Baurecht Baden-Württemberg

Rechtsschutz des Nachbarn

II. Rechtsschutz des Nachbarn

626

Hinweis

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In der Praxis haben Nachbarklagen eine große Bedeutung und mehrpolige Rechtsverhältnisse weisen bestimmte Schwierigkeit und Besonderheiten auf. Entsprechend hoch ist daher die Klausurrelevanz. Widmen Sie diesem Abschnitt besondere Aufmerksamkeit. Die Inhalte dieses Abschnittes müssen Sie für eine baurechtliche Klausur unbedingt beherrschen können.

Hinsichtlich des Rechtsschutzes des Nachbarn ist zwischen zwei grundlegenden Konstellationen zu unterscheiden: In der ersten, in diesem Teil behandelten Konstellation, begehrt der Nachbar einen Genehmigungsabwehranspruch, der die Aufhebung der Baugenehmigung zum Gegenstand hat. In der zweiten Konstellation (s. Rn. 691 ff.) begehrt der Nachbar den Erlass einer bauordnungsrechtlichen Verfügung, also einer Stilllegungsverfügung, Nutzungsuntersagung oder Abbruchsanordnung, die gegenüber dem Bauherrn ergehen soll. Dabei macht der Nachbar einen Anspruch auf Einschreiten geltend.

1. Rechtsschutzbegehren: Aufhebung der dem Bauherrn erteilten Baugenehmigung

627

In Klausurfällen wehrt sich ein Nachbar häufig gegen die dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung, weil er sich in seinen Rechten verletzt sieht. In diesen Fällen ist eine Anfechtungsklage statthaft, die wie folgt zu prüfen ist:

Prüfungsschema

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Wie prüft man: (Dritt-)Anfechtungsklage

A.

Zulässigkeit

 

 

I.

Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges

 

 

 

 

Allgemein:

 

 

 

1.

Aufdrängende Sonderzuweisung

 

 

 

2.

Generalklausel, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO

 

 

 

3.

Abdrängende Sonderzuweisung

 

 

 

 

 

In der vorliegenden Konstellation:
Generalklausel, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO: Die Hauptfrage des Streits richtet sich nach der öffentlich-rechtlichen Normen des § 58 Abs. 1 S. 1 LBO (s. Rn. 600)

 

 

II.

Statthafte Klageart

 

 

 

 

Allgemein:
Der Kläger begehrt die Aufhebung eines ihn belastenden Verwaltungsaktes:

 

 

 

Der Verwaltungsakt muss erlassen und bekannt gegeben worden sein,

 

 

 

seine Nichtigkeit ist unerheblich, aber

 

 

 

er darf sich nicht erledigt haben.

 

 

 

 

In der hier vorliegenden Konstellation:
Der Kläger begehrt die Aufhebung der dem Bauherren erteilten, diesen begünstigenden, und den Kläger belastenden Baugenehmigung (Verwaltungsakt mit Doppelwirkung), so dass die Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO (Drittanfechtungsklage) die statthafte Klage ist.

 

 

III.

Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO

 

 

 

 

Allgemein: Möglichkeit der Verletzung in eigenen subjektiven öffentlichen Rechten des Klägers, Vorrang von einfachgesetzlichen Normen vor Grundrechten

 

 

 

 

In der hier vorliegenden Konstellation:

 

 

 

 

– Adressatentheorie nicht anwendbar

 

 

 

 

 

Mögliche Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift

Rn. 630 ff.

 

IV.

Ordnungsgemäße und erfolglose Durchführung des Vorverfahrens, § 68 ff. VwGO

 

 

 

 

Ausnahme: Untätigkeitsklage, § 75 VwGO

 

 

V.

Klagefrist, § 74 VwGO

 

 

VI.

Partei- und Prozessfähigkeit, § 61 f. VwGO

 

 

VII.

Postulationsfähigkeit, § 67 VwGO

 

 

VIII.

Keine anderweitige Rechtshängigkeit, § 173 VwGO i.V.m. § 17 GVG

 

 

IX.

Keine entgegenstehende Rechtskraft, § 121 VwGO

 

 

X.

Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

 

 

XI.

Zuständigkeit des Gerichts, §§ 45 ff. VwGO

 

B.

Begründetheit

 

 

Die Klage ist begründet, wenn sie sich gegen den richtigen Beklagten richtet, der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

 

 

I.

Passivlegitimation, § 78 VwGO

 

 

II.

Allgemein: Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes

 

 

 

1.

Ermächtigungsgrundlage

 

 

 

2.

