Grundrechte

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs - Freiheitsrechte unter Gesetzesvorbehalt

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1. Freiheitsrechte unter Gesetzesvorbehalt

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Bei Freiheitsrechten unter Gesetzesvorbehalt prüfen Sie die verfassungsrechtliche Rechtfertigung in drei Schritten:

a) Beschränkbarkeit des Freiheitsrechts („Schranke“)

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Die meisten Freiheitsrechte stehen unter einem Gesetzesvorbehalt. Bei diesen Freiheitsrechten können die grundrechtlichen Gewährleistungen „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden. Wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes ist ein solcher Grundrechtseingriff aber nur zulässig, wenn ein formelles Gesetz, d.h. ein Parlamentsgesetz, den Grundrechtseingriff vorsieht.

Vgl. Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 141; Manssen Staatsrecht II Rn. 173. Je nach Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 70 ff. GG) kann es sich bei dem formellen Gesetz um ein Bundes- oder ein Landesgesetz handeln.Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 173.

Hinweis

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Es gibt auch Grundrechte, die verfassungsunmittelbaren Schranken unterliegen (z.B. Art. 9 Abs. 2 GG). Bei ihnen wird der Eingriff unmittelbar auf das Grundgesetz gestützt; ein formelles Gesetz als Eingriffsgrundlage ist hier nicht notwendig.

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Freiheitsrechte können einem sog. einfachen Gesetzesvorbehalt oder einem sog. qualifizierten Gesetzesvorbehalt unterliegen.

aa) Einfacher Gesetzesvorbehalt

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Ein einfacher Gesetzesvorbehalt liegt vor, wenn der Wortlaut des betreffenden Freiheitsrechts für den Grundrechtseingriff nur verlangt, dass der Eingriff „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ erfolgt, und an das eingreifende Gesetz damit keine besonderen Anforderungen stellt.

Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 304.

Beispiel

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Art. 8 Abs. 2 GG sieht vor, dass Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden können.

138

Die Formulierung „durch Gesetz“ bedeutet, dass das Grundrecht durch ein selbstvollziehendes formelles Gesetz eingeschränkt werden kann. Sieht ein Grundrecht demgegenüber die Einschränkungsmöglichkeit „aufgrund eines Gesetzes“ vor, bedeutet dies, dass Eingriffe, die auf ein formelles Gesetz gestützt sind, zulässig sind. So kann ein formelles Gesetz die Exekutive dazu ermächtigen, selbst Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen, vor allem in Form von materiellen Gesetzen (Rechtsverordnungen, Satzungen).

Vgl. Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 142.

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Ob und ggf. inwieweit ein Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts aufgrund eines Gesetzes überhaupt zulässig ist, bestimmt sich nach der sog. Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (s. dazu Skript „Staatsorganisationsrecht“). Nach ihr muss der parlamentarische Gesetzgeber die für die Ausübung der Grundrechte wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Wird die Wesentlichkeitstheorie nicht beachtet, ist der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts allein aus diesem Grunde bereits verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und damit unzulässig.

bb) Qualifizierter Gesetzesvorbehalt

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Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt liegt vor, wenn der Wortlaut des betreffenden Freiheitsrechts für den Grundrechtseingriff nicht nur verlangt, dass der Eingriff „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ erfolgt, sondern zusätzlich besondere Anforderungen an das eingreifende Gesetz stellt.

Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 307; Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 141. Eingriffe sind hiernach nur unter bestimmten Voraussetzungen (vgl. z.B. Art. 11 Abs. 2 GG „… für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden …“), zu bestimmten Zwecken (vgl. z.B. Art. 5 Abs. 2 GG „…, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend …“) oder mit bestimmten Mitteln (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG „… in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, …“) zulässig.Vgl. Sodan/Ziekow-Sodan Grundkurs Öffentliches Recht § 24 Rn. 17.

b) Verfassungsrechtliche Grenzen der Beschränkung des Freiheitsrechts („Schranken-Schranken“)

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Die oben (Rn. 135 ff.) dargestellten Gesetzesvorbehalte erlauben es der Legislative, selbst in die Grundrechte einzugreifen bzw. die Exekutive oder die Judikative zu Eingriffen in die Grundrechte zu ermächtigen. Nachdem Sie in einem ersten Schritt die Beschränkbarkeit des Freiheitsrechts („Schranke“) festgestellt haben, prüfen Sie nun in einem zweiten Schritt, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen dieser Beschränkbarkeit bei dem Grundrechtseingriff im konkreten Fall eingehalten wurden („Schranken-Schranken“).

