BGB Allgemeiner Teil 1

Zugang (bei Empfangsbedürftigkeit) - Zugang bei Abgabe unter Abwesenden, § 130 Abs. 1 S. 1

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II. Zugang bei Abgabe unter Abwesenden, § 130 Abs. 1 S. 1

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Wie und wann geht eine empfangsbedürftige Willenserklärung dem jeweiligen Empfänger zu? Betrachten wir als erstes den Zugang bei Abgabe unter Abwesenden.

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1. Abgabe unter Abwesenden

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Eine Erklärung ist nach dem Wortsinn unter Abwesenden abgegeben, wenn sich der Erklärende und der Adressat räumlich getrennt voneinander aufhalten. Aus § 147 Abs. 1 S. 2 folgt aber, dass der Gesetzgeber die räumliche Trennung alleine nicht für das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal hält. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Kommunikation nur mittels verkörperter, d.h. zur wiederholbaren Wahrnehmung gespeicherter Erklärungen erfolgt und kein unmittelbarer persönlicher Kontakt zwischen Erklärendem und Empfänger mit sofortiger Nachfragemöglichkeit besteht.

Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 288; Palandt-Ellenberger § 147 Rn. 5; Faust BGB AT § 3 Rn. 7; Petersen JURA 2006, 426, 427 unter Ziff. II 2.

Beispiel

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Übermittlung der Erklärung an den räumlich getrennten Adressaten per Brief, Fax, E-Mail oder SMS;

aber auch: Übermittlung einer mündlichen Erklärung durch einen Boten des Erklärenden, weil hier keine unmittelbare Nachfragemöglichkeit zwischen Erklärendem und Empfänger besteht.

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Die am Telefon oder im Rahmen einer sonstigen „Live-Schaltung“ (z.B. in einer sog. „Videokonferenz“) gegenüber einem – räumlich entfernten – Empfänger abgegebene Erklärung erfolgt wertungsmäßig „unter Anwesenden“ und nicht „unter Abwesenden“ i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 1. In diesen Fällen besteht nämlich ein direkter Übermittlungskontakt mit Nachfragemöglichkeit und es fehlt an einer Speicherung, die dem Empfänger die Überprüfung des Verstandenen durch wiederholte Wiedergabe ermöglichen würde.

Medicu/Petersen s a.a.O.; Palandt-Ellenberger a.a.O.; Faust BGB AT § 3 Rn. 7. Wird eine telefonische Nachricht demgegenüber auf den Anrufbeantworter des Empfängers gesprochen, liegt mangels unmittelbaren Kontakts und wegen der erfolgten Speicherung Abgabe unter Abwesenden vor.Palandt-Ellenberger a.a.O.; Faust a.a.O.

Hinweis

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Wird die Erklärung gegenüber einem im vorgenannten Sinne anwesenden Empfangsvertreter des Adressaten abgegeben, gelten die Regeln über den Zugang von Willenserklärungen gegenüber Anwesenden.

BGH NJW 1996, 1062, 1064 unter Ziff. II 2a; Palandt-Ellenberger § 147 Rn. 5. Die Anwesenheit des Vertreters ersetzt die Anwesenheit des Adressaten.

2. Grundregeln für den Zugang

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Die Frage, unter welchen Voraussetzungen von Zugang im Sinne des § 130 Abs. 1 S. 1 gesprochen werden kann, beantwortet das Gesetz nicht.

a) Zugang durch Kenntnisnahme

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Zunächst ist eines selbstverständlich: Nimmt der Empfänger die Erklärung tatsächlich zur Kenntnis, ist der Zugang in diesem Moment erfolgt.

Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 276; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; Faust BGB AT § 2 Rn. 24. Das Ziel der Kenntnisnahme des Empfängers von der abgegebenen Erklärung ist in diesem Moment ja erreicht.

b) Zugang vor oder sogar ohne Kenntnisnahme

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Wenn Zugang stets nur durch Kenntnisnahme des Empfängers eintreten könnte, hätte der Gesetzgeber dies aber in § 130 Abs. 1 S. 1 so ausgesprochen.

