Grundrechte

Eröffnung des Schutzbereichs des Freiheitsrechts

II. Eröffnung des Schutzbereichs des Freiheitsrechts

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Ihre eigentliche Prüfung beginnen Sie mit der Untersuchung, ob der Schutzbereich des möglicherweise verletzten Freiheitsrechts eröffnet ist. Innerhalb des Schutzbereichs wird herkömmlich zwischen dem sachlichen und dem persönlichen Schutzbereich unterschieden; außerdem können Grundrechtskonkurrenzen relevant werden. Ob der Schutzbereich eines Freiheitsrechts tatsächlich eröffnet ist, prüfen Sie durch Auslegung der thematisch einschlägigen Grundrechte zunächst anhand ihres Wortlauts, danach anhand ihrer systematischen Stellung sowie ihres Sinns und Zwecks; ergänzend können die historische Auslegung und die genetische Auslegung herangezogen werden.

1. Sachlicher Schutzbereich

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Zunächst prüfen Sie, ob der sachliche Schutzbereich des Freiheitsrechts eröffnet ist. Freiheitsrechte schützen Tätigkeiten, Verhaltensweisen, Rechtsgüter etc. Indem Sie ein Freiheitsrecht auslegen, werden Sie erkennen, ob der sachliche Schutzbereich des Grundrechts eröffnet ist. Bei diesem Prüfungspunkt ist es unverzichtbar, die wichtigsten Definitionen der Begriffe, die zum sachlichen Schutzbereich der Freiheitsrechte gehören, zu kennen.

Beispiel

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Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schützt u.a. die freie Meinungsäußerung. Ob der sachliche Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG in einem konkreten Fall eröffnet ist, hängt entscheidend davon ab, ob eine „Meinung“ geäußert wurde.

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Manche Freiheitsrechte enthalten sachliche Begrenzungen des Schutzbereichs, die Sie ebenfalls beachten müssen, weil das Grundrecht in diesem Falle zwar thematisch einschlägig, aber wegen der sachlichen Begrenzung nicht in seinem Schutzbereich eröffnet sein kann.

Beispiel

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Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet die Versammlungsfreiheit. Vom sachlichen Schutzbereich erfasst sind jedoch nur solche Versammlungen, die „friedlich und ohne Waffen“ durchgeführt werden. Unfriedliche und bewaffnete Versammlungen fallen daher nicht in den sachlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG. Grundrechtlicher Schutz kann in diesem Falle nur über das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG begehrt werden.

Hinweis

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Im Zweifel legen Sie den sachlichen Schutzbereich weit aus. Auch das Bundesverfassungsgericht legt den Schutzbereich im Zweifel extensiv aus, um einen möglichst weit reichenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Es gilt also: „In dubio pro libertate“ („im Zweifel zugunsten der Freiheit“).

2. Persönlicher Schutzbereich

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Die Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs prüfen Sie in drei Schritten:

Expertentipp

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Denken Sie noch einmal daran: Das Prüfungsschema dient Ihnen nur als Orientierung. Auf einzelne Prüfungsschritte brauchen Sie nur dann näher einzugehen, wenn sie in Ihrer Fallbearbeitung problematisch und daher erörterungsbedürftig sind! Keinesfalls dürfen Sie das Schema in Ihrer Falllösung stur abarbeiten.

a) Grundrechtsfähigkeit

aa) Begriff

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Im ersten Schritt prüfen Sie die Grundrechtsfähigkeit der Person(en), die in dem zu prüfenden Freiheitsrecht möglicherweise verletzt ist/sind.

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Definition

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Grundrechtsfähig

Grundrechtsfähig ist jeder, der generell Träger von Grundrechten sein kann.

Für die Frage, ob eine Person grundrechtsfähig ist, ist damit eine abstrakte, d.h. vom konkreten Einzelfall unabhängige Betrachtung maßgeblich.

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Expertentipp

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Wiederholen Sie ggf. an dieser Stelle die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit!

Materiell-rechtlich betrachtet, entspricht die Grundrechtsfähigkeit der Rechtsfähigkeit im Zivilrecht.

Beispiel

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Ein Nichtdeutscher im Sinne des Art. 116 GG ist grundrechtsfähig, weil er generell Träger von Grundrechten (z.B. Art. 4, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) sein kann. Dass er hinsichtlich der Deutschengrundrechte (z.B. Art. 8 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG) nicht berechtigt ist, ist (erst) eine Frage seiner Grundrechtsberechtigung (s.u. Rn. 99 ff.).

bb) Grundrechtsfähige Personen

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Generell können sowohl natürliche als auch juristische Personen grundrechtsfähig sein.

(1) Natürliche Personen

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Grundrechtsfähig sind zunächst natürliche Personen, d.h. Menschen.

Vgl. Ipsen Staatsrecht II Rn. 61.

(a) Dauer der Grundrechtsfähigkeit

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Die Grundrechtsfähigkeit natürlicher Personen beginnt grundsätzlich mit der Vollendung der Geburt und dauert bis zum Tod. Abweichend hiervon hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG auch beim Nasciturus (werdendes Leben) angewendet.

