BGB Allgemeiner Teil 2

Fiktion einer durch Urkunde belegten Innenvollmacht (§§ 172, 173)

5. Fiktion einer durch Urkunde belegten Innenvollmacht (§§ 172, 173)

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Die Rechtsscheinstatbestände der §§ 172, 173 betreffen einen besonderen Fall der Kundgabe einer Innenvollmacht. § 172 knüpft an die Kundgabe einer Innenvollmacht durch Vorlage einer VollmachtsUrkunde durch den Vertreter an.

Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 1. Da der Vollmachtgeber seine Vollmachtsurkunde bei Erlöschen der Vollmacht nach § 175 zurückfordern kann, scheint die Vollmacht aus Sicht des Dritten im Fall des § 172 noch nicht erloschen zu sein. Sonst könnte der Vertreter die Urkunde dem Dritten ja nicht vorlegen, sondern hätte sie längst dem Vollmachtgeber wieder zurückgeben müssen.

Expertentipp

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Den Einstieg in die Prüfung der §§ 172, 173 könnten Sie wie folgt „anmoderieren“:

„(…) V handelte bei Abschluss des Vertrages mit A folglich ohne wirksame Vollmacht des B. Möglicherweise ist V dem A gegenüber aber nach §§ 172, 173 aufgrund der von ihm vorgelegten Urkunde des B zu dessen Vertretung bei Abschluss des Vertrages befugt gewesen. Das setzt voraus …“

a) Vorlage einer Vollmachtsurkunde durch den Vertreter vor oder bei Vornahme des Rechtsgeschäfts

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Nach § 172 Abs. 1 wird der Rechtsschein bestehender InnenVollmacht durch Vorlage der Urkunde erzeugt, die der Vertretene als Aussteller der Urkunde dem Vertreter ausgehändigt hat.

Der Vertreter muss also spätestens bei Vornahme des Rechtsgeschäfts die Originalurkunde vorgelegt haben. Eine nachträgliche Vorlage der Urkunde kann ein schutzwürdiges Vertrauen des Geschäftspartners in die Vertretungsmacht des handelnden Vertreters nicht mehr begründen. Es gilt auch hier nichts anderes als bei §§ 170, 171, wo der Rechtsscheinstatbestand bei Vornahme des Rechtsgeschäfts vorliegen muss.

BGH Urteil vom 27.5.2008 (Az: XI ZR 149/07) unter Ziff. II 3a; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 3.

Beispiel

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Vertreter V schließt im Namen und Auftrag des A einen Darlehensvertrag mit der B Bank. Angenommen, sowohl Auftrag als auch Vollmacht wären nach § 134 wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz nichtig. Wenn V der Bank nach Abschluss des Darlehensvertrages, aber vor Auszahlung des Darlehens noch eine von A unterzeichnete Vollmacht vorlegt, führt das nicht zur Anwendbarkeit von §§ 172, 173. Die Vorlage ist zu spät erfolgt. Der Darlehensvertrag ist nach § 177 unwirksam.

BGH Urteil vom 27.5.2008 (Az: XI ZR 149/07) unter Ziff. II 3a.

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Der Geschäftspartner soll darauf vertrauen können, dass die ihm vorgelegte Urkunde dem Vertreter zum Zwecke des Vollmachtsnachweises überlassen wurde und demnach eine Bevollmächtigung in diesem Umfang besteht. Dieses Vertrauen kann aber nur entstehen, wenn dem Dritten eine vom Vertretenen ausgestellte Originalurkunde vorgelegt wird, die die Unterschrift (§ 126) oder ein beglaubigtes Handzeichen (§ 129) des Vertretenen trägt.

Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 2. Kopien genügen nicht, da Kopien von jedermann hergestellt werden können und daher nichts über den Verbleib der Originalurkunde und den Fortbestand der Vollmacht besagen.BGH Urteil vom 25.4.2006 (Az: XI ZR 219/04) Tz. 24 = NJW 2006, 1957 ff.; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 3; Faust BGB AT § 26 Rn. 33. Aus einer Kopie geht allenfalls hervor, dass der Vertreter einmal mit Vollmacht ausgestattet war, aber nicht, dass er sie aktuell noch besitzt. Der Vertretene könnte die Originalurkunde ja zwischenzeitlich wegen Erlöschens der Vollmacht nach § 175 zurückgefordert und wieder erhalten haben.

Allerdings genügen Durchschriften („Blaupausen“), wenn es an dem Charakter einer Durchschrift keine Zweifel gibt. Der Aussteller wollte damit ja ein zweites Original herstellen.

Urteil des BGH vom 25.4.2006 (Az: XI ZR 219/04) Tz. 23 f. = NJW 2006, 1957 ff. Gleiches gilt für Ausfertigungen einer notariell beurkundeten Vollmacht i.S.d. § 47 BeurkG.BGH NJW 1988, 697, 698 unter Ziff. B I 2c.

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Der Vertreter legt die Urkunde vor i.S.d. § 172 Abs. 1, wenn er sie dem Dritten zur sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglich macht.