In einigen umliegenden Vorschriften stellt der Gesetzgeber – zwar in anderen Zusammenhängen – ausdrücklich auf die tatsächliche Kenntnis ab, vgl. §§ 121 Abs. 1 S. 1, 123 Abs. 2, 140. Mit Zugang ist offenbar nicht nur die tatsächliche Kenntnisnahme gemeint. Der Zugang kann folglich auch schon früher, also auch ohne tatsächliche Kenntnis eintreten. Dabei kommt theoretisch jeder Zeitpunkt in Betracht, der zwischen der Abgabe und der tatsächlichen Kenntnisnahme durch den Empfänger liegt. Je früher der Zugangszeitpunkt gelegt wird, desto mehr Risiken einer fehlerhaften oder gescheiterten Übermittlung werden dem Empfänger auferlegt – und umgekehrt.

Mit Hilfe der Zugangsdefinition sollen diese Risiken angemessen verteilt werden. Dabei ist zu bedenken, dass bei Abgabe unter Abwesenden kein unmittelbarer Kontakt zwischen den beteiligten Personen besteht. Der Erklärende kann auf die Kenntnisnahme durch den Empfänger hier nur begrenzten Einfluss nehmen. Der Erklärende muss auf typische Abläufe außerhalb seines Einflussbereiches vertrauen und den Zugangszeitpunkt einigermaßen zuverlässig einschätzen können. Fragen wie „Hast Du das jetzt verstanden? – Wirklich?“ kann der Erklärende bei räumlicher Abwesenheit des Empfängers eben nicht stellen.

Der Empfänger kann demgegenüber bei räumlicher Trennung unvorbereitet sein und muss mit der Übermittlung einer Erklärung nicht unbedingt rechnen. Er soll zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme haben und darf den Wirkungen einer Erklärung nicht wehrlos ausgeliefert werden.

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Unter Abwägung dieser Umstände hat sich für den Zugang einer unter Abwesenden abgegebenen Willenserklärung die sog. „Empfangstheorie“ durchgesetzt. Danach trägt der Erklärende das Risiko einer fehlerhaften oder gescheiterten Übermittlung bis zur erfolgreichen Zustellung in den Machtbereich des Empfängers. Ab diesem Zeitpunkt ist der Empfänger mit der Gefahr einer fehlerhaften oder gescheiterten Kenntnisnahme belastet. Die Beteiligten werden also jeweils mit den Risiken belastet, die sie besser als der andere beherrschen und vermeiden können.

Definition

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Unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung geht

Eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung geht spätestens in dem Moment zu, in dem sich der Empfänger nach der Verkehrsanschauung üblicherweise und nicht nur durch Zufall Kenntnis vom Inhalt einer in seinen Machtbereich gelangten Erklärung verschaffen kann.

Vgl. Urteil des BGH vom 21. Januar 2004 (Az: XII ZR 214/00) unter Ziff. II 2 m.w.N. = NJW 2004, 1320; Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 273 f.; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; Faust BGB AT § 2 Rn. 21 ff.

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Der Zugang erfordert demnach kumulativ zwei Voraussetzungen, nämlich zum einen den tatsächlichen Eintritt in den Machtbereich des Empfängers (räumliches Element) und zum anderen den Eintritt desjenigen Zeitpunkts, an dem nach allgemeinen Maßstäben eine Kenntnisnahme zu erwarten war (normatives zeitliches Element). Erst mit Eintritt dieses Zeitpunkts ist der Zugang vollendet.

BGH a.a.O.; MüKo-Einsele § 130 Rn. 16, 19; Faust BGB AT § 2 Rn. 23.

aa) Eintritt in den Machtbereich des Empfängers

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Zunächst muss die Erklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt sein. Zum Machtbereich gehört der räumliche Herrschaftsbereich des Empfängers sowie ein nach der Verkehrsanschauung zur Entgegennahme für ihn bereit stehender Empfangsbote oder eine von ihm zur Empfangnahme bereit gehaltene Einrichtung.

Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; Faust BGB AT § 2 Rn. 32 ff.