(bei Anhaltspunkten) Wirksamkeit der Ermächtigungsgrundlage

 

 

 

3.

Formelle Rechtmäßigkeit

 

 

 

 

a)

Zuständigkeit der Erlassbehörde

 

 

 

 

b)

Verfahren:

 

 

 

 

 

aa)

Anhörung, § 28 (L)VwVfG, ggf. Heilbarkeit, § 45 (L)VwVfG oder Unbeachtlichkeit, § 46 (L)VwVfG

 

 

 

 

 

bb)

Bekanntgabe, §§ 43, 44 (L)VwVfG, ggf. Heilbarkeit, § 45 (L)VwVfG oder Unbeachtlichkeit, § 46 (L)VwVfG

 

 

 

 

 

cc)

Form, insbesondere Begründung, § 39 (L)VwVfG, ggf. Heilbarkeit, § 45 (L)VwVfG oder Unbeachtlichkeit, § 46 (L)VwVfG

 

 

 

4.

Materielle Rechtmäßigkeit (Maßgeblichen Zeitpunkt beachten, Rn. 703)

 

 

 

 

a)

Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsakts

 

 

 

 

b)

Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage

 

 

 

 

c)

Inhaltliche Bestimmtheit des Verwaltungsakts, § 37 (L)VwVfG

 

 

 

 

d)

Rechtsfolge:

 

 

 

 

 

aa)

bei einer gebundenen Entscheidung:

 

 

 

 

 

 

(1)

Bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen: Stattgabe, d.h. Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts

 

 

 

 

 

 

(2)

Bei Fehlen der Anspruchsvoraussetzungen: Klageabweisung
In der vorliegenden Konstellation: Unter B.I.4.b: Rechtswidrigkeit der dem Bauherrn erteilten Baugenehmigung, § 58 Abs. 1 S. 1 LBO

 

 

 

 

 

bb)

bei einer Ermessensentscheidung:

 

 

 

 

 

 

(1)

Ermessensfehler

 

 

 

 

 

 

(2)

Verhältnismäßigkeit

 

 

III.

Rechtsverletzung des Klägers
Allgemein: Verletzung des Klägers in einem seiner subjektiven öffentlichen Rechte
In der vorliegenden Konstellation: da Drittbeteiligungskonstellation Stattgabe nur bei der Verletzung einer drittschützenden Norm, die zugunsten des Nachbarn Drittschutz entwickelt.

 

a) Zulässigkeit

628

Mit der Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO wird die gerichtliche Aufhebung eines belastenden Verwaltungsakts begehrt.

S. vertiefend Ehlers Jura 2004, 30, 176. Sie ist eine auf eine unmittelbare gerichtliche Umgestaltung der Rechtslage gerichtet prozessuale Gestaltungsklage, mit welcher der Kläger einen materiell-rechtlichen Anspruch auf verwaltungsbehördliche Aufhebung eines ihn in seinen Rechten verletzenden Verwaltungsakts geltend macht.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 178. Neben der Aufhebung des Verwaltungsakts wird zugleich die Feststellung einer durch ihn begründeten subjektiven Rechtsverletzung begehrt.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 178.

aa) Statthafte Klageart

629

Die Anfechtungsklage ist gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft, wenn der Kläger die Aufhebung eines ihn belastenden Verwaltungsakts begehrt. Die dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung stellt einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG dar, wobei es sich um einen Verwaltungsakt mit Dritt- oder Doppelwirkung handelt.

Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht § 9 Rn. 50 und § 11 Rn. 66. Verwaltungsakte mit Drittwirkung sind solche, die nicht nur für den Adressaten, sondern auch für Dritte rechtliche Auswirkungen haben.Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht § 9 Rn. 50. Die Baugenehmigung begünstigt den Bauherrn und belastet den Nachbarn.Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht § 9 Rn. 50. Sie stellt das Paradebeispiel eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung dar.Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht § 9 Rn. 50. Begehrt der Nachbar die Aufhebung einer an den Bauherrn gerichteten Baugenehmigung handelt es sich um eine Nachbaranfechtungsklage.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 836.

