Grundrechte

Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) - Prüfungsschema

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O. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG)

I. Überblick

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Expertentipp

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Lesen Sie zunächst Art. 13 GG durch, um sich einen ersten Überblick über die lange Verfassungsvorschrift zu verschaffen!

Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Bestimmung steht im engen sachlichen Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und schützt die räumliche Privatsphäre, in der der Einzelne das Recht hat, „in Ruhe gelassen zu werden“.

Vgl. BVerfGE 51, 97. Insoweit stellt das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG ein klassisches Abwehrrecht gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt dar und verdrängt in seinem Anwendungsbereich das allgemeine Persönlichkeitsrecht.Vgl. BVerfGE 109, 279.

Hinweis

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Art. 13 GG strahlt nicht in das Verhältnis zwischen Privaten aus, entfaltet also keine mittelbare Drittwirkung. Demnach gewährt Art. 13 GG einem Mieter kein Abwehrrecht gegenüber dem Vermieter.

Vgl. BVerfG (K) WuM 1990, 138. Art. 13 GG enthält auch kein Leistungsrecht gegen die öffentliche Gewalt auf Versorgung mit einer Wohnung.Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 1003.

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Allein Art. 13 Abs. 1 GG enthält eine Aussage zum Schutzbereich. Art. 13 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 GG enthalten Schranken: Absatz 2 enthält eine Schranke speziell im Hinblick auf Durchsuchungen von Wohnungen. Die Absätze 3 bis 5 regeln den sog. „großen Lauschangriff“, der 1998 in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Absatz 7 enthält eine Schranke für die übrigen Fälle; nach seinem Wortlaut gilt er nur subsidiär. Absatz 6 regelt die Kontrolle der getroffenen Maßnahmen durch das Parlament und stellt somit eine organisationsrechtliche Vorschrift dar.

Expertentipp

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Gerade bei einer so langen Bestimmung wie Art. 13 GG ist es sehr wichtig, einen Überblick über die Systematik dieser Vorschrift zu haben. Einzelne Regelungen können Sie dem ausführlichen Gesetzestext entnehmen.

594

Art. 13 GG prüfen Sie wie folgt:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG)

I.

Eröffnung des Schutzbereichs

 

 

1.

Sachlicher Schutzbereich

 

 

2.

Persönlicher Schutzbereich

 

II.

Eingriff

 

III.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs

 

 

1.

Rechtfertigung von Durchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG)

 

 

 

a)

Vorliegen einer Durchsuchung

 

 

 

b)

Grundsatz des Richtervorbehalts

 

 

2.

Rechtfertigung von technischen Überwachungen

 

 

 

a)

Rechtfertigung von akustischen Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel aus repressiven Gründen (Art. 13 Abs. 3 GG)

 

 

 

b)

Rechtfertigung von Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel aus präventiven Gründen (Art. 13 Abs. 4 GG)

 

 

 

c)

Rechtfertigung von Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel zur Eigensicherung (Art. 13 Abs. 5 GG)

 

 

3.

Rechtfertigung von sonstigen Eingriffen (Art. 13 Abs. 7 GG)

 

 

 

a)

Art. 13 Abs. 7 Hs. 1 GG

 

 

 

b)

Art. 13 Abs. 7 Hs. 2 GG

 

 

 

c)

Verhältnismäßigkeit

 

 

4.

Ungeschriebene Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich

 

 

 

 

Behördliche Betretungs- und Besichtigungsrechte von Geschäfts- und Betriebsräumen

Rn. 618

 

II. Eröffnung des Schutzbereichs

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Ihre Grundrechtsprüfung beginnen Sie mit der Untersuchung, ob der sachliche Schutzbereich und der persönliche Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG eröffnet sind.

1. Sachlicher Schutzbereich

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Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs nennt Art. 13 Abs. 1 GG nur die Wohnung. Da Art. 13 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit in räumlicher Hinsicht garantiert, wird der Begriff der Wohnung weit ausgelegt:

Definition

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Wohnung

Wohnung sind alle Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen sind und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht wurden.