Definition

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In den Machtbereich des Empfängers

In den Machtbereich des Empfängers (= Adressaten) gelangt die Erklärung, wenn sie in den persönlichen Herrschaftsbereich des Empfängers oder an einen von ihm nach der Verkehrsanschauung zur Entgegennahme bereit stehenden Empfangsboten bzw. an eine bereit gehaltene Einrichtung übermittelt wurde.

Palandt-Ellenberger a.a.O.

Beispiel

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Ein Brief gelangt in den Machtbereich des Empfängers, wenn er ihm oder seinem Empfangsboten übergeben, wenn er in seinen Briefkasten eingeworfen oder wenn er in das von ihm unterhaltene Postfach einsortiert wurde;

ein Fax gelangt in den Machtbereich des Empfängers, wenn es von seinem Empfangsgerät gespeichert wurde;

Etwas anders allerdings Faust BGB AT § 2 Rn. 33 m.w.N., der bereits auf die Signalüberschreitung an der Schnittstelle vom Festnetzanschluss zum internen Netz abstellt. eine SMS oder E-Mail gelangt in den Machtbereich des Empfängers, wenn sie im „Posteingangsordner“ des Empfängers auf dem Server seines Providers abgespeichert wurde;

eine mündliche, durch Erklärungsboten auf den Weg gebrachte Nachricht gelangt in den Machtbereich des Empfängers, wenn sie der Erklärungsbote dem Empfänger (oder dessen Empfangsboten) mündlich ausrichtet. Vergisst der Erklärungsbote die Übermittlung oder ändert er versehentlich ihren Inhalt, geht die ihm aufgetragene Erklärung dem Empfänger in ihrer ursprünglichen Form nicht zu.

bb) (Objektivierte) Möglichkeit der Kenntnisnahme

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Nach Eintritt in den Machtbereich ist der Zugang erst vollendet, sobald die Kenntnisnahme möglich und nach der Verkehrsanschauung üblicherweise zu erwarten ist.

BGH Urteil vom 21. Januar 2004 (Az: XII ZR 214/00) = NJW 2004, 1320 ff.; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5. Der Zeitpunkt hängt auch davon ab, ob der Empfänger mit der konkreten Form der Zustellung rechnen musste.Faust BGB AT § 2 Rn. 35. Im Interesse der Rechtssicherheit spielen die individuellen Umstände des Empfängers keine Rolle. BGH Urteil vom 21. Januar 2004 (Az: XII ZR 214/00) = NJW 2004, 1320 ff.; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5.

Beispiel

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Mit der Zustellung von Briefen in den allgemein zugänglichen Briefkasten muss jederzeit gerechnet werden – dazu ist er ja da. Das heißt aber nicht, dass der Briefkasten stündlich geleert werden muss. Zugang kann – vorbehaltlich einer vorzeitigen Kenntnisnahme! – erst dann eintreten, wenn mit der Leerung üblicherweise zu rechnen ist. Das wird spätestens nach 18 Uhr oder an Sonntagen nicht mehr anzunehmen sein.

Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 6. Ein eigenhändig um 23 Uhr in den Briefkasten eingeworfener Brief geht dem Empfänger also erst am nächsten Tag zu, da nachts typischerweise keine Briefkästen mehr geleert werden; bei Briefzustellung an ein Geschäftsbüro des Empfängers kann mit einer Kenntnisnahme nur zu den Bürozeiten gerechnet werden. Für den Fall, dass ein Brief am Silvestertag (31.12.) um 15.50 Uhr im Bürobriefkasten eingeworfen wird, kann Zugang – vorbehaltlich einer früheren tatsächlichen Kenntnisnahme – erst am 2. Januar (der 1. Januar ist Feiertag!) eintreten, da am Silvestertag nachmittags üblicherweise nicht mehr im Büro gearbeitet wird;BGH Urteil vom 5. Dezember 2007 (Az: XII ZR 148/05) = NJW 2008, 843. wird ein Brief im Haus des Empfängers versteckt, ist der Brief zwar in den Machtbereich des Empfängers eingetreten. Der Empfänger muss mit einer solchen „Zustellung“ aber nicht rechnen, so dass eine Kenntnisnahme nach der Verkehrsanschauung noch nicht zu erwarten ist. Der Zugang kann hier erst vollendet werden, wenn der Empfänger den Brief entdeckt hat. Denn dann ist auch eine tatsächliche Kenntnisnahme seines Inhalts zu erwarten.Faust BGB AT § 2 Rn. 35 ff.