Hinweis

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Die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist nur statthaft, wenn die (Nachbar-)Anfechtungsklage den Nachbarn nicht angemessen schützt. Die ist z.B. der Fall, wenn die Behörde dem Nachbarn zugesagt hat, von bestimmten Vorschriften nicht abzuweichen.

bb) Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO

630

Sollte ein Nachbar im Wege der (Nachbar-)Anfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung vorgehen wollen, so ist es erforderlich, dass die Baugenehmigung nicht nur rechtswidrig ist. Vielmehr muss der Nachbar durch diese Rechtswidrigkeit in einem subjektiven Recht verletzt sein, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

631

Im Rahmen der Zulässigkeit der Anfechtungsklage muss der Nachbar gemäß § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt sein. Das Erfordernis einer Klagebefugnis bezweckt den Ausschluss von Popularklagen. Dies bedeutet, dass sich der Einzelne nicht zum Sachwalter öffentlicher Interessen oder rechtlich geschützter Dritter machen soll.

Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 490. In Nachbarkonstellationen wird der hiermit bezweckte Ausschluss besonders deutlich: Der Nachbar kann keine Verletzung von ihn nicht schützenden Vorschriften geltend machen, da er sich ansonsten zu einem Sachwalter im o.g. Sinne aufschwingen würde.

Expertentipp

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Im öffentlichen Baurecht steht der Nachbar nur als Dritter im Rechtsverhältnis zwischen dem Bauherrn und der Behörde und somit außerhalb dieses Rechtsverhältnisses.

Muckel JuS 2000, 132. Deshalb ist bei einer Nachbarklage besonders sorgfältig zu prüfen, ob der Nachbar durch das Bauvorhaben in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird.Muckel JuS 2000, 132.

Zu ermitteln ist anhand der oben dargestellten Möglichkeitstheorie (s. Rn. 602), ob eine Verletzung des Nachbarn in eigenen subjektiven öffentlichen Rechten möglich ist.

Expertentipp

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Argumentieren Sie in Drittbeteiligungsfällen auf keinen Fall mit der sog. Adressatentheorie. Diese ist in dieser Fallkonstellation gerade nicht anwendbar, da der Dritte, d.h. der Nachbar, nicht Adressat der Baugenehmigung ist. Ratsam ist es jedoch kurz auf die Unanwendbarkeit der Adressatentheorie hinzuweisen. Verwenden Sie jedoch, im Falle der Anwendbarkeit, nicht den Ausdruck „Theorie“, sondern paraphrasieren Sie die Adressatentheorie.

632

Ein subjektives Recht liegt dann vor, wenn die Norm ein Interesse eines Rechtssubjekts schützen soll und diesem zur Durchsetzung dieses Interesses eine Rechts- oder Willensmacht eingeräumt wird.

So die heute herrschende Kombinationstheorie, vgl. Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 496 m.w.N. Maßgeblich sind auch hier (s. bereits Rn. 22 ff.) einfachgesetzlich Normen. Der Nachbar muss sich auf eine mögliche Verletzung einer Vorschrift berufen, die ihm ein subjektives öffentliches Recht vermittelt. Dies ist der Fall, wenn die Baugenehmigung möglicherweise gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt.Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 294.

633

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Klagebefugnis des Nachbarn

1.

Die betreffende Norm hat nachbarschützenden Charakter.

2.

Der Nachbar fällt in den sachlichen und persönlichen Schutzbereich dieser Norm.

3.

Eine Verletzung dieser Norm ist möglich, also nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen.

cc) Qualifikation einer Norm als dritt- bzw. nachbarschützend (Schutznormtheorie)

634

Zunächst ist zu ermitteln, ob die in Frage stehende einfachgesetzliche Vorschrift dritt- bzw. nachbarschützend ist. Ob eine Norm Drittschutz vermittelt, wird nach der Schutznormtheorie

St. Rspr vgl. BVerwG BauR 2008, 1427; Kopp/Schenke VwGO § 42 Rn. 83 m.w.N. Die Auffassung, die auf die tatsächliche Betroffenheit abgestellt hat, hat sich nicht durchgesetzt, s. Tettinger/Erbguth/Mann-Erbguth Besonders Verwaltungsrecht Rn. 1299 m.w.N. ermittelt.

Definition

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Definition: Drittschutz

Eine Rechtsnorm vermittelt Drittschutz, wenn diese nicht nur dem Allgemeininteresse, sondern zumindest auch dem Schutz eines erkennbaren und abgrenzbaren Personenkreises zu dienen bestimmt ist (Schutznormtheorie)

Tettinger/Erbguth/Mann-Erbguth Besonderes Verwaltungsrecht Rn. 1299. und ihm die Rechtsmacht einräumt, die Schutzwirkung gegenüber der Behörde durchzusetzen.Muckel JuS 2000, 132.

635

Bei der Suche nach nachbarschützenden Vorschriften ist folgende Reihenfolge einzuhalten:

S. zum Ganzen Muckel JuS 2000, 132.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Ermittlung von nachbarschützenden Vorschriften

1.