Beispiel

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Wohnungen im engeren Sinne; zur Wohnung gehörende Nebenräume wie etwa der Hof, der Keller; Hotelzimmer; Krankenhauszimmer

Vgl. BGHSt 50, 206.; nicht dagegen Häftlingszellen, da das Hausrecht der Anstalt unberührt bleibt vgl. BVerfG (K) NJW 1996, 2643.; wohl aber Vereins- und Clubheime; Wohnmobile; Hausboote; nach überwiegender Auffassung auch Arbeits-, Betriebs- und GeschäftsräumeVgl. BVerfGE 32, 54.; nicht jedoch PKWs und Telefonzellen.

2. Persönlicher Schutzbereich

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Art. 13 Abs. 1 GG stellt ein Jedermann-Grundrecht dar. In den persönlichen Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG fällt jeder, der unmittelbarer Besitzer der geschützten Räume ist. Die Eigentumsverhältnisse sind für die Bestimmung des Grundrechtsberechtigten demgegenüber unerheblich.

Beispiel

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G betreibt eine Bäckerei in Räumen, die er von V gemietet hat. V hat ihm zum 30.6. des laufenden Jahres gekündigt. Am 5.7. ist G immer noch nicht ausgezogen und betreibt seine Bäckerei weiter. An diesem Tag kommen nach Geschäftsschluss zwei Lebensmittelkontrolleure, um die Bäckerei des G vor allem auf die Einhaltung von Hygienevorschriften zu überprüfen.

Teile der Literatur fordern, dass nur der rechtmäßige Besitzer grundrechtsberechtigt ist.

Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 684. Nach dieser Auffassung sind somit die rechtlichen Besitzverhältnisse nach Maßgabe der §§ 854 ff. BGB ausschlaggebend. Unter Zugrundelegung dieser Auffassung wäre G in unserem Beispiel wegen Ablaufs der Mietzeit nicht mehr berechtigter Besitzer und könnte sich gegenüber den Lebensmittelkontrolleuren demnach nicht mehr auf Art. 13 Abs. 1 GG berufen. – Nach wohl überwiegender Auffassung in der Literatur soll es demgegenüber grundsätzlich nicht auf die rechtlichen, sondern in erster Linie auf die tatsächlichen Besitzverhältnisse ankommen.Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass Art. 13 Rn. 6. Nach dieser Ansicht ist für die Eröffnung des Schutzbereichs grundsätzlich nicht die rechtliche Beziehung zur Räumlichkeit, sondern in erster Linie die tatsächliche Beziehung zur Räumlichkeit maßgeblich.Vgl. Sodan/Ziekow-Sodan Grundkurs Öffentliches Recht § 41 Rn. 4. Auf der Grundlage dieser Auffassung kann sich der gekündigte, aber noch nicht ausgezogene G in unserem Beispiel folglich gegenüber den Lebensmittelkontrolleuren auf Art. 13 Abs. 1 GG berufen.

Expertentipp

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Sollte dieser Streit in Ihrer Fallbearbeitung relevant sein, stellen Sie die vertretenen Meinungen fallbezogen dar und schließen sich mit eigener Begründung einer Ansicht an. Für die überwiegende Ansicht könnte z.B. sprechen, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG nicht durch einfach-gesetzlich normierte Besitzverhältnisse bestimmt werden kann, vielmehr der Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG im Lichte seines Schutzzwecks aus sich selbst heraus definiert werden muss.

Beachten Sie zu diesem Streit noch Folgendes: Die Unrechtmäßigkeit des Besitzes kann in der Fallbearbeitung später bei der Frage relevant werden, ob ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

III. Eingriff in den Schutzbereich

598

Ist der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG eröffnet, prüfen Sie, ob die öffentliche Gewalt in den Schutzbereich eingegriffen hat. Als Eingriffe kommen alle staatlichen Beeinträchtigungen der Privatheit der Wohnung in Betracht.

Beispiel

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Staatliche Maßnahmen, mit denen die öffentliche Gewalt körperlich oder mittels technischer Hilfsmittel unkörperlich in die Wohnung eindringt. Beispiele hierfür sind: Durchsuchungen, sonstige Betretungen, technische Überwachungen (etwa durch Wanzen oder Videoüberwachung). Bei Lauschangriffen kann ein Eingriff auch darin bestehen, dass personenbezogene Daten des Besitzers gespeichert und verwertet werden; ferner darin, dass die Benachrichtigungspflicht über die staatlichen Maßnahmen beschränkt wird.

599

Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs ist, dass der Grundrechtsberechtigte mit der staatlichen Maßnahme nicht einverstanden ist.