Beispiel

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Eine im Empfangsgerät abgespeicherte Nachricht kann üblicherweise erst nach Ausdruck zur Kenntnis genommen werden. Der Faxausdruck ist daher neben der Speicherung weitere Zugangsvoraussetzung.

Vgl. Urteil des BGH vom 21. Januar 2004 (Az: XII ZR 214/00) unter Ziff. II 2 m.w.N. = NJW 2004, 1320; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 7. Außerdem kommt es darauf an, um welche Uhrzeit der Ausdruck erfolgt. Geschieht dies im Geschäftsverkehr außerhalb üblicher Bürozeiten, geht die Erklärung erst am nächsten Werktag zu.Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 7. Hier gilt nichts anderes als bei der Briefzustellung. Bei Übermittlung an private Empfangsgeräte existieren zwar keine „Bürozeiten“ – jedoch wird man mit einer Kenntnisnahme in den Nachtstunden nicht rechnen dürfen.Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 7; MüKo-Einsele § 130 Rn. 20. Wird ein Fax etwa um 23.30 Uhr ausgedruckt, kann Zugang auch bei privaten Empfangsgeräten erst am nächsten Tag eintreten.

Beispiel

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Bei Übermittlung von Nachrichten per SMS, E-Mail oder Anrufbeantworter ist besonders darauf zu achten, ob der Empfänger mit dieser Form der Übermittlung rechnen musste. Schließlich kann es sich hier auch um Einrichtungen für eine rein private Kommunikation ohne Geschäftsabsicht handeln (z.B. „private“ E-Mail-Adresse neben „beruflicher“ E-Mail-Adresse). Hat der Empfänger die jeweiligen Kontaktdaten gegenüber dem Erklärenden nicht offenbart, sondern „geheim“ gehalten, und erhält der Erklärende per Zufall Kenntnis davon, darf er nicht damit rechnen, der Empfänger werde seine dahin übermittelten Nachrichten zur Kenntnis nehmen. Zugang tritt frühestens erst dann ein, wenn der Empfänger vom Eingang der Erklärung Kenntnis erlangt.

Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 7a; MüKo-Einsele § 130 Rn. 18.

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Da es nur darauf ankommt, wann mit der Kenntnisnahme üblicherweise zu rechnen ist, tritt Zugang auch dann nach allgemeinen Regeln ein, wenn der Empfänger aus individuellen Gründen in seiner Sphäre nicht in der Lage war, vom Inhalt der Nachricht Kenntnis zu nehmen. Denn gerade diese Risiken sollen dem Erklärenden definitionsgemäß nicht mehr aufgebürdet werden, sondern dem Empfänger zur Last fallen.

Dem Empfänger obliegt es, dafür zu sorgen, dass ihn die Nachrichten, die an seine für die Kommunikation mit dem Erklärenden bereit gehaltenen Empfangsvorrichtungen übermittelt werden, auch tatsächlich erreichen. Zugang tritt deshalb auch dann nach allgemeinen Regeln ein, wenn der Empfänger wegen urlaubsbedingter Abwesenheit oder aus Krankheitsgründen an der tatsächlichen Kenntnisnahme gehindert war.

BGH im Urteil vom 21. Januar 2004 (Az: XII ZR 214/00) = NJW 2004, 1320 m.w.N.; Urteil des S_BAG\-2004-06-24\-2AZR461-03 BAG vom 24. Juni 2004 (Az: 2 AZR 461/03) unter Ziff. B I 2 m.w.N. = NZA 2004, 1330; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; Faust BGB AT § 2 Rn. 36 f.