Zunächst müssen alle möglicherweise einschlägigen einfach-gesetzlichen Vorschriften dahingehend untersucht werden, ob es eine (generell) nachbarschützende Norm für den zu beurteilenden Fall gibt. Dort ist insbesondere der Gebietserhaltungsanspruch vor dem Gebietsprägungserhaltungsanspruch zu prüfen,

Decker JA 2007, 55 bezeichnet dies als die neue Prüfungsreihenfolge. da letzterer die Verneinung des Gebietserhaltungsanspruchs voraussetzt.

2.

Wenn dies zu verneinen ist, ist zu prüfen, ob einzelne Bestimmungen des einfachen Rechts auf den Fall anwendbar sind, in denen das Gebot der Rücksichtnahme zum Ausdruck kommt (sog. partiell nachbarschützende Normen).

3.

Nur wenn auch dies zu verneinen ist, kann erörtert werden, ob sich Nachbarschutz ausnahmsweise unmittelbar aus dem Verfassungsrecht ergibt. Dies ist nach h.M. im Ergebnis jedoch zu verneinen.

636

Ob eine Rechtsnorm Drittschutz verleiht, ist durch Auslegung, die unter Berücksichtigung der gesamten Rechtsordnung zu erfolgen hat, anhand der anerkannten Auslegungsmethoden, also des Wortlauts, des Sinn und Zwecks, der Systematik der Norm und der Entstehungsgeschichte, zu ermitteln.

Kopp/Schenke VwGO § 42 Rn. 83; anders die ältere Schutznormtheorie (vgl. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44 f.), die auf die Erforschung des wahren Willens des historischen Gesetzgebers abstellte. Das Ziel dieser Auslegung der Vorschrift anhand der Schutznormtheorie besteht darin, zu ermitteln, ob die Vorschrift eine Rücksichtnahme auf nachbarliche Interessen gebietet.Kopp/Schenke VwGO § 42 Rn. 83.

637

Auszulegen ist in dieser Reihenfolge:

1.

Zunächst ist auf den Wortlaut der in Frage stehenden Vorschrift einzugehen. Entscheidend ist, dass sich aus individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Vorschrift ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet.

Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 230.

Hinweis

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Sollte in einer Vorschrift etwa auf „öffentliche Belange“ oder auf die „öffentliche Sicherheit“ abgestellt werden, so schließt dies das Bestehen eines subjektiven Rechts nicht aus, da sich öffentliche Interessen und Individualinteressen nicht zwangsläufig ausschließen.

Schmidt JuS 1999, 1107, 1110.

2.

Anschließend ist anhand des Sinns und Zweck der Vorschrift, der Systematik der Norm und der Entstehungsgeschichte auszulegen.

Welcher Auslegungsmethode der Vorrang zukommt, ist freilich umstritten.

638

Bei dieser Auslegung ist wie folgt vorzugehen:

Tettinger/Erguth/Mann-Erbguth Besonderes Verwaltungsrecht Rn. 1299.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Auslegung anhand der Schutznormtheorie

1.

Zunächst ist festzustellen, dass die in Frage stehende Vorschrift eine Person objektiv begünstigt.

2.

Danach ist zu ermitteln, ob die Vorschrift diese Begünstigung auch bezweckt.

3.

In einem letzten Schritt ist zu prüfen, ob die Vorschrift auf die Durchsetzbarkeit der Begünstigung gerichtet ist. Nicht ausreichend ist, wenn die Begünstigung einen bloßen Rechtsreflex als Folge der Anwendung der Norm darstellt.

Muckel JuS 2000, 132, 133.

dd) Generell nachbarschützende einfachgesetzliche Vorschriften des materiellen Baurechts

639

Folgende Vorschriften des einfachgesetzlichen materiellen Baurechts vermitteln Drittschutz:

S. umfassend Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 786 ff. jeweils m.w.N.

(1) Nachbarschutz im Bauplanungsrecht

640

Im Bauplanungsrecht ist eine Vielzahl von Vorschriften als generell drittschützend anerkannt:

S. zum Ganzen Muckel JuS 2000, 132, 133 ff. Nachbarschutz lässt sich aus den abstrakten Festsetzungen des Bebauungsplans sowie den konkreten Zulassungstatbeständen ableiten.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 840.

(a) Nachbarschutz nach Maßgabe des Bebauungsplans: Die Festsetzungen des Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung, § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. §§ 2 bis 14 BauNVO, sind kraft Bundesrechts nachbarschützend.

