festsetzung sichern die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters.BGH NZI 2017, 260 Rn. 31. Der Beschluss über die Festsetzung der Vergütung ist öffentlich bekannt zu machen, die festgesetzten Beträge sind zu anonymisieren (vgl. § 64 Abs. 2 InsO). Mitzuteilen sind die Berechnungsgrundlage (§ 1 InsVV), die Auslagentatbestände sowie die zugrunde gelegten Zu- und Abschläge.BGH NZI 2021, 744 Rn. 26 m. Anm. Keller. Nach § 63 Abs. 1 S. 3 InsO sind je nach Umfang und Schwierigkeit Abweichungen von den Regelsätzen (§ 2 InsVV) durch Zu- oder Abschläge (§ 3 InsVV) vorzunehmen. Die Tätigkeit des vorläufigen Verwalters wird separat vergütet (§ 63 Abs. 3 InsO).

Begeht der Insolvenzverwalter eine strafbare Untreue zum Nachteil der Masse oder erschleicht er seine Bestellung durch eine strafbare Täuschung, verwirkt er in der Regel seinen Anspruch auf Vergütung.BGH NZI 2022, 918 Rn. 7; NZI 2019, 139 Rn. 16 ff.; NZI 2016, 892 Rn. 6.

3. Rechtsstellung und Theorienstreit

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Über die Rechtsstellung des Insolvenzverwalters wird seit langem konträr diskutiert. Es gibt die Vertretertheorie, die Organtheorie sowie die Amtstheorie.Übersicht bei MüKoInsO/Vuia InsO § 80 Rn. 20 ff.; HK-InsO/Kayser § 80 Rn. 13 ff. Nach der Vertretertheorie ist der Verwalter als Zwangsvertreter für den Schuldner tätig. Diese Theorie wird mehrheitlich abgelehnt, da der Verwalter vorrangig die Interessen der Gläubiger umzusetzen hat. Nach der Organtheorie handelt der Verwalter als Organ der Insolvenzmasse. Die Insolvenzmasse ist aber kein eigenes Rechtssubjekt, da der Schuldner weiterhin formeller Eigentümer bleibt. Die h.M. vertritt die Amtstheorie. Danach ist der Verwalter Partei kraft Amtes.BGH NJW 2019, 1442 Rn. 27; NZI 2018, 708 Rn. 28; NZI 2018, 581 Rn. 6. Er handelt kraft eigenen Rechts im eigenen Namen mit Wirkung für und gegen die Masse. In der Praxis wirkt sich der Theorienstreit vor allem im Prozess aus.HK-InsO/Kayser § 80 Rn. 11; Bork Insolvenzrecht Rn. 79. Nach h.M. ist der Insolvenzverwalter selbst Partei (kraft Amtes) und handelt in gesetzlicher Prozessstandschaft. Das Rubrum lautet auf seinen Namen: „Rechtsanwalt Ingo X. als Verwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der MODEHAUS GmbH – Kläger bzw. Beklagter“. War bereits ein Prozess anhängig, muss eine Klageänderung (Parteiänderung) erfolgen.

4. Haftung

a) Haftung gegenüber Beteiligten nach § 60 InsO

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Verletzt der Insolvenzverwalter schuldhaft seine Pflichten, haftet er nach § 60 Abs. 1 S. 1 InsO. Pflichtenmaßstab ist nach § 60 Abs. 1 S. 2 InsO die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters.BGH NZI 2017, 442 Rn. 12. Haftungsbegründend ist nur die Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten (= die dem Insolvenzverwalter durch die Vorschriften der InsO übertragen sind). Diese Pflichten bestehen gegenüber dem Schuldner, den Insolvenzgläubigern, den Massegläubigern sowie den Aus- und Absonderungsberechtigten, nicht aber gegenüber den Organen des Schuldners (Geschäftsführer, Vorstand). Daher muss der Insolvenzverwalter keine D&O-Versicherung für die Leitungsorgane aufrechterhalten.BGH NZI 2016, 580 Rn. 15, 16. Zu den grundlegenden Pflichten gehören die Erhaltung des zur Insolvenzmasse gehörende Vermögens, die ordnungsgemäße Verwaltung des Vermögens und die bestmögliche Verwertung.BGH NZI 2017, 442 Rn. 12; NZI 2016, 352 Rn. 15; NZI 2015, 849 Rn. 8.