 

aa) (Formelle und materielle) Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

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Das Parlamentsgesetz, das den legislativen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts selbst bewirkt bzw. die Exekutive oder die Judikative zu einem Eingriff ermächtigt, muss (formell und materiell) verfassungsgemäß sein. Die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes prüfen Sie nach der üblichen Vorgehensweise (s. Skript „Staatsorganisationsrecht“).

Vgl. z.B. Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 146 ff. Im Folgenden sollen zwei besonders relevante Prüfungspunkte hervorgehoben werden:

Hinweis

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Bei der Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich von Freiheitsrechten durch Gesetz ist die Bestimmtheitsprüfung üblicherweise eine Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes.

Vgl. nur Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 156.

bb) insbesondere: Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

143

Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Parlamentsgesetzes untersuchen Sie im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit insbesondere, ob das Gesetz verhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht eingreift. Denn der Gesetzgeber muss bei seinem Eingriff das sog. Übermaßverbot beachten.

Expertentipp

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Dieser Prüfungspunkt bildet das Kernstück vieler Fallbearbeitungen. Deshalb sollten Sie diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit widmen! Zum Gegenstück des Übermaßverbotes, dem Untermaßverbot, s.o. Rn. 41.

144

Die Verhältnismäßigkeit ist ein ungeschriebener verfassungsrechtlicher Grundsatz, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (auch) für den grundrechtseinschränkenden Gesetzgeber gilt.

Vgl. BVerfGE 7, 377 – Apothekenurteil. Der Gesetzgeber ist nicht völlig frei, wie weit er unter Gesetzesvorbehalt stehende Grundrechte einschränkt. Vielmehr ist er aufgrund des Übermaßverbotes verpflichtet, Begrenzungen bei Einschränkungsmöglichkeiten zu beachten. Damit besteht zwischen dem einschränkenden Gesetz und der hierdurch eingeschränkten Freiheitsgarantie eine Wechselwirkung dergestalt, dass das Gesetz, das ein Freiheitsrecht einschränken kann, seinerseits im Lichte dieses Freiheitsrechts ausgelegt werden muss (sog. Wechselwirkungslehre).Vgl. BVerfGE 7, 198 – Lüth. Um diesem Erfordernis zu genügen, muss der Gesetzgeber einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der grundrechtlichen Gewährleistung und dem Eingriff in das Grundrecht herstellen. Die Verhältnismäßigkeit prüfen Sie in vier Schritten: Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob das eingreifende Gesetz einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt. Der Gesetzgeber hat bei der Bestimmung des Gesetzeszwecks einen weiten Gestaltungsspielraum mit der Folge, dass sich der Gesetzeszweck nicht unbedingt aus der Verfassung ergeben muss. Verfolgt er mit einem Gesetz mehrere Zwecke, muss zumindest einer dieser Zwecke verfassungsrechtlich legitim sein.

Steht ein Gesetz zur Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht an, ist umstritten, ob es alle denkbaren Zwecke oder nur den- oder diejenigen Zweck(e) berücksichtigen darf, den/die der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes vor Augen hatte. Das Bundesverfassungsgericht bezieht im Zweifel auch solche Zwecke in seine Prüfung ein, die der Gesetzgeber selbst nicht in Betracht gezogen hat.

Vgl. BVerfG (K) NJW 1998, 1776.

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Liegt ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck vor, prüfen Sie im zweiten Schritt, ob das Gesetz zur Erreichung dieses Zwecks geeignet ist. Geeignet ist das Gesetz, wenn es den verfassungsrechtlich legitimen Zweck fördert, indem es überhaupt etwas zur Erreichung des Gesetzeszwecks beiträgt.