Vgl. BVerfGE 65, 1.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs

600

Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG vor, untersuchen Sie, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Die Rechtfertigung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG richtet sich nach der jeweiligen Art des Eingriffs. Art. 13 Abs. 2 ff. GG sehen verschiedene Rechtfertigungsmöglichkeiten vor, die wir im Überblick durcharbeiten wollen.

1. Rechtfertigung von Durchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG)

601

Staatliche Durchsuchungen von Wohnungen i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG können nach Maßgabe des Art. 13 Abs. 2 GG gerechtfertigt sein. Die Rechtfertigung prüfen Sie in zwei Schritten:

a) Vorliegen einer Durchsuchung

602

Definition

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Durchsuchung

Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen seitens staatlicher Organe nach Personen oder nach Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhaltes, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offen legen oder hergeben will.

b) Richtervorbehalt

aa) Grundsatz

603

Für die Durchsuchung gilt grundsätzlich ein Richtervorbehalt. Ein Richter soll die Verantwortung für die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung übernehmen.

Beispiel

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Die Ärztin Dr. W steht im Verdacht, einen Abrechnungsbetrug begangen zu haben. Die Patientin T behauptet, Dr. W habe ihr u.a. Kosten für eine Ultraschalluntersuchung in Höhe von 74,71 € in Rechnung gestellt, diese Untersuchung bei ihr aber gar nicht durchgeführt. Dr. W legt zum Beweis, dass sie eine solche Untersuchung bei T durchgeführt hat, Ultraschallbilder vor, deren Echtheit T jedoch anzweifelt. Im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen Dr. W erwirkt der zuständige Staatsanwalt bei Gericht einen Durchsuchungsbeschluss, woraufhin die Praxisräume der Medizinerin durchsucht werden.

604

Der Richter muss jeden Antrag auf Wohnungsdurchsuchung eigenverantwortlich daraufhin überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Durchsuchung vorliegen.

Vgl. BVerfGE 103, 142. Der Richter ist als Kontrollorgan der Verfolgungsbehörden verpflichtet, durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar bleibt.Vgl. BVerfGE 42, 212. Hierzu muss der Beschluss vor allem den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist.Vgl. BVerfGE 103, 142. Der Richter ist verpflichtet, die aufzuklärende Straftat oder Ordnungswidrigkeit zwar kurz, aber dennoch so genau zu umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.Vgl. BVerfGE 20, 162. Durch dieses Vorgehen wird dann der von der Durchsuchung Betroffene gleichzeitig in den Stand versetzt, die Durchsuchung seinerseits zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten von vornherein entgegenzutreten.Vgl. BVerfGE 42, 212.

605

Der Richter muss neben dem äußeren Rahmen auch die Grenzen und das Ziel der Durchsuchung definieren. Dazu gehört insbesondere auch, dass der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und zur Stärke des Tatverdachts stehen muss.

Vgl. BVerfGE 42, 212; 115, 166. Nur wenn der Richter nach erfolgter Prüfung davon überzeugt ist, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist, darf er die Durchsuchung anordnen.Vgl. BVerfGE 96, 44. In unserem Beispiel oben (Rn. 603) hätte der Richter die Durchsuchung nicht anordnen dürfen, weil sie unverhältnismäßig ist. Zum einen lag kein hinreichender Tatverdacht vor. Es bestanden nicht mehr als Vermutungen, dass ein Abrechnungsbetrug begangen worden sein könnte. Zum anderen weist die vorgeworfene Straftat eine relativ geringe Schwere auf. Sie lässt nach den gegebenen Umständen weder eine schwere Straftat noch den Eintritt schwerer Tatfolgen erkennen; hinzu kommt der relativ geringe Betrugsschaden. Dem stehen gewichtige Gesichtspunkte gegenüber, die gegen die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung sprechen: der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern (§ 53 StPO)Vgl. im Hinblick auf Rechtsanwälte BVerfGE 113, 29. sowie der Umstand, dass bei der Durchsuchung der Praxis empfindliche Daten Dritter, insbesondere anderer Patienten von Dr. W, gefährdet waren.

606

Eine Durchsuchung darf nicht zur Ermittlung von Tatsachen erfolgen, die einen Verdacht erst begründen; denn eine Durchsuchung setzt voraus, dass ein Verdacht bereits vorliegt.