BVerwGE 44, 244; BVerwGE 94, 151; BVerwGE 101, 364; s. vertiefend Dürr KommJur 2005, 201, 205 f. Diese Vorschriften dienen dem Ausgleich der wechselseitig garantierten Nutzungsberechtigungen und Nutzungsbeschränkungen zwischen den im Planbereich liegenden Grundstücken. Die Vorteile des einen und die Nachteile des anderen Grundstückseigentümers korrespondieren miteinander, so dass eine „bodenrechtliche Schicksalsgemeinschaft“ entsteht (s. bereits Rn. 27).BVerwGE 94, 151.

641

Die Grundstückseigentümer im Plangebiet haben daher einen Gebietserhaltungsanspruch. Hierdurch kann jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung verhindern und sich gegen die Genehmigung eines Bauvorhabens im Baugebiet zur Wehr setzten. Dadurch kann das mit dem Eindringen einer gebietsfremden verbundene Risiko einer schleichenden Umwandlung des Gebiets verhindert werden.

BVerwG NVwZ 2000, 678, 679. Dies bedeutet, dass sich Nachbarn gegen Nutzungen, die nicht allgemein nach § 30 Abs. 1, Abs. 3 BauGB oder ausnahmsweise nach § 31 Abs. 1 BauGB zulässig sind, zur Wehr setzen können.Tettinger/Erbguth/Mann-Erbguth Besonders Verwaltungsrecht Rn. 1306. Für die Geltendmachung dieses Gebietsgewährleistungsanspruchs ist keine konkrete Betroffenheit, d.h. ein spürbarer Nachteil, erforderlich, weil dieser Anspruch auf der plangebundenen, rein formalen Kategorie einer nachbarlichen Wechselbeziehung basiert.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 841.

Hinweis

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Der Gebietsgewährleistungsanspruch gilt nur für den Nachbarn, dessen Grundstück im Plangebiet und nicht außerhalb des Plangebiets liegt.

Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 742. Gebietsübergreifender Nachbarschutz wird nur im Rahmen des Rücksichtnahmegebots gewährleistet.BVerwG NVwZ 2008, 427; VGH Baden-Württemberg VBlBW 2011, 395; VGH Baden-Württemberg BauR 2011, 1800. Dabei kommt es auf die Vorschriften an, die über die Zulässigkeit des Vorhabens entscheiden.Schmidt Öffentliches Baurecht Rn. 473.

642

Vom Gebietserhaltungsanspruch ist der Gebietsprägungserhaltungsanspruch abzugrenzen.

BVerwGE 116, 155, 158; BVerwGE 142, 1, 3 ff; BVerwG NVwZ 2008, 786, 787. Dieser stellt eine speziellere Ausprägung des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs dar.S. vertiefend Decker JA 2007, 55. Gewährleistet wird die Erhaltung der typischen Prägung der jeweiligen Gebietsart.

Vom Gebietsgewährleistungsanspruch unterscheidet er sich dadurch, dass er nur dann einschlägig ist, wenn Bauvorhaben bauplanungsrechtlich in dem in Frage stehenden Gebiet an sich mit der Gebietsart generell vereinbar wäre – was im Falle des Gebietserhaltungsanspruchs zu verneinen ist –, es jedoch generell gebietsunverträglich ist, weil das Vorhaben der allgemeinen Zweckbestimmung des Gebiets widerspricht.

Decker JA 2007, 55. Aus diesem Grund kann der Gebietsprägungserhaltungsanspruch erst nach dem Gebietserhaltungsanspruch geprüft werden. Wie beim Gebietserhaltungsanspruch ist auch hier ein qualifiziertes und individualisiertes Betroffensein i.S.d. subjektiv-rechtlichen Dimension des Rücksichtnahmegebots nicht erforderlich. Ist der Gebietsprägungserhaltungsanspruch einschlägig, bedarf es keines Rückgriffs auf das Rücksichtnahmegebot.

643

Sonstige Festsetzungen im Bebauungsplan haben i.d.R. nur nachbarschützenden Charakter, wenn sich aus dem Bebauungsplan, insbesondere aus dessen schriftlicher Begründung nach § 9 Abs. 8 BauGB,

Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 742. selbst ergibt, dass durch die Festsetzungen auch private Belange geschützt werden sollen.BVerwG DVBl 1987, 476.

Expertentipp

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Sie müssen daher den Sachverhalt oder die Akte Ihrer Arbeit darauf überprüfen, ob die Gemeinde einzelnen Festsetzungen einen nachbarschützenden Charakter zugesprochen hat.