Beispiel

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Mieter M erklärt seinem Vermieter V am 31. März schriftlich die ordentliche Kündigung des unbefristeten Wohnraumietvertrages zum 30. Juni und sendet ihm das Kündigungsschreiben per Post zu. Der Zusteller wirft es am 2. April vormittags in den Briefkasten des V ein. V ist jedoch im Urlaub und kehrt erst am 10. April wieder zurück. Endet das Mietverhältnis zum 30. Juni?

Da die urlaubsbedingte Abwesenheit als individuelles Hindernis dem Zugang nicht entgegenstehen soll, ist die Kündigungserklärung noch am 2. April zugegangen und damit zu diesem Zeitpunkt wirksam geworden. Das Mietverhältnis wird nach § 573c Abs. 1 S. 1 zum 30. Juni beendet. Nichts anderes gilt, wenn die Reinigungskraft des V den Brief versehentlich zusammen mit Werbesendungen in einer Altpapiertonne „entsorgt“ hätte.

3. Zustellungshindernisse und Treuwidrigkeit des Erklärenden

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Umstritten ist bei den eben geschilderten Fällen, ob Zugang auch dann nach allgemeinen Regeln eintreten kann, wenn der Erklärende die individuellen Zugangshindernisse auf Seiten des Empfängers kennt.

Beispiel

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Der kommunikationsschwache und konfliktscheue Arbeitgeber A will seinem Angestellten B kündigen. Um jedwede Diskussion zu vermeiden, schickt er seine schriftliche Kündigungserklärung an die Privatadresse des B, als dieser gerade Urlaub hat und für vier Wochen nach Mallorca verreist ist. Der Brief wird am 1.7. vormittags mit der sonstigen Post in den Briefkasten des B eingeworfen. Erst am 28.7. kehrt B wieder aus dem Urlaub zurück und leert den Briefkasten. Der Auslandsaufenthalt des B war dem A bekannt.

Wann ist die Kündigungserklärung dem B zugegangen?

 
 

Nach unserer Zugangsdefinition scheint der Fall klar zu sein. Der Brief gelangte am 1.7. durch Einwurf in den Briefkasten in den Machtbereich des B. Eine Kenntnisnahme war unter normalen Umständen noch am selben Tag möglich und zu erwarten, da bei privaten Briefkästen mit einer täglichen Leerung zu rechnen ist und die Leerung üblicherweise nach den Zustellzeiten erfolgt. Die Kündigungserklärung ist bei Anwendung der allgemeinen Regeln also am 1.7. zugegangen. Fraglich ist, ob sich an dem Ergebnis dadurch etwas ändert, dass B für die Dauer seiner reisebedingten Abwesenheit persönlich daran gehindert war, den Briefkasten in der sonst üblichen Weise zu leeren und der A dies auch wusste.

Grundsätzlich muss der Empfänger das Risiko tragen, dass er eine in seinen Machtbereich gelangte Erklärung aus individuellen Gründen nicht, nicht richtig oder nur verspätet zur Kenntnis nimmt. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich der Erklärende auf diesen Grundsatz auch dann berufen kann, wenn er die Hinderungsgründe kennt. Die Ausnutzung der allgemeinen Zugangsregeln erscheint mit Rücksicht auf die Interessen des Empfängers treuwidrig, so dass in derartigen Fällen eine Korrektur des Zugangsdatums über § 242 in Betracht kommen kann.

Vgl. Nachweise bei Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 283. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass es auch in diesen Fällen bei den allgemeinen Regeln bleiben muss. BAG Urteil vom 24. Juni 2004 (Az: 2 AZR 461/03) unter Ziff. B I 2 m. w. N. = NZA 2004, 1330; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; Faust BGB AT § 2 Rn. 36. Die Kenntnis des Erklärenden von einzelnen Übermittlungshindernissen im Machtbereich des Empfängers (z.B. Urlaub oder Krankheit des Empfängers) ändert nichts daran, dass der Empfänger Vorsorgmaßnahmen treffen kann, die eine rechtzeitige Übermittlung an ihn (Nachsendeaufträge, Leerung durch Empfangsboten) oder an Vertreter sicherstellen. Der Erklärende kann gar nicht wissen, ob und wann den Empfänger die Nachricht im Einzelfall tatsächlich erreicht. Das hat der Empfänger selbst in der Hand. Unterlässt er entsprechende Vorkehrungen, geht er das Risiko einer verspäteten Kenntnisnahme ein.