Vgl. BVerfGE 30, 292. – Ist dies der Fall, gehen Sie im dritten Schritt der Frage nach, ob das Gesetz zur Erreichung des Zwecks erforderlich ist. Erforderlichkeit ist gegeben, wenn es zur Erreichung des Zwecks kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt.Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 336. – Bejahen Sie die Erforderlichkeit des Gesetzes, prüfen Sie im vierten Schritt die Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit des Gesetzes (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Ein Gesetz ist angemessen bzw. zumutbar, wenn dieses Gesetz und der mit ihm verfolgte verfassungsrechtlich legitime Zweck in einem „recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis“ zueinander stehen.Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 340. Es ist also eine eigenständige Gewichtung und Abwägung durchzuführen.Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 342 ff.

Expertentipp

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Bei der Frage der Angemessenheit des Gesetzes kommt es auf Ihre Argumentation an. Alle für und gegen das Gesetz sprechenden Interessen fließen in die Abwägung ein. Für Sie bedeutet das, alle denkbar relevanten Interessen möglichst konkret herauszuarbeiten. Sodann werden die verschiedenen Interessen nach dem Grad ihrer Beeinträchtigung gewichtet.

146

Bei der Prüfung der Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit eines Eingriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine sog. „Schutzbereichsverstärkung“ vor. Das Gericht prüft an dieser Stelle dann weitere Grundrechte, die (mangels Eröffnung des Schutzbereichs oder mangels Eingriffs) selbst nicht verletzt sind, mit.

Hinweis

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Das Bundesverfassungsgericht setzt bei der Schutzbereichsverstärkung das unmittelbar einschlägige Grundrecht und das nur mittelbar einschlägige Grundrecht in Verbindung zueinander und benennt die Grundrechte ausdrücklich mit „Art. … GG i.V.m. Art. … GG“.

Beispiel

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Die Beschlagnahme von Datenträgern eines Rechtsanwalts wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie am Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemessen, dabei wurde aber die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts mitberücksichtigt, obgleich ein berufsspezifischer Eingriff nicht vorliegt.

Beispiel

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Das Schächten wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des muslimischen Metzgers (türkischer Staatsangehöriger) nach Art. 2 Abs. 1 GG gemessen, der Aspekt der Glaubensfreiheit wurde im Rahmen der Berufsfreiheit mitberücksichtigt.

Beispiel

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Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Verfahren und die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen im Bereich von Qualifikationsentscheidungen, die Voraussetzung für den Zugang zur Stellung eines Hochschullehrers sind (also namentlich die Habilitation), wurden vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des Habilitanden (Art. 12 Abs. 1 GG bzw. im entschiedenen Fall Art. 2 Abs. 1 GG, weil der Betroffene die österreichische Staatsbürgerschaft inne hat) gemessen und durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verstärkt.

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Bei der Schutzbereichsverstärkung handelt es sich „methodisch und im Ergebnis“ um eine „Flexibilisierung der deutschen Grundrechtsdogmatik“.

Vgl. Michael/Morlok Grundrechte Rn. 57. Dogmatisch ist insoweit noch vieles im Unklaren, so z.B. die Voraussetzungen des Bezugs zu einem Grundrecht jenseits eines Eingriffs in seinen Schutzbereich, die Folgen der Berücksichtigung des nur mittelbar einschlägigen Grundrechts.Vgl. Michael/Morlok Grundrechte Rn. 57. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur deshalb umstritten und hat sich bislang nicht durchgesetzt.Kritisch z.B. Spielmann JuS 2004, 371.

Expertentipp

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Da das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts zu Modifikationen im Rahmen der Abwägung führt und viele dogmatische Fragen noch ungeklärt sind, wird in der juristischen Ausbildungsliteratur die Anwendung einer Schutzbereichsverstärkung für die Fallbearbeitung ohne Weiteres abgelehnt,

Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 262. zumindest aber „zu größter Vorsicht“ geraten, „auf diese Methodik zurückzugreifen“Vgl. Michael/Morlok Grundrechte Rn. 57., bzw. empfohlen, „in Zweifelsfällen weiterhin alle Grundrechte einzeln zu prüfen“Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 208..Vgl. weitere Einzelheiten bei Michael/Morlok Grundrechte Rn. 56 ff.; Manssen Staatsrecht II Rn. 208 f.; Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 262; Hufen Staatsrecht II § 6 Rn. 46.

Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine Schutzbereichsverstärkung durchführt, dürfte ein entsprechendes Vorgehen in einer Prüfungsarbeit nicht ohne Weiteres möglich sein. Die Anwendung der Schutzbereichsverstärkung müsste vielmehr zunächst erläutert, vor allem dogmatisch begründet werden.

Vgl. hierzu näher Michael/Morlok Grundrechte Rn. 57 f.

148

In unserem Beispiel oben (Rn. 128) hatten wir festgestellt, dass der Gesetzgeber von dem Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch gemacht hat und dass das Gesetz daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, wenn es eine verfassungsmäßige, insbesondere verhältnismäßige, Konkretisierung des Regelungsvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Das Gesetz, das das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot für handwerkliche Kleinbetriebe vorsieht, ist formell verfassungsgemäß. Zu prüfen ist, ob das Gesetz auch materiell verfassungsgemäß ist. Fraglich ist, ob das Gesetz verhältnismäßig ist. Das Gesetz hat den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, die Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn zu schützen. Zur Erreichung dieses Zwecks ist das Nachtarbeitsverbot geeignet. Zur Erreichung dieses Zwecks müsste das Nachtarbeitsverbot auch erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn es kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das ist hier zu verneinen, weil die Möglichkeit besteht, anstelle eines gesetzlich normierten ausnahmslosen Nachtarbeitsverbotes ein sog. präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Gesetz vorzusehen. Dies würde bedeuten, dass nächtliches Arbeiten zunächst verboten ist, die zuständige Behörde nach Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände im Einzelfall das Nachtarbeitsverbot (ggf. unter Erteilung von Auflagen) aber erlauben kann. Die Entscheidung über ein Nachtarbeitsverbot würde hierdurch in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt. Dieses Vorgehen würde gewährleisten, dass die widerstreitenden Interessen einerseits des Gewerbetreibenden (u.a. Ausschöpfung seiner wirtschaftlichen Kapazitäten) und andererseits der Nachbarn (Gesundheitsschutz) im Einzelfall zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. So wäre Nachtarbeit zu erlauben, wenn die Nachbarn durch geeignete und zumutbare bauliche Maßnahmen auf dem Betriebsgelände vor den vom Handwerksbetrieb ausgehenden Immissionen geschützt werden (z.B. besondere Lärmdämmung o.Ä.). Damit erweist sich das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot als nicht erforderlich, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das Gesetz ist somit unverhältnismäßig, demnach materiell verfassungswidrig und folglich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. A ist in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. – Hilfsweise unterstellt, das Gesetz ist erforderlich, müsste es angemessen sein. Nach der sog. Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichts (s.u. Rn. 585 ff.) sind Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit angemessen, wenn vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls die Ausübungsregelungen zweckmäßig erscheinen lassen, wobei der Gesetzgeber einen relativ weiten Gestaltungsspielraum besitzt. Das Gesetz bezweckt den Schutz der Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn. Die Nachbarn sollen in ihrer Nachtruhe geschützt werden, die der notwenigen gesundheitlichen Regeneration dient. Permanente nächtliche Beeinträchtigungen der Nachtruhe durch betriebsbedingte Immissionen können das körperliche Wohlbefinden der Nachbarn nicht unerheblich schmälern. Dies sind vernünftige Allgemeinwohlerwägungen, die das Gesetz zweckmäßig erscheinen lassen. Bei unterstellter Erforderlichkeit erweist sich das Gesetz demnach als angemessen. Es ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. A ist somit nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.

cc) insbesondere: Wahrung des Wesensgehalts

149

Eine letzte verfassungsrechtliche Grenze für Eingriffe der Legislative in den Schutzbereich eines Grundrechts bildet die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG.

Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 210.

Beispiel

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Der Landesgesetzgeber ergänzt sein Polizeigesetz um eine Bestimmung, nach der der Schusswaffengebrauch zulässig ist, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr darstellt. Wird hierdurch der Wesensgehalt i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG des Grundrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet?

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Umstritten ist, wie der Wesensgehalt von Grundrechten zu ermitteln ist. Fest steht, dass der Wesensgehalt für jedes einzelne Grundrecht gesondert bestimmt werden muss.