Vgl. BVerfGE 39, 1; 88, 203 – Abtreibungsurteile. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht ein postmortales Persönlichkeitsrecht anerkannt.Vgl. BVerfGE 30, 173 – Mephisto. Hiernach endet die staatliche Verpflichtung, den Einzelnen gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu schützen, erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums nach dem Tod.

(b) Personenmehrheit

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Nach den bisherigen Ausführungen wissen wir, dass einzelne natürliche Personen grundrechtsfähig sind. Nun stellt sich aber die Frage, wie der Fall zu beurteilen ist, wenn sich mehrere natürliche Personen zusammenschließen. Grundrechtsfähig sind in diesem Falle – nach den bisherigen Erörterungen – unproblematisch die einzelnen natürlichen Personen als Mitglieder der Personenmehrheit. Grundrechtsfähig könnte aber auch die Personenmehrheit selbst sein.

Beispiel

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D, E und F bilden hobbymäßig eine Musikband. Meist musizieren sie stundenlang am Wochenende in der Wohnung des D. Der Vermieter des D wohnt unmittelbar unter D und ist über die musikalischen Aktivitäten seines Mieters wenig erfreut. Daher will er das Musizieren am Wochenende zukünftig weitestgehend unterbinden.

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Schließen sich mehrere natürliche Personen zu einer schlichten Personenmehrheit zusammen, ist diese Personenmehrheit nicht grundrechtsfähig. Grundrechtsfähig sind nur die einzelnen Mitglieder dieser schlichten Personenmehrheit. In unserem Beispielsfall (Rn. 81) ist die Musikband als schlichte Personenmehrheit daher selbst nicht grundrechtsfähig. Die einzelnen Bandmitglieder D, E und F können sich demgegenüber jeweils selbständig u.a. auf das Grundrecht auf Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 1 GG berufen (beachte hier die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte!).

(2) Juristische Personen des Privatrechts

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Im Gegensatz zu schlichten Personenmehrheiten können sich inländische juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf Grundrechte berufen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf die juristische Person anwendbar sind. Art. 19 Abs. 3 GG begründet somit eine eigene Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung ist Art. 19 Abs. 3 GG immer dann von Bedeutung, wenn eine überindividuelle Person eigene Grundrechtsverletzungen geltend macht.

Beispiel

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E und F aus dem Beispiel oben (Rn. 81) arbeiten beide als angestellte Elektriker. Eines Tages beschließen sie, sich gemeinsam beruflich selbständig zu machen. Hierfür gründen sie eine OHG. Den Beitrag, den sie für das laufende Kalenderjahr an die Handwerkskammer entrichten sollen, halten sie für überhöht. Überhaupt halten sie die Mitgliedschaft in der Kammer an sich für völlig überflüssig.

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Ob sich eine juristische Person auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen kann, prüfen Sie in drei Schritten: Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob es sich bei der Personenmehrheit um eine juristische Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG handelt. Der in Art. 19 Abs. 3 GG verwendete Begriff der „juristischen Person“ ist ein verfassungsrechtlicher Begriff, der weiter gefasst ist als der einfach-gesetzliche Begriff der „juristischen Person“. Während der einfach-gesetzliche Begriff der „juristischen Person“ lediglich vollrechtsfähige Personenmehrheiten erfasst, umfasst der verfassungsrechtliche Begriff der „juristischen Person“ sowohl jede Personenmehrheit, die nach dem einfachen Recht Vollrechtsfähigkeit (z.B. rechtsfähiger Verein, GmbH, AG) oder Teilrechtsfähigkeit (z.B. GbR, OHG) besitzt, als auch sonstige Personenmehrheiten, sofern sie eine hinreichende Selbständigkeit und gefestigte innere Organisation aufweisen, die eine einheitliche Willensbildung und -bekundung nach außen hin ermöglichen.

Vgl. zum Ganzen Papier/Krönke Grundkurs Öffentliches Recht 2 Rn. 97 f. Für unser Beispiel oben (Rn. 83) bedeutet dies, dass die von E und F gegründete OHG keine schlichte Personenmehrheit, sondern vielmehr eine juristische Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG ist, so dass die erste Voraussetzung des Art. 19 Abs. 3 GG vorliegt.

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Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob es sich bei der juristischen Person um eine inländische Personenmehrheit handelt, denn nur inländische juristische Personen können sich auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die juristische Person ihren Sitz, und zwar den Sitz ihrer Hauptverwaltung, im Inland, d.h. im Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, hat (sog. Sitztheorie). In unserem Beispiel oben (Rn. 83) ist diese Voraussetzung ohne weiteres zu bejahen. – Juristische Personen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, müssen wegen des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbotes wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) den inländischen juristischen Personen gleichgestellt werden.

Vgl. BVerfGE 129, 78 – Designermöbel; anders noch BVerfGE 21, 207; 23, 229; 100, 313. Hätten E und F in unserem Beispiel oben (Rn. 83) eine der OHG vergleichbare Handelsgesellschaft in einem Mitgliedstaat der EU gegründet, dürfte diese Gesellschaft im Inland nicht schlechter als die nach deutschem Gesellschaftsrecht gegründete OHG behandelt werden; ihr müsste vielmehr derselbe Grundrechtsschutz wie der nach deutschem Gesellschaftsrecht gegründeten OHG gewährt werden.