Hinweis

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Für den Arbeitnehmer kann die Anwendung der allgemeinen Zugangsregel gefährliche Konsequenzen haben. Erklärt der Arbeitgeber dem urlaubs- oder krankheitsbedingt abwesenden Arbeitnehmer die Kündigung, läuft dieser Gefahr, die in § 4 KSchG festgelegte Ausschlussfrist (3 Wochen nach Zugang) für die (gerichtliche) Geltendmachung von Unwirksamkeitsgründen der Kündigung zu versäumen. Nach § 7 KSchG gilt die Kündigung dann als von Anfang an rechtswirksam. Etwaige Unwirksamkeitsgründe sind aufgrund der Fristversäumnis geheilt. Allerdings kann der Arbeitnehmer nach § 5 KSchG einen Antrag auf nachträgliche Klagezulassung stellen, „wenn er trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert war, die Klage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung zu erheben.“ Das BAG hilft dem Arbeitnehmer, indem es eine urlaubs- oder krankheitsbedingte Abwesenheit auch dann als Entschuldigungsgrund anerkennt, wenn der Arbeitnehmer keine Vorsorge dafür getroffen hat, dass ihn Nachrichten im Urlaub erreichen.

BAG NJW 1989, 606, 607 unter Ziff. I 4b. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer mit dem Eingang der Kündigungserklärung rechnen konnte.BAG NJW 1989, 606, 607 unter Ziff. I 4b. Führt die urlaubsbedingte Abwesenheit zur Fristversäumung, kann der Arbeitnehmer also innerhalb der in § 5 Abs. 3 KSchG bestimmten Frist Antrag auf nachträgliche Zulassung stellen und „ist wieder im Spiel“.

4. Verständnisprobleme des Empfängers

139

Anhand der Definition des Zugangs und der sich daraus ergebenden Risikoverteilung lassen sich auch die Fälle lösen, in denen der Absender seine Erklärung in einer Sprache bzw. mit Zeichen verfasst hat, die der Empfänger nicht versteht.

Beispiel

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Arbeitgeber A erklärt seinem ausländischen Arbeitnehmer B, der als Aushilfskraft auf Baustellen des A tätig ist, die Kündigung in deutscher Sprache. B, der kaum Deutsch spricht, versteht das Schreiben nicht.

Beispiel

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Der erblindete Mieter M erhält das Kündigungsschreiben seines Vermieters V in normaler Schrift.

Beispiel

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Der international tätige Unternehmer A erklärt seinem deutschen Kooperationspartner B die Kündigung des Kooperationsvertrages versehentlich auf Englisch.

140

Unterstellen wir einmal, dass die Kündigungserklärungen in allen drei Beispielen tatsächlich in den Machtbereich des Empfängers gelangt sind. Nach der uns bekannten Definition wird der Zugang in dem Moment vollendet, in dem die Kenntnisnahme möglich und nach der Verkehrsanschauung üblicherweise zu erwarten ist. Möglich ist die Kenntnisnahme in allen drei Fällen, da die tatsächliche Kenntnisnahme ja mit Hilfe Dritter (sprachkundige Angehörige, professionelle Dolmetscher, etc.) erreicht werden kann. Nach der Verkehrsanschauung darf der Erklärende erwarten, dass sein Adressat Vorkehrungen trifft, um individuellen Verständnisproblemen vorzubeugen. Allerdings kann der Erklärende nicht mit jedweder Vorkehrung rechnen. Auf alle Sprachen und Zeichen kann und muss sich niemand einrichten. Geeignete Vorkehrungen zum richtigen Verständnis dürfen also dann nicht mehr erwartet werden, wenn der Erklärende seine Erklärung in Zeichen bzw. in einer Sprache verfasst hat, die in der Kommunikation mit dem Empfänger als unüblich anzusehen ist.