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Der Insolvenzverwalter haftet nur bei Verschulden. Besondere Risiken treffen ihn bei einer Betriebsfortführung, die klassischerweise mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden ist. Entscheidet sich der Verwalter für die Fortführung des Unternehmens, muss er prüfen, ob die zu erwartenden Vorteile und Chancen für die Masse in Relation zu den damit verbundenen Kosten und Risiken wirtschaftlich sinnvoll erscheinen. Ihm steht wegen der Vielzahl an unbeherrschbaren Faktoren ein weiter Ermessensspielraum zu.BGH NZI 2017, 442 Rn. 15. Nach Ablauf einer (längeren) Einarbeitungszeit muss sich der Verwalter strikt am Insolvenzzweck der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung nach § 1 S. 1 InsO orientieren. Er überschreitet seinen Ermessensspielraum und handelt pflichtwidrig (§ 60 Abs. 1 S. 2 InsO), wenn die Betriebsfortführung angesichts der mit ihr verbundenen Kosten und Risiken nicht mehr vertretbar ist. Die Zustimmung der Gläubigerversammlung entlastet den Insolvenzverwalter nicht; sie führt nur ausnahmsweise zu einem Mitverschulden nach § 254 BGB.BGH NZI 2020, 671 Rn. 60 ff.; a.A. Lüke in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 60 Rn. 47. Eben so wenig kann sich der Insolvenzverwalter bei der Fortführung zum Zweck einer übertragenden Sanierung auf die in § 93 Abs. 2 S. 1 AktG verankerte Business Judgement Rule berufen.

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Erfolgt die Pflichtverletzung durch seine eigenen Mitarbeiter oder durch sonstige Hilfspersonen, muss sich der Verwalter deren Verschulden nach § 278 BGB zurechnen lassen; dies gilt auch, wenn er eigene Aufgaben durch fremde Unternehmen (Fachkräfte) ausführen lässt.BGH NZI 2016, 352 Rn. 19; BeckOK InsR/Desch/Hochdorfer InsO § 60 Rn. 65. Für die im Unternehmen des Schuldners beschäftigten (nicht offensichtlich ungeeigneten) Mitarbeiter, die der Verwalter nicht ausgesucht hat, trifft ihn in Abweichung zu § 278 BGB lediglich ein Überwachungsverschulden (§ 60 Abs. 2 InsO). Inhalt und Umfang des Schadensersatzanspruchs aus § 60 Abs. 1 InsO richten sich nach §§ 249 ff. BGB; der Anspruch ist auf Ersatz des negativen Interesses gerichtet. BGH NZI 2020, 671 Rn. 69; Braun/Baumert InsO § 60 Rn. 50. Die Beweislast trägt nach allgemeinen Regeln der Anspruchsteller.

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Ein Einzelschaden kann sofort gegen den Insolvenzverwalter geltend gemacht werden. Hingegen darf ein Gesamtschaden, den alle Insolvenzgläubiger durch eine Verringerung der Insolvenzmasse erleiden, während des Insolvenzverfahrens nur von einem Sonderinsolvenzverwalter verfolgt werden (§ 92 S. 2 InsO).BGH NZI 2020, 671 Rn. 54; NZI 2017, 442 Rn. 10; NZI 2016, 831 Rn. 21. Die Befugnis erstreckt sich nicht nur auf die Quotenschäden der Insolvenzgläubiger (Differenz zwischen Ist-Quote und Soll-Quote), sondern auch auf einen den Massegläubigern entstandenen Gesamtschaden. Für Einzelschäden eines Beteiligten, die der Insolvenzverwalter verursacht, haftet darüber hinaus auch die (meist geringe) Masse gem. §§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, 31 BGB.BGH NZI 2018, 519 Rn. 34.