Hinweis

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Bei der vom Bundesverfassungsgericht nunmehr vollzogenen Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt es sich um eine europarechtlich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes. Gegen diese Anwendungserweiterung könnten zwar der eindeutige Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG (die Formulierung „inländisch“ bezieht sich auf das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland) sowie der Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 3 GG sprechen.

Vgl. näher BVerfGE 21, 207; 23, 229; 100, 313. Für die Anwendungserweiterung werden aber die folgenden zwei Gründe angeführt:Vgl. zum Ganzen: Epping/Patzke Ad Legendum 2013, 40. Zum einen wirke sich die Anwendungserweiterung hier ausschließlich zugunsten der ihren Sitz im EU-Ausland habenden Grundrechtsträger aus und sei daher nicht von vornherein unzulässig; zum anderen zwinge der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts dazu, dass gegenläufige mitgliedstaatliche Normen (einschließlich Normen des Verfassungsrechts) bis zur Grenze der Identität des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG bzw. Art. 4 Abs. 2 AEUV)Vgl. zuletzt BVerfGE 126, 286. unangewendet bleiben müssen. Da die Anwendungserweiterung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Identität des Grundgesetzes nicht verletze, müsse Art. 19 Abs. 3 GG europarechtskonform ausgelegt und angewendet werden.

Beachten Sie, dass juristische Personen aus Nicht-EU-Staaten grundsätzlich nicht grundrechtsfähig sind. Auf sie ist Art. 19 Abs. 3 GG nach seinem Wortlaut nicht anwendbar. Die Privilegien, die juristischen Personen aus EU-Mitgliedsstaaten infolge gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben zuteil werden, gelten für sonstige ausländische juristische Personen nicht. Eine Ausnahme ist jedoch hinsichtlich der sog. Justizgrundrechte anerkannt.

Vgl. BVerfGE 21, 362.

86

Auf die Staatsangehörigkeit der Personen, die sich zu einer juristischen Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG zusammengeschlossen haben, kommt es nicht an. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) wäre es danach für die Qualifizierung der OHG als inländische juristische Person unerheblich, wenn z.B. E ägyptischer Staatsangehöriger wäre und F die chinesische Staatsangehörigkeit besäße.

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Im dritten Schritt untersuchen Sie, ob das Grundrecht, auf das sich die inländische juristische Person beruft, „seinem Wesen nach“ auf diese inländische juristische Person anwendbar ist. Die wesensmäßige Anwendbarkeit setzt zunächst voraus, dass das betreffende Grundrecht eine korporative Seite aufweist, d.h. kollektiv ausgeübt werden kann. Eine kollektive Seite in diesem Sinne ist z.B. bei den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 12 Abs. 1, Art. 13, Art. 14 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) steht das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG in Rede. Es kann kollektiv ausgeübt werden.

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Ob ein Grundrecht seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist, hängt des Weiteren entscheidend davon ab, ob die Grundrechtsgewährleistungen auch von einer juristischen Person selbst wahrgenommen werden können. Dies ist der Fall, wenn sich die juristische Person in einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“, die mit der Lage einer natürlichen Person vergleichbar ist, befindet.

Vgl. BVerfGE 45, 63. Das in Rede stehende Grundrecht darf daher weder an die physische Existenz noch an die natürlichen Eigenschaften des Menschen anknüpfen. In unserem Beispiel oben (Rn. 83) kann sich die OHG auf die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Als Pflichtmitglied in der Handwerkskammer befindet sich die OHG in einer typischen Gefährdungslage, die der Lage vergleichbar ist, wenn eine Einzelperson Pflichtmitglied in der Kammer ist. Die möglicherweise verletzten Grundrechte knüpfen weder an die physische Existenz noch an die natürlichen Eigenschaften des Menschen an.

(3) Juristische Personen des Öffentlichen Rechts

(a) Grundsatz

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Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte (deutsche) öffentliche Gewalt. Demzufolge sind juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften des öffentlichen Rechts, Anstalten und Stiftungen), die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, nicht grundrechtsfähig. Hierzu gehören etwa kommunale Gebietskörperschaften (Länder, Kommunen oder Gemeinden),

Vgl. BVerfGE 61, 82. öffentlich-rechtliche Sparkassen,Vgl. BVerfGE 75, 192. Innungen nach der Handwerksordnung, gesetzliche Krankenkassen,Vgl. BVerfGE 39, 302. RentenversicherungsträgerVgl. BVerfGE 21, 362. etc.

Beispiel

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Die Gemeinde H liegt in der Nähe eines genehmigten Planungsgebiets für Braunkohletagebau in NRW. Der Gemeinderat beschließt, dass sich die Gemeinde zur generellen Gegnerin von Braunkohle als Energiequelle erklärt. Stattdessen will sich die Gemeinde für erneuerbare Energien einsetzen. Die Rechtsaufsichtsbehörde beanstandet den Beschluss des Gemeinderates. H fühlt sich in ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt. Zu Recht? – Eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG kommt nur in Betracht, wenn H Träger von Grundrechten ist. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist H Teil der Exekutive, so dass sie sich nicht auf Grundrechte berufen kann. Sie fühlt sich demnach zu Unrecht in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt.