Faust BGB AT § 2 Rn. 35: im Ergebnis auch MüKo-Einsele § 130 Rn. 32, die das Thema aber bei der Auslegung ansiedelt und nicht beim Zugang.

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Im Beispiel 1 geht die Erklärung nach allgemeinen Regeln zu, da A damit rechnen darf, der in Deutschland lebende B werde zumindest mit Hilfe Dritter sein Schreiben verstehen können.

LAG Köln NJW 1988, 1870. Grundsätzlich wird der Zugangszeitpunkt nicht um eine Übersetzungsfrist hinausgeschoben, da der Erklärende die sich aus individuellen Verständnisproblemen ergebenden Risiken zu tragen hat und der Erklärende ansonsten über den genauen Zugangszeitpunkt im Ungewissen bliebe.Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 5; a.A. LAG Hamm NJW 1979, 2488.

Ebenso verfahren wir im Beispiel 2, da V damit rechnen darf, der M habe Vorkehrungen für solche Erklärungen getroffen, die nicht in Blindensprache verfasst sind.

Neuner „Die Stellung Körperbehinderter im Privatrecht“, NJW 2000, 1822, 1825 f. unter Ziff. II 1.

Im Beispiel 3 stellt sich aber die Frage, ob A Kenntnisse der englischen Sprache bei B selbst erwarten oder zumindest davon ausgehen darf, B habe entsprechende Vorkehrungen (sprachkundige Mitarbeiter, externe Dolmetscher) geschaffen. Im Verkehr gegenüber Verbrauchern wird man dies regelmäßig nicht bejahen können. Im unternehmerischen Verkehr gilt je nach Branche, Größe und Ausrichtung eines Unternehmens jedoch etwas anderes. Wenn A aufgrund des konkreten Zuschnitts des Unternehmens von B auch mit einem Verständnis der englischen Sprache seitens B rechnen durfte, tritt Zugang nach allgemeinen Regeln ein – sonst nicht.

Bejaht man den Zugang, trägt A bei der Auslegung der Erklärung allerdings noch ein gesteigertes Risiko von Missverständnissen. Bei der Auslegung fremdsprachiger Erklärungen wird man redliches Verständnis des Empfängers gem. §§ 133, 157 nicht mit dem Verständnis eines Muttersprachlers gleichsetzen können – das wäre übertrieben und einseitig zum Nachteil des Empfängers. Schließlich hatte es der Erklärende selbst in der Hand, das Schreiben in der Sprache des Empfängers zu formulieren.

5. Zugangsvereitelung durch den Empfänger

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Die Übermittlung einer Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers kann durch dessen Verhalten verhindert oder verzögert werden.

Beispiel

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Arbeitnehmer A ist gut mit dem Postboten B befreundet. Er kommt mit B überein, dass dieser ihm ein in Aussicht gestelltes Kündigungsschreiben seines Arbeitgebers gar nicht erst aushändigt, sondern jegliche Post seines Arbeitgebers bis auf weiteres mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ zurückgibt.

Die Fälle der Zugangsvereitelung zeichnen sich dadurch aus, dass eine Erklärung allein aus Gründen in der Sphäre des Empfängers gar nicht erst in dessen Machtbereich gelangt.

Expertentipp

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An dieser Stelle müssen Sie sauber unterscheiden:

Ist die Erklärung in den Machtbereich gelangt, aber dort vom Empfänger nicht wahrgenommen worden, ist das für den Zugang nach der uns bekannten Definition unerheblich. Wer beispielsweise ein von seinem Empfangsgerät ausgedrucktes Fax nicht liest, kann den Zugang dadurch nicht mehr verhindern.

Es bleibt außerdem bei den allgemeinen Zugangsregeln, wenn die Zustellung aus Gründen unterbleibt oder verspätet erfolgt, die in den Risikobereich des Erklärenden fallen, etwa unzureichende Frankierung oder falsche Adressenangabe.

