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Ausgangspunkt für die Anfechtungswirkung ist § 142 Abs. 1. Danach ist ein anfechtbares Rechtsgeschäft nach erfolgter Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen.
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Nach der Formulierung des § 142 Abs. 1 bezieht sich die Anfechtung also auf ein „anfechtbares Rechtsgeschäft“.
Demgegenüber sprechen die §§ 119, 120, 123 davon, dass „die Willenserklärung“ angefochten werden kann. Die §§ 119, 120, 123 gewähren also Anfechtungsbefugnisse nicht in Bezug auf das Rechtsgeschäft als solchem, sondern in Bezug auf die Willenserklärung.
Anfechtbar ist auch das Schweigen, wenn es (ausnahmsweise) den Erklärungswert einer Zustimmung hat.
Palandt-Ellenberger § 119 Rn. 4, keine Anfechtungsmöglichkeit besteht hingegen, wenn das Schweigen den Erklärungswert einer Ablehnung hat.Beispiel
Schweigen auf kaufmännisches Bestätigungsschreiben, Schweigen auf befristetes Schenkungsangebot (§ 516 Abs. 1 S. 2), Erbschaftsannahme durch Verstreichen der Ausschlagungsfrist (§ 1943 Hs. 2).
Denn es kann keinen Unterschied machen, ob man ausdrücklich mit „ja“ geantwortet hat, oder ob ein Schweigen kraft Gesetzes dieselbe Erklärungsbedeutung hat.
Palandt-Ellenberger § 119 Rn. 4.324
Was nun eigentlich Gegenstand der Anfechtung ist - das Rechtsgeschäft oder die Willenserklärung - scheint nach den Anfechtungsregeln nicht eindeutig bestimmt zu sein,
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Bei genauer Betrachtung löst sich diese Ungereimtheit jedoch auf: Die Anfechtungsbefugnisse der §§ 119 ff. können sich nur auf die eigene Willenserklärung des Anfechtenden beziehen. Die Anfechtungsregeln wollen ja Willensmängel im Hinblick auf eigene Erklärungen korrigieren. Die §§ 119 ff. gewähren selbstverständlich kein Recht, fremde Willenserklärungen anzufechten, nur weil sie dem eigenen Willen widersprechen.
Beispiel
Der Vermieter kann die Kündigungserklärung eines Mieters nicht anfechten, weil er das Mietverhältnis gerne mit ihm fortsetzen möchte;
der Verkäufer kann die Rücktrittserklärung des Käufers wegen Mängeln des Kaufgegenstandes nicht anfechten, weil ihm eine Minderung lieber wäre.
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Da jedes Rechtsgeschäft aber nur durch eine oder mehrere wirksame Willenserklärung zustande kommen kann,
Ausführlich dazu das Skript S_JURIQ-RGL1/Teil_2/Kap_B/Rz_60„BGB AT I“ unter Rn. 89 ff.führt die Anfechtbarkeit einer Willenserklärung gleichzeitig zur Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts, das durch die anfechtbare Willenserklärung zustande gekommen ist. Mit der rückwirkenden Nichtigkeit der angefochtenen Willenserklärung „fällt“ automatisch das Rechtsgeschäft, ob einseitig oder mehrseitig, „in sich zusammen“.Beispiel
Mieter M will die Kündigung seines unbefristeten Mietervertrages mit V zum 30.9. erklären. In seinem Brief an V gibt er den Termin versehentlich mit 30.6. an. V hat von dem Schreibfehler keine Kenntnis und geht redlicherweise von einer Kündigung zum 30.6. aus. Ficht der Mieter seine Kündigungserklärung wegen Irrtums (§ 119 Abs. 1 Var. 2) fristgerecht (§ 121) an, hat sich zugleich das Rechtsgeschäft „Kündigung zum 30.6.“ erledigt und ist als nichtig anzusehen.
Beispiel
V trägt dem K den Verkauf seines Autos schriftlich zum Preis von 3500 € an. Dabei hatte er sich verschrieben – eigentlich soll sein Angebot auf den Betrag von 5300 € lauten. Der K hat von dem Versehen keine Kenntnis und erklärt deshalb die Annahme, so dass ein Kaufvertrag über 3500 € zustande gekommen ist. Wenn V nun seine Erklärung fristgerecht nach §§ 119 Abs. 1 Var. 2, 121 anficht, vernichtet er seine Willenserklärung und damit zugleich den Kaufvertrag. Der Vertrag setzt eine wirksame Einigung voraus, an der es nunmehr (rückwirkend) fehlt.
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Sie werden sich möglicherweise fragen, warum wir auf diesem Thema hier so „herumreiten“. Es scheint sich ja lediglich um einen rein dogmatischen Streit zu handeln. Die praktische „Brisanz“ zeigt sich im Prüfungsaufbau bei der Begutachtung von Verträgen:
Man kann die Ansicht vertreten, dass die Anfechtung bereits bei der anfechtbaren Willenserklärung zu prüfen ist. Dann gehört das Thema unter den Prüfungspunkt „Zustandekommen des Vertrages“. Dort ist es je nach Anfechtbarkeit entweder beim Angebot oder bei der Annahme zu untersuchen. Ist die Anfechtung wirksam ausgeübt worden, ist der Vertrag dann wegen § 142 Abs. 1 nicht zustande gekommen.
Folgt man hingegen der Formulierung des § 142 Abs. 1, muss die Anfechtung nach dem Zustandekommen des Vertrages als Wirksamkeitshindernis geprüft werden. Denn vor Feststellung des Vertragsschlusses ist das vertragliche Rechtsgeschäft ja noch gar nicht zustande gekommen. § 142 Abs. 1 setzt aber voraus, dass ein Rechtsgeschäft zustande gekommen ist, und zwar durch wirksame, aber anfechtbare Erklärung(en).
Sie sollten der zweiten Auffassung folgen. Dies entspricht der ausdrücklichen Formulierung des § 142 und trägt der Tatsache Rechnung, dass der Vertrag ja zunächst zustande gekommen ist und seine Wirkung erst durch die spätere Anfechtung verloren hat.
So Leenen BGB AT § 6 Rn. 136 ff.; Palandt-Ellenberger § 142 Rn. 2 und Überbl. v. § 104 Rn. 33; wohl auch Medicus Allgemeiner Teil des BGB vgl. Rn. 243, 487, 714 und 726; offen für beide Varianten: Schreiber, JURA 2007, 25 ff. unter II 4; a.A. Bork BGB AT Rn. 915 ff.; Faust BGB AT § 23 Rn. 9.Expertentipp
In der Klausur steigen Sie über § 142 Abs. 1 in das Anfechtungsthema ein, da diese Norm als Rechtsfolge die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts vorsieht. In der Prüfung könnte der Einstiegssatz beispielsweise wie folgt lauten:
„Der zwischen A und B geschlossene Kaufvertrag könnte jedoch wegen einer von A erklärten Anfechtung gem. § 142 Abs. 1 als von Anfang an nichtig anzusehen sein. Dies setzt voraus, dass …“ oder
„Die von A erklärte Aufrechnung könnte jedoch wegen einer von A erklärten Anfechtung gem. § 142 Abs. 1 als von Anfang an nichtig anzusehen sein.“