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Dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind, hat das Bundesverfassungsgericht ursprünglich damit begründet, es sei mit dem Wesen der Grundrechte unvereinbar, wenn die öffentliche Gewalt gleichzeitig Träger und Adressat von Grundrechten sei (sog. Konfusionsargument).

Vgl. BVerfGE 21, 362. Hiergegen ist in der Literatur jedoch eingewendet worden, die öffentliche Gewalt stelle keinen monolithischen Block dar; vielmehr könnten juristische Personen des öffentlichen Rechts in unterschiedlichen Rechtspositionen durchaus Träger einerseits von Rechten und andererseits von Pflichten sein.Vgl. Schoch Jura 2001, 201. In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der fehlenden Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts auf die Funktion einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ab und führt dazu aus, die juristische Person handele aufgrund gesetzlicher Zuständigkeiten und nicht in Wahrnehmung von Freiheit. Bei einem Übergriff durch ein anderes Organ der öffentlichen Gewalt gehe es der Sache nach daher um einen Kompetenzkonflikt und nicht um einen Eingriff in subjektive Rechte.Vgl. BVerfG (K) DVBl. 2001, 63.

(b) Ausnahmen

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Der Grundsatz, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind, gilt jedoch nicht ausnahmslos; vielmehr sind drei Ausnahmen anerkannt, die Sie unbedingt kennen müssen:

(aa) Justizgrundrechte

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Die erste Ausnahme betrifft die Geltung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und der übrigen Justizgrundrechte (s.u. Rn. 655 ff.).

Vgl. BVerfGE 6, 45.

Beispiel

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Die Stadt B baut einen neuen Bahnhof. Die mit der Projektplanung beauftragten Architekten berechnen die Statik des Vordachs versehentlich falsch. Infolge dieses Fehlers stürzt das Vordach kurz vor der Eröffnung des Bahnhofs ein. Die Stadt B nimmt die Architekten gerichtlich in Anspruch. – Um ihre zivilrechtlichen Ansprüche gegen die Architekten gerichtlich verfolgen zu können, kann sich die Stadt B z.B. auf die auch für sie geltende Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG berufen.

(bb) Juristische Personen des öffentlichen Rechts im formellen Sinne

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Die zweite Ausnahme betrifft die Geltung der Grundrechte zugunsten sog. juristischer Personen des öffentlichen Rechts im formellen Sinne. Ihnen wird der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen, ohne dass sie jedoch hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Gerade weil sie keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen, kann ihnen die Grundrechtsfähigkeit nicht abgesprochen werden.

Beispiel

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Eine juristische Person des öffentlichen Rechts im formellen Sinne ist das Bayerische Rote Kreuz. Es ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die jedoch keine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt.

(cc) Grundrechtsdienende juristische Personen des öffentlichen Rechts

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Die wohl bekannteste und wichtigste Ausnahme betrifft die Geltung bestimmter Grundrechte zugunsten sog. „grundrechtsdienender“ juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Diese juristischen Personen nehmen gesetzlich zugewiesene Aufgaben wahr, die einem unmittelbar durch bestimmte Grundrechte zugewiesenen Lebensbereich zuzuordnen sind. In diesem Bereich dienen die juristischen Personen des öffentlichen Rechts der Grundrechtsverwirklichung des Einzelnen und verteidigen die Grundrechte in einem Bereich, in dem sie gegenüber der öffentlichen Gewalt eigenständig und unabhängig sind.

Vgl. BVerfGE 15, 256. Da sie sich insoweit in einer sog. grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden,Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 1210. können sie sich auf das betreffende Freiheitsrecht berufen.

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Zu den grundrechtsdienenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören zum einen die staatlichen Universitäten sowie deren Fakultäten.

Beispiel

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Staatliche Universitäten, die u.a. die freie wissenschaftliche Betätigung der dort Tätigen gewährleisten sollen, sind Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2 GG und können grundsätzlich Eingriffe in ihre organisatorischen Strukturen abwehren, die einer freien wissenschaftlichen Betätigung entgegenstehen.

Vgl. BVerfGE 85, 360.

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Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten können sich auf das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit

Vgl. BVerfGE 59, 231. und auf das mit ihr in funktionellem Zusammenhang stehende FernmeldegeheimnisVgl. BVerfGE 107, 299. berufen.

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Religionsgesellschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV) können sich auf das Grundrecht auf Glaubensfreiheit berufen.

Vgl. BVerfGE 19, 1.

Hinweis

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Die dritte Ausnahme, die partielle Grundrechtsfähigkeit grundrechtsdienender juristischer Personen des öffentlichen Rechts, ist ein Klassiker in Prüfungen! Wichtig ist, dass Sie erklären können, warum es diese Ausnahmen gibt. Dies gilt umso mehr, als mittlerweile die Tendenz zu beobachten ist, dass es zu Erweiterungen dieser Ausnahme kommen könnte.

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Eine solche Erweiterung steht für Landesmedienanstalten im Hinblick auf das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit zur Diskussion.