644

Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung, § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. §§ 16 ff. BauNVO, kommt, da sie ausschließlich städtebauliche Bedeutung haben, regelmäßig kein nachbarschützender Charakter zu. Ihr Ziel besteht nur in der Auflockerung der Bebauung.

Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 843; eine Ausnahme findet sich bei Dürr KommJur 2005, 201, 205. Jedoch kann sich auch hier aus dem Bebauungsplan selbst ergeben, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung gerade zum Schutz bestimmter Nachbarn erlassen worden sind.Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 742; Tettinger/Erbguth/Mann-Erbguth Besonderes Verwaltungsrecht Rn. 1306.

Beispiel

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Zum Schutz der Aussicht auf den Bodensee aus den Gebäuden in der zweiten Reihe der Bebauung wird die Höhe der Gebäude in der erste Reihe der Bebauung begrenzt.

Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 742.

Baugrenzen entfalten nur zugunsten der Nachbarn von gegenüberliegenden, d.h. direkt angrenzenden, Grundstücken Nachbarschutz.

VGH Baden-Württemberg VBlBW 2003, 470.

645

(b) § 31 BauGB: § 31 BauGB gewährleistet bei der Erteilung von Ausnahmen nach § 31 Abs. 1 BauGB (s. hierzu Rn. 303 f.) oder Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB, die die Würdigung nachbarlicher Interessen voraussetzt (s. hierzu Rn. 305 ff.), generellen Nachbarschutz, nur wenn Ausnahmen und Befreiungen von speziell nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplan erteilt wurden.

Dürr KommJur 2005, 201, 208; BVerwG NVwZ 1987, 409, 410; BVerwG NJW 1990, 1192, 1193.

Hinweis

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Wurde rechtswidrig eine Ausnahme oder Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplan erteilt, so kommt nur partieller Nachbarschutz über das Rücksichtnahmegebot in Betracht.

Muckel JuS 2000, 132, 133 m.w.N; Brohm Öffentliches Baurecht § 19 Rn. 21 f.

646

(c) § 34 BauGB: Im Rahmen des § 34 BauGB ist hinsichtlich des nachbarschützenden Charakters zu unterscheiden:

§ 34 Abs. 1 BauGB entfaltet keinen generellen Nachbarschutz, da die Norm ausschließlich der städtebaulichen Ordnung und Entwicklung dient und daher nur Interessen der Allgemeinheit schützt.

Muckel JuS 2000, 132, 133 m.w.N.; kritisch Dürr DÖV 1997, 845, 851; Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 746 Fn 737.

Hinweis

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Da in dem Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB das Rücksichtnahmegebot enthalten ist (s. hierzu Rn. 323 ff.), wird hierüber partieller Nachbarschutz gewährleistet.

Ortloff NVwZ 1999, 955, 961 m.w.N.

§ 34 Abs. 2 BauGB, der hinsichtlich der der Art baulichen Nutzung auf die Vorschriften der BauNVO verweist, hingegen entfaltet generellen Nachbarschutz, da dieser Vorschrift eine planersetzende Funktion (s. Rn. 282) zukommt.

BVerwG DVBl 1994, 284, 286; BVerwG NVwZ 2002 552, 553. Es gilt das oben (Rn. 641) Dargestellte. Es besteht also ein Gebietserhaltungsanspruch.

647

(d) § 35 BauGB: § 35 Abs. 1, Abs. 2 BauGB kommt keine generell nachbarschützende Funktion zu.

Muckel JuS 2000, 132, 133.

Hinweis

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Im Anwendungsbereich des § 35 BauGB wird nur partieller Nachbarschutz nach dem Rücksichtnahmegebot gewährleistet.

S. vertiefend Brohm Öffentliches Baurecht § 21 Rn. 28 ff.

(2) Nachbarschutz im Bauordnungsrecht

648

Im Bauordnungsrecht haben insbesondere die folgenden Vorschriften generell nachbarschützenden Charakter:

S. auch die Übersicht bei Dürr Baurecht in Baden-Württemberg Rn. 315.

649

(a) Die bauordnungsrechtliche Generalklausel, § 3 LBO.

VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1992, 348. Diese Vorschrift vermittelt generellen Drittschutz, da im Begriff der öffentlichen Sicherheit u.a. private Rechtsgüter des Einzelnen, wie Leben und Gesundheit, und somit subjektive Rechte enthalten sind.

650

(b) Vorschriften über die Abstandsflächen, §§ 5 f. LBO, vermitteln generellen Drittschutz, soweit sie der Belichtung, Belüftung und Besonnung und dem Brandschutz dienen.