BGH NJW 1988, 697, 698 unter Ziff. B I 2c; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 3; Faust BGB AT § 26 Rn. 33. Verweise auf eine bei Abschluss nicht unmittelbar verfügbare Urkunde genügen nicht.BGH NJW 1988, 697, 698 unter Ziff. B I 2c; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 3; Faust BGB AT § 26 Rn. 33. Eine tatsächliche Einsichtnahme des Dritten ist nach § 172 Abs. 1 hingegen nicht erforderlich. Der Dritte handelt insofern auf eigenes Risiko, wenn er keine Einsicht nimmt. Decken sich seine Vorstellungen vom Inhalt der Urkunde mit deren tatsächlichen Inhalt, ist er schutzwürdig. Aufgrund der Vorlage einer Urkunde wurde das vom Vertreter (konkludent) behauptete Bestehen ausreichender Vertretungsmacht erhärtet. Hat die Urkunde aber einen ganz anderen Inhalt, rächt sich sein Vertrauen in das Auftreten des Vertreters. Mangels objektiven Rechtsscheins kommt keine Zurechnung nach §§ 172, 173 in Betracht.

Definition

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Vollmachtsurkunde vorgelegt

Eine Vollmachtsurkunde wird vorgelegt i.S.d. § 172 Abs. 1, wenn der Vertreter dem Geschäftspartner das Original, eine Durchschrift oder notariell beurkundete Ausfertigung der Urkunde bei Vornahme des Rechtsgeschäfts so zugänglich macht, dass dieser in die Lage versetzt wird, sich unmittelbar Kenntnis von ihrem Inhalt zu verschaffen.

Beispiel

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V will im Namen des A einen Grundstückskaufvertrag mit B schließen, der vom Notar N notariell beurkundet werden soll. Die von A dafür zuvor erteilte Vollmacht liegt dem N bereits vor, da er sie selbst beurkundet hatte. V schließt nun den Kaufvertrag mit B im Namen des A und verweist im Notartermin bei N auf die von N beurkundete Vollmacht des A. Allerdings hatte A die Vollmacht zwischenzeitlich intern widerrufen. B lässt sich die Urkunde nicht zeigen. Trotzdem kommen §§ 172, 173 zur Anwendung. B konnte im Notartermin jederzeit die Vollmacht des A einsehen. Es wäre unsinnig zu verlangen, dass N die Urkunde aus seinem Aktenschrank hätte holen müssen.

BGH in BGHZ 76, 76, 78 f. Es stellte sich ansonsten die (noch unsinnigere) Frage, wie weit entfernt von B die Urkunde hätte platziert sein müssen, um von einer „Vorlage“ sprechen zu können.

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Sofern die kundgegebene Innenvollmacht tatsächlich besteht, ist die Urkunde richtig. Es liegt gar kein Rechtsscheinstatbestand vor. § 172 setzt daher voraus, dass die kundgegebene Innenvollmacht bei Vornahme des Vertretergeschäfts gar nicht oder zumindest nicht im kundgegebenen Umfang besteht. Sie kann wie bei § 171 Abs. 1 nie erteilt, anfänglich nichtig oder nachträglich erloschen sein.

BGH Urteil vom 21.6.2005 (Az: XI ZR 88/04) unter Ziff. II 2b aa = NJW 2005, 2985; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 1.

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Da die Vorlage der Urkunde die Erteilung einer Außenvollmacht ersetzt, darf sie den Vertretenen nicht stärker binden als eine von ihm erteilte Außenvollmacht. Die Wirkung des § 172 Abs. 1 setzt daher Geschäftsfähigkeit des Ausstellers im Zeitpunkt der Vorlage voraus.

Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 1. Die Wirkung der Vorlage nach § 172 Abs. 1 ist außerdem wegen Willensmängeln bei Herstellung der Urkunde nach §§ 119 ff. durch Erklärung gegenüber dem Geschäftspartner anfechtbar.Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 1.

Expertentipp

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Vergleichen Sie den Fall jetzt noch einmal mit der Situation ohne Vorlage der Urkunde oben unter Rn. 65.

Beispiel

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A bevollmächtigt den V, für ihn einen Pkw zu erwerben. A will für das Fahrzeug maximal 1000 € investieren. Er händigt dem V eine schriftliche Vollmachtsurkunde aus. Bei Anfertigung dieser Urkunde hat er sich aber verschrieben. Nach dem Wortlaut der Urkunde wird V – der von den abweichenden Vorstellungen des A nichts weiß – bevollmächtigt, einen Pkw für maximal 2000 € im Namen des A zu erwerben. A widerruft die Vollmacht in einem an V gerichteten Brief wegen des Schreibfehlers und fordert die Urkunde zurück. Der Brief bleibt bei V ungeöffnet liegen.

V schließt in der Folge im Namen des A einen Kaufvertrag mit B über einen Pkw zum Preis von 1800 €. Dabei legt V dem B die Vollmachtsurkunde des A vor.