Vgl. dafür VerfGH Bayern NVwZ-RR 1994, 509; dagegen VerfGH Sachsen NJW 1997, 3015. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Grundrechtsberechtigung von Landesmedienanstalten in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG bislang allerdings – soweit ersichtlich – offen gelassen.Vgl. BVerfGE 88, 25.

Expertentipp

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Seien Sie in der Fallbearbeitung äußerst vorsichtig, den Kreis der grundrechtsdienenden und damit partiell grundrechtsfähigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu erweitern. Jedenfalls müssen Sie gute Argumente liefern, um eine solche Erweiterung begründen zu können. Denken Sie dabei insbesondere an das Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Keinesfalls dürfen Sie die Grundrechtsfähigkeit allein deshalb bejahen, weil die juristische Person des öffentlichen Rechts generell rechtsfähig ist (eine Universität kann z.B. privatrechtlich Eigentum erwerben).

b) Grundrechtsberechtigung

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Die Grundrechtsberechtigung baut auf der Grundrechtsfähigkeit auf. Grundrechtsberechtigt ist (nur) derjenige, der grundrechtsfähig ist. Die Grundrechtsberechtigung setzt also Grundrechtsfähigkeit voraus.

Vgl. Sachs Verfassungsrecht II – Grundrechte A 6 Rn. 1.

Definition

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Grundrechtsberechtigt

Grundrechtsberechtigt ist derjenige, dem im konkreten Fall ein sachlich einschlägiges Grundrecht persönlich zugeordnet werden kann.

Beispiel

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Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet sachlich die Berufsfreiheit. Persönlich erfasst werden nach dieser Bestimmung nur „alle Deutschen“. Nichtdeutsche können sich demnach grundsätzlich nicht auf das spezielle Freiheitsrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG, sondern nur auf das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen.

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Sie sehen den Unterschied zwischen Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsfähigkeit: Bei der Grundrechtsberechtigung geht es um die Frage, wer sich im konkreten Fall auf das sachlich einschlägige Grundrecht berufen kann, während die Grundrechtsfähigkeit unabhängig vom konkreten Einzelfall bestimmt wird. Spätestens hier wird klar: Eine Person, die schon nicht grundrechtsfähig ist, kann auch nicht grundrechtsberechtigt sein.

aa) Jedermann-Grundrechte

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Die meisten Grundrechte stehen allen Personen zu. Deshalb nennt man sie auch jedermann-Grundrechte“. Die Jedermann-Grundrechte erkennen Sie im Grundgesetz bereits am Wortlaut eines Grundrechts. Bei den Jedermann-Grundrechten ist z.B. von „jeder“, „jedermann“ oder „niemand“ die Rede (z.B. Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1, Art. 4 Abs. 3 S. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG).

bb) Persönlich beschränkte Grundrechte

102

Es gibt jedoch auch Grundrechte, deren persönlicher Schutzbereich beschränkt ist.

(1) Deutschen-Grundrechte

103

Hierzu gehören vor allem die sog. Deutschengrundrechte (auch Bürgergrundrechte genannt). Grundrechtsberechtigt sind hier nur Deutsche i.S.d. Art. 116 GG. Die Deutschengrundrechte erkennen Sie in aller Regel bereits am Wortlaut des Grundgesetzes. Diese Grundrechte beziehen sich ausdrücklich nur auf „alle Deutschen“ (z.B. Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG). Dass das Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG auch nur Deutschen zusteht, ergibt sich dagegen zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Bestimmung, folgt aber aus der Natur der Sache. Die Wahlen sind Ausdruck des Demokratieprinzips und der Volkssouveränität und damit ein Recht des Staatsvolks der Bundesrepublik Deutschland, das von den Deutschen i.S.d. Art. 116 GG gebildet wird.

Vgl. Jarass/Pieroth-Pieroth Art. 38 Rn. 5.

104

Bei den Deutschengrundrechten stellt sich die Frage, auf welche Grundrechte sich Staatenlose und Nicht-EU-Ausländer berufen können, wenn sie sich nicht auf die den Deutschen i.S.d. Art. 116 GG vorbehaltenen Deutschengrundrechte berufen können.

Beispiel

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M ist iranischer Staatsangehöriger und lebt seit seiner Geburt in Deutschland, wo er seit einigen Jahren als erfolgreicher Geschäftsmann arbeitet. Weil Geschäftsbeziehungen zum Iran zunehmend durch bürokratische Behinderungen erschwert werden, beschließt er zusammen mit einigen anderen Betroffenen, für ungehinderte Geschäftsbeziehungen zum Iran zu demonstrieren.

In unserem Beispiel ist M nicht Deutscher i.S.d. Art. 116 GG. Er kann sich daher nicht auf das an sich thematisch und sachlich einschlägige Freiheitsrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen, da es allein Deutschen i.S.d. Art. 116 GG vorbehalten ist. Fraglich ist daher, ob und ggf. auf welches Freiheitsrecht sich M berufen kann. – Dies ist streitig. Das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Meinung in der Literatur nehmen an, Staatenlose und Nicht-EU-Ausländer könnten sich zwar nicht auf ein spezielles, nur Deutschen gewährleistetes Grundrecht, statt dessen aber auf das Auffanggrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen; grundrechtlicher Schutz werde nach Maßgabe der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährleistet.