VGH Baden-Württemberg VBlBW 1996, 145; VGH Baden-Württemberg 1995, 57 und 321. Dies lässt sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschriften ableiten.Konrad JA 2002 967, 968. Teilweise wird vertreten, dass auch der Schutz der Privatsphäre bezweckt und der Sozialabstand gewahrt werden solle.Ortloff NVwZ 2005, 1381, 1384 f.

Hinweis

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Uneinigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, in welchem Verhältnis das Abstandsflächenrecht zum Rücksichtnahmegebot steht.

Die Rechtsprechung ging davon aus, dass ein Vorhaben dann nicht rücksichtslos sei, wenn die Abstandsflächen eingehalten werden.

BVerwG NVwZ 1986, 468.

In der Literatur wurde angeführt, dass das Gebot der Rücksichtnahme nicht durch das Abstandsflächenrecht verdrängt werde und das Rücksichtnahmegebot Vorrang vor dem landesbauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrecht habe.

Mampel ZfBR 1997, 227. Hierfür spreche, dass das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht unterschiedliche Ziele verfolgten. Ferner fehle den Ländern die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Rücksichtnahmegebots, das in bundesrechtlichen Normen verankert ist.

Das Bundesverwaltungsgericht stimmte den o.g. Ausführungen zwar zu, betont jedoch, dass die bisherige Rechtsprechung im Ergebnis zutreffe, da das Rücksichtnahmegebot im Regelfall aus tatsächlichen Gründen nicht verletzt sei, wenn das Vorhaben die Abstandsflächen einhalte.

BVerwG NVwZ 1999, 879, 880.

651

(c) Stellplätze, § 37 LBO: Die Stellplatzvorschrift des § 37 LBO ist als solche nicht nachbarschützend, soweit sie dem öffentlichen Interesse an der Entlastung des öffentlichen Straßenraums dient.

Ortloff NVwZ 2000, 750, 756. Wenn und soweit jedoch durch die Nutzung von Stellplätzen und Garagen gemäß § 37 Abs. 8 LBO die Gesundheit nicht geschädigt, das Wohnen und Arbeiten, die Ruhe und Erholung in der Umgebung durch Lärm, Abgase und Gerüche nicht erheblich gestört werden darf, kommt dieser Vorschrift eine nachbarschützende Funktion zu.VGH Baden-Württemberg VBlBW 2000, 76.

(d) Verunstaltungsgebot, § 11 LBO: Dem Verunstaltungsgebot gemäß § 11 LBO kommt nach h.M. keine nachbarschützende Funktion zu, da der bauordnungsrechtliche Verunstaltungsschutz nur dem öffentlichen Interesse an einer ästhetisch hinnehmbaren Einfügung des Bauvorhabens in seine Umgebung dient.

Hessischer VGH ZfBR 1996, 104; Schoch Jura 2004, 317, 323 m.w.N. In der Literatur wird diesem teilweise jedoch in „krassen Fällen“So wörtlich Muckel JuS 2000, 132, 135. eine nachbarschützende Funktion zuerkannt.Muckel JuS 2000, 132, 135 m.w.N. Angeführt wird hierfür, dass eine Verunstaltung nicht nur die Umgebung allgemein störe, sondern auch konkret beeinträchtigend auf ein Nachbargrundstück einwirken könne.Dies gründet auf der Theorie der tatsächlichen Beeinträchtigung und lässt sich unter Anwendung der Schutznormtheorie wohl nur schwer rechtfertigen. Hiergegen spricht jedoch der Wortlaut des § 11 LBO. Ferner ist der Schutz des Nachbarn nicht bezweckt, sondern ein bloßer Rechtsreflex, der zur Begründung eines subjektiven Rechts gerade nicht genügt (s. Rn. 631).

(e) Brandschutzvorschrift, § 15 LBO Die Brandschutzvorschrift des § 15 LBO ist nachbarschützend, da sie bezweckt, dass sich ein Feuer nicht ausbreitet, wodurch der Nachbar geschützt werden soll.

OVG Rheinland-Pfalz BRS 36 Nr. 202.

Hinweis

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Die Rechtsprechung versagt dem Nachbar eine Berufung auf drittschützende Vorschriften, die er selbst nicht eingehalten hat, da es treuwidrig wäre, die Einhaltung von Vorschriften zu fordern, die selbst nicht eingehalten werden.

Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 751. Es besteht in derartigen Fällen ein Rügeausschluss.