Hier ist die Vollmacht wirksam widerrufen worden, da die Widerrufserklärung dem V als möglichem Empfänger (§§ 168 S. 3, 167 Abs. 1) gem. § 130 Abs. 1 S. 1 zugegangen und damit wirksam geworden ist. Auf eine tatsächliche Kenntnisnahme des V kommt es nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass dem V eine Kenntnisnahme vom Inhalt des ihm zugestellten Briefs möglich gewesen ist. Da die Widerrufserklärung dem V vor Abschluss des Kaufvertrages mit B zugegangen ist, handelte V bei Vertragsschluss ohne Vollmacht. Der Kaufvertrag wirkt dennoch unmittelbar für und gegen A, da die dem V erteilte Vollmacht gegenüber dem gutgläubigen B nach §§ 172, 173 wegen Vorlage der Originalurkunde bestehen geblieben ist. Die Rückforderung als solche beseitigt den durch Vorlage geschaffenen Rechtsschein nicht, wie sich aus § 172 Abs. 2 ergibt. Da A an die Vorlage der Urkunde und die damit verbundenen Wirkungen aber nicht stärker gebunden sein kann, als an eine dem B gegenüber erklärte Außenvollmacht, kann er die mit der Vorlage verbundenen Wirkungen durch Anfechtung gegenüber B analog §§ 119 Abs. 1 Fall 1, 121 Abs. 1, 143 Abs. 3 S. 1 beseitigen. Er haftet dann dem B aus § 122 analog.

b) Keine Rückgabe oder Kraftloserklärung der Urkunde vor Vornahme des Vertretergeschäfts, § 172 Abs. 2

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Der objektive Rechtsscheinstatbestand entfällt gem. § 172 Abs. 2 erst mit Rückgabe der Urkunde oder Kraftloserklärung nach § 176.

c) Aushändigung der Vollmachtsurkunde an Vertreter

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Die Zurechenbarkeit des durch Vorlage der Urkunde geschaffenen Rechtsscheins ergibt sich daraus, dass der Vertretene dem Vertreter die Urkunde ausgehändigt hat.

Faust BGB AT § 26 Rn. 30.

Definition

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Aushändigen

Unter Aushändigen versteht man eine willentliche Übergabe der Urkunde.

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An abhanden gekommenen Urkunden, also solchen Urkunden, die ohne den Willen des Ausstellers in den Besitz des Vertreters gelangt sind, knüpft der Tatbestand des § 172 mangels Zurechenbarkeit nicht an.

Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 2; Faust BGB AT § 26 Rn. 35.

Beispiel

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A will seiner Freundin F eine Vollmacht zum Abschluss eines Mobilfunkvertrages in seinem Namen erteilen, da er selbst für längere Zeit verreisen muss. Er bereitet alles vor und unterschreibt die auf F lautende Vollmachtsurkunde. Er will sich die Sache nun aber doch noch einmal überlegen und lässt die Urkunde auf seinem Schreibtisch liegen. In seiner Abwesenheit nimmt F die Urkunde und schließt im Namen des A unter Vorlage der Urkunde den Vertrag mit der Mobilfunkanbieterin M AG.

Der Vertrag ist hier nach §§ 164, 177 schwebend unwirksam. A hatte eine Vollmachtserklärung noch gar nicht vollständig abgegeben, so dass keine Innenvollmacht nach § 167 Abs. 1 Var. 1 entstehen konnte.

Siehe dazu das Skript S_JURIQ-RGL1/Teil_3/Kap_C/Abschn_II/Nr_4/Rz_119S_JURIQ-RGL1/Teil_3/Kap_C/Abschn_I/Nr_5/Rz_119„BGB AT I“ unter Rn. 119 ff. A hatte der F die Urkunde außerdem nicht i.S.d. § 172 Abs. 1 ausgehändigt. Vielmehr hatte sie sich den Besitz eigenmächtig ohne seine Zustimmung verschafft.

d) Gutgläubigkeit des Dritten bei Vornahme des Rechtsgeschäfts mit dem Vertreter, § 173

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Hier stellt sich zunächst das gleiche Problem wie im Fall des § 171. § 173 nimmt keinen Bezug auf § 172 Abs. 1. Wenn die Urkunde nicht nach § 172 Abs. 2 zurückgegeben oder für kraftlos erklärt wird, käme danach auch derjenige Geschäftspartner in den Genuss der Wirkung des § 172 Abs. 1, der die Unrichtigkeit der Urkunde kannte oder kennen musste. Wie im Fall des § 172 Abs. 1 wird § 173 auch hier durch analoge Anwendung korrigiert.

Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 946; Faust BGB AT § 26 Rn. 37. Der Dritte ist also auch dann nicht schutzwürdig, wenn er die Unrichtigkeit der Vollmachtsurkunde bereits bei Vorlage kannte oder kennen musste.

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Da § 172 keine Einsichtnahme der Urkunde verlangt, kann die Schutzwürdigkeit des Dritten nicht damit verneint werden, mangels Einsichtnahme habe sich kein schutzwürdiges Vertrauen bilden können.

BGH Urteil vom 25.4.2006 (Az: XI ZR 219/04) Tz. 30 = NJW 2006, 1957 ff.; Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 3. Die durch Vorlage geschaffene Möglichkeit der Einsichtnahme wird vom Gesetz als ausreichender Anknüpfungspunkt für das schutzwürdige Vertrauen angesehen.

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