Vgl. BVerfGK 11, 88. Für diesen Verdacht reichen vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen nicht aus; es müssen vielmehr sachlich zureichende, plausible Verdachtsgründe vorliegen.Vgl. BVerfGE 117, 244; BVerfG (K) wistra 2012, 63.

607

Beispiel

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Wie oben (Rn. 603). Allerdings erfolgt die Durchsuchung hier erst acht Monate nach Erlass des Durchsuchungsbeschlusses.

Nach dem Sinn des Richtervorbehalts, einem Richter die Verantwortung dafür zu übertragen, dass die Durchsuchung einer Wohnung verhältnismäßig ist, kann dem Richter die Verantwortung nicht zeitlich unbegrenzt zugerechnet werden. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verliert ein Durchsuchungsbeschluss spätestens nach sechs Monaten seine rechtfertigende Kraft.

Vgl. BVerfGE 96, 44. Für unser Beispiel bedeutet dies, dass dem Richter für eine Durchsuchung, die erst acht Monate nach Erlass des Durchsuchungsbeschlusses erfolgt, nicht mehr die Verantwortung für die Durchsuchung zugerechnet werden kann.

bb) Ausnahme

608

Der Richtervorbehalt gilt nicht bei Gefahr im Verzug. In diesem Falle darf ein anderes Organ der öffentlichen Gewalt, in der Praxis regelmäßig die Staatsanwaltschaft oder die Polizei, die Durchsuchung anordnen. Auch diese Organe müssen die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung prüfen.

609

Definition

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Gefahr im Verzug

Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die zeitliche Verzögerung, die dadurch entsteht, dass zunächst versucht werden muss, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde.

Hinweis

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Von der in Art. 13 Abs. 2 GG vorgesehenen Kompetenzverteilung darf nur im Ausnahmefall abgewichen werden. Keinesfalls darf die sog. Eilkompetenz sonstiger Organe der öffentlichen Gewalt zum Regelfall werden.

Vgl. BVerfGE 103, 142; NJW 2015, 2787. Daher muss der Begriff „Gefahr im Verzug“ eng ausgelegt werden. Gefahr im Verzug liegt demgemäß nur vor, wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme (regelmäßig die Sicherung von Beweismitteln) gefährdet würde.Vgl. BVerfGE 51, 97.

Aus Art. 13 Abs. 2 GG ergibt sich zugleich die Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, sicherzustellen, demzufolge ein Ermittlungsrichter bei Tage zwischen 6 Uhr und 21 Uhr uneingeschränkt erreichbar sein muss und ein Bereitschaftsdienst während der Nachtzeit jedenfalls bei Bedarf einzurichten ist, der über den Ausnahmefall hinausgeht.

Vgl. BVerfG NJW 2019, 1428.

Beispiel

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L steht im Verdacht, Hehlereiware in seinem Keller zu horten. Daher will die Staatsanwaltschaft seinen Keller durchsuchen lassen. Weil L bereits begonnen hat, seinen Keller auszuräumen, will die Staatsanwaltschaft sofort tätig werden, weil sie fürchtet, dass andernfalls der Keller leer sein wird, bevor die Durchsuchung beginnt. Auf Anordnung der zuständigen Staatsanwaltschaft wird der Keller noch am selben Tage durchsucht. – Hier lag Gefahr im Verzug vor. Hätte die Staatsanwaltschaft zunächst den Richter angerufen, um eine Durchsuchungsanordnung zu erwirken, hätte L seinen Keller wahrscheinlich bereits leergeräumt. Die Staatsanwaltschaft hatte aufgrund ihrer Observation des L konkrete tatsächliche Anhaltspunkte, dass L die Hehlereiware fortschafft.

2. Rechtfertigung von technischen Überwachungen (Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG)

610

Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG sind 1998 in das Grundgesetz eingefügt worden. Sie bilden die Grundlage für den sog. „Großen Lauschangriff“, durch den technische Überwachungsmaßnahmen in Wohnungen i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG zugelassen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bestimmungen bei entsprechend verfassungskonformer Auslegung für grundsätzlich verfassungsgemäß erklärt.