Vgl. BVerfGE 22, 180. Zur generellen Ermittlung des Wesensgehalts von Grundrechten werden zwei Theorien vertreten: die Theorie vom absoluten Wesensgehalt und die Theorie vom relativen Wesensgehalt.Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 352 ff.

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Die Theorie vom absoluten Wesensgehalt betrachtet den Wesensgehalt eines Grundrechts als eine feste, vom Einzelfall und von der konkreten Frage unabhängige Größe. Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist demnach ein Grundrechtskern, der unabhängig von der konkreten Fallgestaltung unantastbar ist. Nach dieser Theorie ist es ausgeschlossen, den Wesensgehalt einzelfallbezogen zu ermitteln. In unserem Beispiel oben (Rn. 149) entzieht der Schusswaffengebrauch demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, das Recht auf Leben. Die allgemeine Gewährleistung des Rechts auf Leben wird hierdurch jedoch nicht angetastet. Nach der Theorie vom absoluten Wesensgehalt ist das Grundrecht auf Leben somit nicht verletzt.

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Die von der h.M. vertretene Theorie vom relativen Wesensgehalt ermittelt den Wesensgehalt von Grundrechten, indem sie auf das jeweilige Grundrecht abstellt und den Wesensgehalt für jeden einzelnen Fall gesondert bestimmt. Durch eine Gewichtung und eine Abwägung der im Einzelfall beteiligten öffentlichen und privaten Rechtsgüter und Interessen ermittelt diese Theorie, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet ist. Eine Antastung soll nicht gegeben sein, wenn dem Grundrecht das geringere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage beizumessen ist;

Vgl. BVerwGE 47, 330. umgekehrt ist der Wesensgehalt angetastet, wenn er beeinträchtigt ist, obwohl ihm das größere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage zukommt.

Hinweis

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Sie sehen: Mit dieser Vorgehensweise rückt die h.M. in die Nähe der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

153

Nach der Theorie vom relativen Wesensgehalt wird in unserem Beispiel oben (Rn. 149) demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, durch den Schusswaffengebrauch das Recht auf Leben entzogen. Ob hierdurch der Wesensgehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet worden ist, entscheidet die Theorie vom relativen Wesensgehalt danach, ob der Schusswaffengebrauch im konkreten Einzelfall verhältnismäßig war.

Expertentipp

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Folgen Sie der herrschenden Theorie vom relativen Wesensgehalt, bedeutet dies für Sie in der Fallbearbeitung, dass Sie nach der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Frage der Verletzung des Wesensgehalts allenfalls – bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt – noch kurz auf den Wesensgehalt eingehen können bzw. müssen. Keinesfalls sollten Sie die ohnehin selten praktisch relevant werdende Problematik des Wesensgehalts aber überbewerten.

c) Grundrechtsverwirkung

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Grundrechte können schließlich auch verwirkt werden. Die Grundrechtsverwirkung ist in Art. 18 GG abschließend geregelt. Sie ist Ausdruck des Prinzips der „streitbaren Demokratie“, die auf Selbstverteidigung angelegt ist.

Vgl. BVerfGE 28, 36. Art. 18 GG enthält damit kein Grundrecht, sondern eine Grundrechtsbeschränkung.Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass Art. 18 Rn. 1. Verwirkt werden können nur die in Art. 18 S. 1 GG genannten Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden gemäß Art. 18 S. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Das einschlägige Verfahren, das ggf. mit der Feststellung der Verwirkung von Grundrechten durch das Bundesverfassungsgericht endet, ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 GG, § 13 Nr. 1 i.V.m. §§ 36 ff. BVerfGG näher geregelt.

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In der Praxis ist es sehr schwer, den Nachweis einer Grundrechtsverwirkung zu führen. Dieser Umstand und das sehr umständliche Verfahren gemäß §§ 36 ff. BVerfGG sind ursächlich dafür, dass Art. 18 GG praktisch ohne Bedeutung geblieben ist.

Vgl. Hufen Staatsrecht II § 9 Rn. 38. Eine Verwirkung von Grundrechten ist – soweit ersichtlich – bis heute nicht ausgesprochen worden. Vor diesem Hintergrund dürfte die Relevanz des Art. 18 GG für die Fallbearbeitung entsprechend gering sein.

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