Vgl. BVerfGE 35, 382; Sachs Verfassungsrecht II – Grundrechte A 6 Rn. 16 f. Für unseren Beispielsfall bedeutet dies, dass sich M zwar nicht auf das spezielle Freiheitsrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG, aber auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen kann. – Nach anderer Ansicht kommt dies gerade nicht in Betracht. Diese Ansicht beruft sich darauf, es gehöre gerade zum Regelungsgehalt der Deutschengrundrechte, Nichtdeutschen einen entsprechenden Grundrechtsschutz nicht zu gewährleisten.Vgl. Schwabe NJW 1974, 1044. Unter Zugrundelegung dieser Auffassung könnte sich M weder auf Art. 8 Abs. 1 GG noch auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Er würde somit keinen grundrechtlichen Schutz genießen.

105

Bei den Deutschengrundrechten ist ferner problematisch, auf welche Grundrechte sich EU-Ausländer berufen können. Im Gegensatz zu den Staatenlosen und den Nicht-EU-Ausländern (s.o. Rn. 104) genießen sie insofern Privilegien, als für sie gemäß Art. 18, 20 AEUV ein allgemeines Diskriminierungsverbot und zusätzlich besondere Diskriminierungsverbote (etwa Art. 45 und 56 AEUV) gelten. Diese Bestimmungen sind wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht auch bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu beachten.

Beispiel

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Dasselbe Beispiel wie oben Rn. 104; M ist hier jedoch belgischer Staatsangehöriger.

Auf welche Grundrechte sich EU-Ausländer berufen können, ist streitig. Nach einer Ansicht sind die Deutschengrundrechte gemeinschaftsrechtskonform auszulegen mit der Folge, dass sich die EU-Ausländer auf die Deutschengrundrechte berufen können.

Vgl. Wernsmann Jura 2000, 657. Legt man – dieser Ansicht folgend – in unserem Beispielsfall Art. 8 Abs. 1 GG gemeinschaftsrechtskonform aus, müssten sich auch EU-Ausländer auf das Deutschengrundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen können. Im Beispielsfall könnte sich M demnach auf das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen.

Nach anderer Ansicht ist dies nach dem Wortlaut der Deutschengrundrechte ausgeschlossen. Hiernach können sich EU-Ausländer auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Bei der Anwendung und der Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG müssten wegen der gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbote und des Prinzips der praktischen Anwendbarkeit („effet utile“) aber die strengen Maßstäbe des speziellen Freiheitsrechts angelegt werden, so dass im Ergebnis derselbe Schutzumfang zu gewährleisten sei.

Vgl. Dreier-Dreier GG I Vorb. vor Art. 1 Rn. 116. Auf der Grundlage dieser Ansicht könnte sich M zwar formell nur auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen; hinsichtlich des materiellen Schutzumfangs wäre er aber Deutschen gleichzustellen.

(2) Weitere Grundrechte

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Zu den Freiheitsrechten, deren persönlicher Schutzbereich beschränkt ist, gehören ferner die Grundrechte, die wegen ihres jeweiligen Sachzusammenhangs eine Sonderstellung einnehmen.

Beispiel

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Art. 16 Abs. 1 GG schützt die deutsche Staatsangehörigkeit. Auf dieses Grundrecht können sich dementsprechend nur deutsche Staatsangehörige i.S.d. Art. 116 Abs. 1 Var. 1 GG und somit nicht alle Deutschen i.S.d. Art. 116 GG berufen.

c) Grundrechtsmündigkeit

107

Definition

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Grundrechtsmündig

Grundrechtsmündig ist jeder, der fähig ist, ein Grundrecht, dessen Träger er ist, entsprechend seiner Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit selbständig auszuüben.

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Auf Grundrechte soll sich nur derjenige berufen können, der grundrechtsmündig ist. Während die Grundrechtsmündigkeit bei geschäftsfähigen Personen unproblematisch gegeben ist, stellt sich die Frage der Grundrechtsmündigkeit bei nicht geschäftsfähigen, vor allem bei minderjährigen Personen.

Vgl. Hufen Staatsrecht II § 6 Rn. 41.

109

Expertentipp

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Wiederholen Sie die Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht!

Im Zivilrecht sind Minderjährige im Alter unter 7 Jahren nicht geschäftsfähig sowie im Alter zwischen 7 und 18 Jahren beschränkt geschäftsfähig (vgl. §§ 104, 106 BGB). Das BGB knüpft die Geschäftsfähigkeit von Personen damit an bestimmte Altersgrenzen. Das Grundgesetz enthält Altersgrenzen dagegen nur in Art. 12a Abs. 1 GG und Art. 38 Abs. 2 GG. Andere Altersgrenzen finden sich im einfachen öffentlichen Recht (vgl. z.B. § 5 S. 2 RelKErzG).

Beispiel

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Kann sich der achtjährige B auf die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 14 Abs. 1 und Art. 12a GG berufen?