143

Nach der grundlegenden Risikoverteilung müsste der Erklärende das Risiko von allen Zustellungsmängeln tragen, also auch bei Auftreten eines Zugangshindernisses in der Sphäre des Empfängers. Der Erklärende wird ja mit dem Transportrisiko so lange belastet, bis die Erklärung tatsächlich in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist (vgl. Übersicht unter Rn. 127).

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Expertentipp

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Erinnern Sie sich: Was versteht man unter einer „Obliegenheit“?

Eine automatische Korrektur über § 242 kommt nicht in Betracht. Denn es existiert keine allgemeine Pflicht, für den reibungslosen Empfang von Erklärungen zu sorgen. Allerdings ist derjenige, der aufgrund einer bestehenden oder angebahnten vertraglichen Beziehung oder eines sonstigen geschäftlichen Kontakts zum Erklärenden mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen zu rechnen hat, gehalten, geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit ihn derartige Erklärungen auch tatsächlich erreichen.

BGH NJW 1998, 976 f.; BGHZ 67, 271, 278 = NJW 1977, 194. Es handelt sich um eine Obliegenheit, bei deren Verletzung es dem Empfänger nach Treu und Glauben (§ 242) verwehrt sein kann, sich auf die vereitelte Zustellung zu berufen.Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 277 ff.; Palandt-Ellenberger § 130 Rn. 18; Faust BGB AT § 2 Rn. 39.

Die Folgen einer solchen Zugangsvereitelung gestalten sich im Einzelnen wie folgt:

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a) Grundsatz der Rechtzeitigkeitsfiktion

145

Die herrschende Meinung arbeitet heute grundsätzlich mit der Rechtzeitigkeitsfiktion. Dies bedeutet folgendes:

Die Willenserklärung geht erst zu, wenn sie durch Zustellungswiederholung(en) tatsächlich in den Bereich des Empfängers gelangt ist.

Dem Empfänger ist es verwehrt, sich auf eine Verspätung des Zugangs infolge Vereitelung des ersten Zugangs zu berufen, wenn der Erklärende nach Kenntnis von der gescheiterten Zustellung unverzüglich (§ 121 Abs. 1 S. 1) einen erneuten Zustellversuch (zur Not mehrmals) unternommen hat.

Ist die Erklärung schließlich tatsächlich zugegangen, gilt sie in dem Zeitpunkt als zugegangen, an dem der erste Zustellversuch normalerweise den Zugang bewirkt hätte.

BGHZ 137, 205 ff. = NJW 1998, 976 f.; BAG NJW 1997, 146; Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 278 f.; Faust BGB AT § 2 Rn. 39.

Der Erklärende kommt also erst dann in den Genuss der Rechtzeitigkeitsfiktion, wenn er seinerseits unverzüglich handelt und den Zugang tatsächlich herbeiführt. Den Interessen beider Parteien wird dadurch ausreichend Rechnung getragen.

b) Zugangsfiktion bei vorsätzlicher oder grundloser Zugangsvereitelung

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Ist dem Erklärenden ein erneuter Zustellungsversuch unzumutbar, führt der Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 zu einer Zugangsfiktion. Die Erklärung gilt dann in dem Moment als zugegangen, an dem der Zugang beim ersten Zustellversuch unter normalen Umständen eingetreten wäre.

Eine solche Unzumutbarkeit wird in den Fällen einer vorsätzlichen oder grundlosen Zugangsvereitelung angenommen. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass eine erneute Zustellung sinnlos und damit dem Erklärenden unzumutbar ist.

BGHZ 137, 205 ff. = NJW 1998, 976 f.; BAG NJW 1997, 146; Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 278 f.; Faust BGB AT § 2 Rn. 39.

Im Beispiel oben unter Rn. 142 führt dies zu folgender Lösung: Da der Zugang absichtlich vereitelt wurde, träte Zugangsfiktion ein. Ein erneuter Zustellversuch des Kündigungsschreibens hätte ersichtlich keinen Erfolg und wäre dem Arbeitgeber daher nicht zuzumuten.

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Expertentipp

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