Vgl. BVerfGE 109, 279. Hinsichtlich der Rechtfertigung von Überwachungsmaßnahmen ist im Einzelnen zu differenzieren:

a) Rechtfertigung von akustischen Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel aus repressiven Gründen (Art. 13 Abs. 3 GG)

611

Expertentipp

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Lesen Sie noch einmal Art. 13 Abs. 3 GG!

Art. 13 Abs. 3 GG betrifft die akustische Überwachung von Wohnungen mit Hilfe technischer Mittel aus repressiven Gründen. Die Überwachung muss nach dem rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (z.B. § 100c Abs. 1 StPO). Sie unterliegt zwingend einem Richtervorbehalt (vgl. Art. 13 Abs. 3 S. 3 und 4 GG). Regelmäßig entscheidet gemäß Art. 13 Abs. 3 S. 3 GG ein Spruchkörper mit drei Richtern. Etwas anderes gilt gemäß Art. 13 Abs. 3 S. 4 GG bei Gefahr im Verzug; in diesem Falle genügt ausnahmsweise ein einzelner Richter. Die Maßnahme ist gemäß Art. 13 Abs. 3 S. 2 GG zu befristen. Außerdem muss sie verhältnismäßig, insbesondere erforderlich, sein (vgl. Art. 13 Abs. 3 S. 1 GG). Ungeschriebene Grenzen eines Eingriffs im Sinne von Erhebungs-, Aufzeichnungs- und Verwertungsverboten sieht das Bundesverfassungsgericht in der Menschenwürde.

Vgl. BVerfGE 109, 279. Beim Abhören muss vermieden werden, dass in den höchstpersönlichen Lebensbereich eingegriffen wird. Je nach Grad der privaten Abgeschirmtheit der Wohnung gilt aber eine abgestufte Schutzintensität. Daher ist ein Abhören von Räumen, in denen ein Beruf ausgeübt wird, eher möglich als ein Abhören von Räumen, die rein privat genutzt werden.

b) Rechtfertigung von Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel aus präventiven Gründen (Art. 13 Abs. 4 GG)

612

Expertentipp

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Lesen Sie noch einmal Art. 13 Abs. 4 GG!

Art. 13 Abs. 4 GG regelt die Rechtfertigung von Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel aus präventiven Gründen. Dringende Gefahren sind solche Gefahren, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit oder in hohem Ausmaß Schäden für wichtige Rechtsgüter drohen.

Expertentipp

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Wie Sie sehen, deckt sich diese Definition mit dem Begriffsverständnis im Polizei- und Ordnungsrecht!

Die Öffentliche Sicherheit betrifft die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger der Hoheitsgewalt. Im Gegensatz zu Art. 13 Abs. 3 GG sind die staatlichen Maßnahmen nicht auf eine akustische Überwachung beschränkt. Daher können hier auch optische oder sonstige technische Mittel zur Überwachung eingesetzt werden. Die Anordnung der technischen Überwachung bedarf nach dem rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage und steht gemäß Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG unter Richtervorbehalt. Bei Gefahr im Verzug darf gemäß Art. 13 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 GG jedoch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle die Überwachung anordnen. In diesem Falle ist allerdings unverzüglich eine richterliche Entscheidung einzuholen (vgl. Art. 13 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 GG). Die ungeschriebenen Grenzen von Eingriffen (dazu oben Rn. 611) gelten hier entsprechend.

c) Rechtfertigung von Überwachungen mit Hilfe technischer Mittel zur Eigensicherung (Art. 13 Abs. 5 GG)

613

Auf gesetzlicher Grundlage kann schließlich auch eine Wohnung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG überwacht werden, um eine Person bei einem Einsatz in einer Wohnung zu schützen, d.h. zur Eigensicherung dieser Person. Wie bei Art. 13 Abs. 4 GG (oben Rn. 612) können bei einer solchen Überwachung sowohl akustische als auch optische oder sonstige technische Mittel zum Schutz dieser Person eingesetzt werden. Eine solche Überwachung kann gemäß Art. 13 Abs. 5 S. 1 GG durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Ausnahmsweise besteht gemäß Art. 13 Abs. 5 S. 2 GG ein Richtervorbehalt, wenn Erkenntnisse aus Überwachungsmaßnahmen gemäß Art. 13 Abs. 5 S. 1 GG zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr verwertet werden sollen.