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Ob bzw. wann ein Minderjähriger in der Ausübung seiner Grundrechte beschränkt ist, ist umstritten. Nach einer Ansicht ist die individuelle Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit der konkret betroffenen Person maßgeblich (sog. gleitende Altersgrenze). Danach ist ein Minderjähriger grundrechtsmündig, wenn er fähig ist, die Tragweite der Grundrechte zu erkennen. Indizien ergeben sich dabei aus den oben (Rn. 109) genannten normierten Altersgrenzen. Unter Zugrundelegung dieser Ansicht wird sich B je nach seiner individuellen Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit jedenfalls auf die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG berufen können. – Eine andere Ansicht stellt demgegenüber auf die Grenzen ab, die der Gesetzgeber generell gezogen hat (sog. starre Altersgrenze). Dies führt dazu, dass ein Minderjähriger hinsichtlich der Grundrechte, die an die menschliche Existenz anknüpfen, stets, hinsichtlich solcher Grundrechte, deren Ausübung mit privatrechtlichen Regelungen verbunden ist, entsprechend den Altersgrenzen für die Geschäftsfähigkeit im BGB (§§ 2, 104 ff. BGB) und hinsichtlich der Grundrechte, die erst ab einem bestimmten Alter relevant werden, erst ab dem festgelegten Zeitpunkt (z.B. Art. 12a, Art. 38 Abs. 2 GG; § 5 S. 2 RelKErzG) grundrechtsmündig ist. Auf der Grundlage dieser Ansicht kann sich B auf jeden Fall nur auf die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG berufen. Hinsichtlich der anderen Grundrechte hat B demgegenüber noch nicht die jeweiligen Altersgrenzen erreicht.

Expertentipp

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Wie Sie sehen, unterscheiden sich die beiden Ansichten nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis. In der Fallbearbeitung können Sie daher an sich regelmäßig offen lassen, welcher Ansicht zu folgen ist, wenn der Minderjährige in den Bereich einer gesetzlichen Altersbestimmung fällt.

3. Grundrechtskonkurrenzen

a) Begriff

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Auf der Ebene des Schutzbereichs können sich Grundrechtskonkurrenzen ergeben. Grundrechte können miteinander konkurrieren, wenn derselbe Lebenssachverhalt den Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet.

Beispiel

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G ist ordentlicher Professor und Inhaber eines naturwissenschaftlichen Instituts an einer staatlichen Universität. Zur Verbesserung der Lehre in den Naturwissenschaften beschließt der zuständige Landesgesetzgeber, die in Vorlesungen angewendete Methodik zu vereinheitlichen. Für G bedeutet die Neuregelung, dass er zukünftig nicht mehr frei entscheiden kann, wie er seinen Studenten den Vorlesungsstoff vermittelt, sondern dass er detaillierten gesetzlichen Vorgaben folgen muss, die jede Flexibilität vermissen lassen. G ist mit diesem Beschluss überhaupt nicht einverstanden und fühlt sich in seinen Grundrechten verletzt, zumal die Kollegen der anderen Fachbereiche nach wie vor frei lehren dürfen. Dies sieht G überhaupt nicht ein und hält die Neuregelung für willkürlich.

Hinweis

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Unterscheiden Sie den Begriff der Grundrechtskonkurrenz, den wir sogleich näher behandeln werden, von dem Begriff der Grundrechtskollision. Die Grundrechtskollision ist erst bei der Schrankenprüfung von Bedeutung (s.u. Rn. 156 ff.).

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Die Frage, welches Grundrecht einem anderen Grundrecht vorgeht, welches Grundrecht von einem anderen Grundrecht verdrängt wird oder welches Grundrecht neben einem anderen Grundrecht steht, ist allein wegen der unterschiedlichen Schranken, denen die einzelnen Grundrechte unterliegen (einfacher oder qualifizierter Gesetzesvorbehalt; schrankenlos gewährleistetes Grundrecht), von erheblicher Bedeutung. Schließlich richtet sich nach der jeweiligen Schranke, ob und ggf. wie weit die öffentliche Gewalt in ein Grundrecht zulässigerweise eingreifen darf.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung empfiehlt es sich, in einem allerersten Schritt den Sachverhalt grob daraufhin zu überprüfen, welche Grundrechte überhaupt thematisch einschlägig sein könnten (s.o. Rn. 69). Ist der Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet, haben Sie einen Fall der Grundrechtskonkurrenz und müssen das Verhältnis der Grundrechte zueinander bestimmen.

b) Grundsatz

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Bei der Lösung von Grundrechtskonkurrenzen geht es im Grunde um die konkrete Anwendung des Grundsatzes, dass das speziellere Grundrecht dem allgemeineren Grundrecht vorgeht („lex-specialis-Regel“). Sind die Merkmale des Schutzbereichs eines Grundrechts vollständig in einem anderen Grundrecht enthalten und enthält dieses andere Grundrecht darüber hinaus zumindest ein weiteres Tatbestandsmerkmal (sog. logische Spezialität) bzw. ist dieses andere Grundrecht – bei nur unvollständiger Überdeckung der Schutzbereiche der beiden Grundrechte – sachnäher (sog. normative Spezialität), geht dieses Grundrecht vor.