b) Haftung gegenüber Massegläubigern nach § 61 InsO

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Der Insolvenzverwalter haftet nach § 61 S. 1 InsO mit seinem Privatvermögen, wenn er eine Masseverbindlichkeit begründet, die nicht vollständig aus der Insolvenzmasse erfüllt werden kann. Zweck des § 61 S. 1 InsO ist, die Interessen der Massegläubiger zu schützen. Die Haftung gilt nach dem Wortlaut nur für Masseverbindlichkeiten, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet werden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO), nicht aber für oktroyierte Masseverbindlichkeiten, wie Gehälter und Mietzahlungen, die ohne Zutun des Verwalters entstehen (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Hier haftet der Verwalter nur, wenn er eine rechtlich zulässige Kündigung unterlässt. Seine Haftung ist dann auf die Verbindlichkeiten beschränkt, die nach dem Zeitpunkt der frühestmöglichen Kündigungserklärung entstehen.BAG NZI 2019, 130 Rn. 17; BGH NJW 2012, 1361, 1364. Die Haftung setzt Verschulden voraus. Nach § 61 S. 2 InsO ist das Verschulden ausgeschlossen, wenn bei Begründung der Forderung nicht erkennbar war, dass die Masse nicht ausreichen wird. Das ist der Fall, wenn der Insolvenzverwalter zum Zeitpunkt der Begründung der Masseverbindlichkeit einen Finanzplan erstellt hat, der hinreichende Liquidität dokumentiert.BGH NZI 2018, 258 Rn. 10; BeckOK InsR/Desch/Hochdorfer InsO § 61 Rn. 29 ff. Der Verwalter muss nicht beweisen, dass es später zu einer von der Liquiditätsplanung abweichenden Entwicklung gekommen ist. Die Schadensersatzpflicht aus § 61 S. 1 InsO umfasst das negative Interesse.BGH NZI 2018, 258 Rn. 13; Uhlenbruck/Sinz InsO § 61 Rn. 16.

c) Verjährung

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Die Schadensersatzansprüche verjähren in drei Jahren (§ 62 S. 1 InsO i.V.m. § 195 BGB). Nach § 62 S. 2 InsO beginnt die dreijährige Verjährungsfrist spätestens mit der Aufhebung oder der rechtskräftigen Einstellung des Insolvenzverfahrens. Die Anwendung der Höchstfristen des § 199 Abs. 3 BGB scheidet neben § 62 S. 2 InsO aus.BGH NZI 2018, 744 Rn. 3.

5. Aufsicht und Entlassung

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Das Insolvenzgericht hat nach § 58 InsO die Pflicht, den Insolvenzverwalter bei seiner Amtsführung zu überwachen. Das Gericht kann jederzeit Auskünfte, Sachstandsberichte und Informationen verlangen (§ 58 Abs. 1 S. 1 InsO). Über die Kontrolldichte entscheidet es nach pflichtgemäßem Ermessen. Bei Anhaltspunkten muss es eigeninitiativ gegen Pflichtverstöße des Insolvenzverwalters vorgehen.BVerfG NZI 2016, 163 Rn. 45. Zur Durchsetzung der Pflichten kann das Gericht nach vorheriger Androhung ein Zwangsgeld (maximal 25 000 EUR) verhängen (§ 58 Abs. 2 S. 1, 2 InsO). Liegt ein wichtiger Grund vor, kann das Gericht den Verwalter nach § 59 Abs. 1 InsO aus dem Amt entlassen. Die Entscheidung steht im Ermessen des Gerichts.BGH NZI 2017, 667 Rn. 9, 14. Da die Ausübung des Insolvenzverwalteramts durch Art. 12 GG geschützt ist, muss der Eingriff verhältnismäßig sein. Erforderlich ist nicht nur, dass Pflichtverletzungen feststehen, sondern dass sie erheblich sind. Das ist bei schweren Verstößen gegen die Treuepflicht (darlehensweise Entnahme von hohen Geldbeträgen aus der Masse) oder bei Straftaten der Fall.BGH NZI 2016, 892 Rn. 9.

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