3. Rechtfertigung von sonstigen Eingriffen (Art. 13 Abs. 7 GG)

614

Bei allen Eingriffen, die nicht unter die speziellen Regelungen des Art. 13 Abs. 2 bis 5 GG subsumiert werden können, greift die Auffangbestimmung des Art. 13 Abs. 7 GG.

a) Art. 13 Abs. 7 Hs. 1 GG

615

Art. 13 Abs. 7 Hs. 1 GG enthält eine verfassungsunmittelbare Grundrechtsschranke. Zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen kann die öffentliche Gewalt in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG eingreifen, ohne dass es einer einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf.

Vgl. Sodan/Ziekow-Sodan Grundkurs Öffentliches Recht § 41 Rn. 16. Gefahr bedeutet die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Eine gemeine Gefahr liegt vor, wenn ein unbestimmter Kreis von Personen oder Sachen bedroht ist. Dies ist z.B. bei Überschwemmungen oder Bränden der Fall.

b) Art. 13 Abs. 7 Hs. 2 GG

616

Demgegenüber enthält Art. 13 Abs. 7 Hs. 2 GG einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG dürfen hier nur aufgrund eines Gesetzes und zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfolgen. Dringende Gefahr bedeutet die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für Rechtsgüter von erheblicher Bedeutung. Das Attribut „dringend“ ist nach herrschender Ansicht nicht in einem zeitlichen Sinne zu verstehen, sondern im Sinne einer qualitativen Steigerung hinsichtlich der schadensbedrohten Rechtsgüter.

Vgl. BGH NJW 2003, 3693. Am Ende des Art. 13 Abs. 7 Hs. 2 GG werden beispielhaft (vgl. Wortlaut „insbesondere“) einige Fälle aufgelistet.

c) Verhältnismäßigkeit

617

Alle Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG, die auf der Grundlage des Art. 13 Abs. 7 GG beruhen, müssen verhältnismäßig sein.

4. Ungeschriebene Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich

618

Umstritten ist, wie sich behördliche Betretungs- und Besichtigungsrechte von Geschäfts- und Betriebsräumen rechtfertigen lassen.

Beispiel

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Mitarbeiter des städtischen Gewerbeaufsichtsamtes suchen vormittags um 10.00 Uhr die Geschäftsräume der Schnellreinigung des W auf und verlangen die Vorlage der Geschäftsunterlagen des laufenden Geschäftsjahres.

Nach überwiegender Auffassung fallen auch die Geschäfts- und Betriebsräume unter den Wohnungsbegriff des Art. 13 Abs. 1 GG (s.o. Rn. 596). Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Auffassung, diese Räumlichkeiten hätten während der normalen Öffnungszeiten jedoch nicht dieselbe Schutzbedürftigkeit wie rein privat genutzte Räume. Dementsprechend misst das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen die Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG nicht an Art. 13 Abs. 7 GG; nach seiner Ansicht gelten vielmehr folgende erleichterte Rechtfertigungsvoraussetzungen:

Vgl. BVerfGE 32, 54.

1.

Es muss eine gesetzliche Ermächtigung zum Betreten und zur Besichtigung von Betriebs- und Geschäftsräumen durch die Behörde existieren. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts reicht generell auch eine Rechtsverordnung aus.

Vgl. BVerwG NVwZ-RR 1995, 425.

Beispiel

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§ 42 Abs. 2 Nr. 1 LFGB. – In unserem Beispiel bildet § 29 Abs. 2 S. 1 GewO die gesetzliche Grundlage für die behördliche Nachschau.

2.

Die gesetzliche Ermächtigung muss den Zweck des Betretens sowie den Gegenstand und Umfang der Prüfung deutlich erkennen lassen. – In unserem Beispiel ermächtigt § 29 Abs. 2 S. 1 GewO die Beauftragten, zum Zwecke der Überwachung Grundstücke und Geschäftsräume des Betroffenen während der üblichen Geschäftszeit zu betreten, dort Prüfungen und Besichtigungen vorzunehmen, sich die geschäftlichen Unterlagen vorlegen zu lassen und in diese Einsicht zu nehmen.

3.

Die Behörde darf die Betriebs- und Geschäftsräume nur zu den üblichen Öffnungszeiten, d.h. zu den Zeiten, zu denen die Räume für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet sind, betreten. – In unserem Beispiel ist dies der Fall. Um 10.00 Uhr vormittags ist eine Schnellreinigung üblicherweise geöffnet.

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