Vgl. auch Hufen Staatsrecht II § 6 Rn. 45 f.

aa) Grundrechtskonkurrenz innerhalb der Freiheitsrechte

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Dies gilt insbesondere für die Konkurrenzen zwischen den Freiheitsrechten. So könnte in unserem Beispielsfall oben (Rn. 111) G in seinem Grundrecht auf Lehrfreiheit, in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit, in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit und in seinem Grundrecht auf allgemeine Gleichbehandlung verletzt sein. Bei den Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2, Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG handelt es sich um Freiheitsrechte und bei Art. 3 Abs. 1 GG um ein Gleichheitsrecht. Die universitäre Lehrtätigkeit kann an sich unter alle drei genannten Freiheitsrechte subsumiert werden: Einschlägig ist aber Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2 GG als lex specialis gegenüber den anderen beiden Freiheitsrechten. Die Lehrfreiheit steht zur allgemeinen Handlungsfreiheit im Verhältnis einer logischen Spezialität und zur Berufsfreiheit im Verhältnis einer normativen Spezialität.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung gilt daher folgende Prüfungsreihenfolge: spezielle Freiheitsrechte vor dem allgemeinen Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Auffanggrundrecht und greift nur, wenn der Schutzbereich eines speziellen Freiheitsrechts nicht eröffnet ist (s.u. Rn. 190). In unserem Beispiel (Rn. 111) ist der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2 GG eröffnet. Art. 2 Abs. 1 GG tritt daher hinter diesem speziellen Freiheitsrecht als subsidiäres Freiheitsrecht zurück.

bb) Exkurs: Grundrechtskonkurrenz innerhalb der Gleichheitsrechte

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Bei den Gleichheitsrechten, bei denen zwischen dem allgemeinen Gleichheitsrecht und den speziellen Gleichheitsrechten zu unterscheiden ist (s.o. Rn. 26 und s.u. Rn. 675), gilt ebenfalls die lex specialis-Regelung, d.h. spezielle Gleichheitsrechte verdrängen in ihrem Anwendungsbereich das allgemeine Gleichheitsrecht.

Beispiel

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Der Gesetzgeber erlässt ein Gesetz, nach dem behinderten Menschen der Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen (z.B. Schwimmbädern) untersagt werden kann. – Das Gesetz kann behinderte Menschen sowohl in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG als auch in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verletzen. Da Art. 3 Abs. 1 GG vollständig in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthalten ist und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darüber hinaus ein weiteres Tatbestandselement enthält, ist Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wegen logischer Spezialität vorrangig gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG anwendbar und damit Prüfungsmaßstab der gesetzlichen Regelung.

cc) Grundrechtskonkurrenz im Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten

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Freiheits- und Gleichheitsrechte stehen grundsätzlich nebeneinander (sog. Idealkonkurrenz).

Vgl. Hufen Staatsrecht II § 6 Rn. 46. In unserem Beispiel oben (Rn. 111) ist daher neben dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2 GG auch das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.

c) Ausnahme

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Wie gesehen, kommt für die Lösung von Grundrechtskonkurrenzen grundsätzlich die lex specialis-Regelung zur Anwendung. Abgesehen von der im Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten gegebenen Idealkonkurrenz (oben Rn. 116) gilt dieser Grundsatz vor allem bei den speziellen Freiheitsrechten allerdings nicht ausnahmslos. Wenn derselbe Lebenssachverhalt den Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet, müssen die Grundrechte nicht immer im Verhältnis lex specialis/lex generalis stehen. Es kann durchaus vorkommen, dass ein Lebenssachverhalt den Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet, die in Idealkonkurrenz zueinander stehen.

Beispiel

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Bei einer Versammlung ist das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG selbständig neben Art. 8 Abs. 1 GG anwendbar, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die versammlungsspezifischen Tätigkeiten des Art. 8 GG zwingend auf den Zweck der (öffentlichen) Meinungsbildung und Meinungskundgabe gerichtet sind.

Vgl. BVerfG (K) NJW 2001, 2459 – Loveparade/Fuckparade. Wird ein Versammlungsverbot erwogen, muss es somit auch am Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG gemessen werden (s. auch unten Rn. 325, 456).

Expertentipp

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Stehen mehrere Grundrechte nebeneinander, beginnen Sie Ihre Prüfung mit dem Grundrecht, das den stärksten Schutz bietet. Welches der möglicherweise verletzten Grundrechte den stärksten Schutz bietet, erkennen Sie an den Schranken der betreffenden Grundrechte. Ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht (z.B. Art. 4 Abs. 1 GG) genießt stärkeren Schutz als ein nur unter Gesetzesvorbehalt garantiertes Grundrecht (z.B. Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 8 Abs. 1 GG). Ein hoheitlicher Eingriff ist bei mehreren einschlägigen Grundrechten nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er die Anforderungen erfüllt, die das am stärksten geschützte Grundrecht aufstellt. Stehen z.B. die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG nebeneinander, ist eine staatliche Maßnahme nur dann gerechtfertigt, wenn sie den Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 GG genügt. Ihre Prüfung beginnen Sie demnach mit Art. 4 Abs. 1 GG. Bei nebeneinander stehenden und mit unterschiedlichen Schranken ausgestatteten Grundrechten prüfen Sie ausnahmsweise das Grundrecht mit dem stärksten Schutz zuerst, auch wenn es vielleicht nicht das sachnächste Grundrecht ist (vgl. hierzu oben Rn. 69).

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