Dieser Ausschluss findet seine Grenze jedoch darin, dass die Verletzung durch das angegriffene Verhalten des Nachbarn nicht schwerer wiegt als der eigene Verstoß und in gefahrenrechtlicher Hinsicht keine untragbaren Zustände entstehen.

Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 751 m.w.N.

(3) Nachbareigenschaft

652

Der Kläger kann sich nur auf die zuvor geprüfte drittschützende Norm berufen, wenn sein Anliegen in den sachlichen und persönlichen Schutzbereich der betreffenden Norm fällt,

Stollmann Öffentliches Baurecht § 20 Rn. 18. also wenn er ein Nachbar ist. Da es keine allgemeingültige Definition des Nachbarbegriffs im öffentlichen Baurecht gibt,Auch die Definition des BVerwG, dass Nachbar nicht nur der Angrenzer i.S.d. § 55 LBO, sondern jeder sei, der von der Errichtung oder Nutzung der baulichen Anlage in seinen rechtlichen Interessen betroffen wird, (BVerwGE 28, 131) hilft insofern nicht weiter. muss der Kreis der abwehrberechtigten Personen im Einzelfall durch Auslegung der betreffenden nachbarschützenden Vorschrift ermittelt werden.Stollmann Öffentliches Baurecht § 20 Rn. 18. Es hat eine Eingrenzung in räumlicher und persönlicher Hinsicht zu erfolgen:Stollmann Öffentliches Baurecht § 20 Rn. 19 ff.

653

(a) In räumlicher Hinsicht muss das Gebiet, auf das sich die nachbarschützende Vorschrift ihrem Schutzzweck nach auswirken kann, ermittelt werden.

Hinweis

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Der im Rahmen der Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO (analog) zu prüfenden prozessrechtlichen Nachbarbegriff ist identisch mit dem materiellen Nachbarbegriff (s. dazu Rn. 449).

654

(b) In persönlicher Hinsicht sind Eigentümer und ihnen gleichgestellte Personen erfasst.

Expertentipp

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An dieser Stelle wird die Streitfrage relevant, ob obligatorisch Berechtigte durch das Baurecht geschützt sind (s. die Darstellung bei Rn. 29 ff.). Wenn Sie mit der h.M. diese Frage verneinen, so müssen Sie beachten, dass sich ein obligatorisch Berechtigter auf eine nicht grundstücksbezogene nachbarschützende Vorschrift, wie z.B. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG, berufen kann.

ee) Partieller Nachbarschutz durch das Gebot der Rücksichtnahme

655

Ergibt sich ein Nachbarschutz nicht aus generell nachbarschützenden Vorschriften, so ist zu prüfen, ob es sonstige Rechtsvorschriften gibt, die zwar keinen generellen Nachbarschutz bezwecken, jedoch einen partiellen Nachbarschutz im Einzelfall bezwecken.

Muckel JuS 2000, 132, 133. Es ist subsidiär auf das Gebot der RücksichtnahmeS. vertiefend Jäde JuS 1999, 961; BVerwGE 52, 122. abzustellen.

(1) Das Rücksichtnahmegebot als grundsätzlich nur objektiv-rechtliches, einfachgesetzliches Prinzip

656

Bei diesem von der Rechtsprechung entwickelten Gebot wird das Verhältnis eines baulichen Vorhabens zu den anderen bereits vorhandenen baulichen Anlagen beurteilt. Es handelt sich um ein grundsätzlich nur objektiv-rechtlich zu beachtendes Prinzip. Subjektive öffentliche Rechte werden also grundsätzlich nicht begründet. Das cksichtnahmegebot richtet sich alleine nach einfachgesetzlichen Vorschriften des Baurechts und ist keine selbstständige Anspruchsgrundlage.

BVerwG NVwZ 1987, 409. Außerhalb einfachgesetzlicher Vorschrift besteht kein Rücksichtnahmegebot.BVerwG NVwZ-RR 1997, 682; a.A. Dürr KommJur 2005, 201, 203 f., der als normativen Geltungsgrund für das Rücksichtnahmegebot § 242 BGB ansieht. Es existiert kein außergesetzliches Rücksichtnahmegebot.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 846. Es lässt sich insbesondere nicht aus Grundrechten ableiten.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 846.

657

Das Rücksichtnahmegebot soll einen angemessenen Ausgleich zwischen den Belangen des Bauherrn und seiner Umgebung bewirken.

Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 301. Jeder Bauherr muss berücksichtigen, welche Auswirkungen die Realisierung seines Vorhabens auf die Umgebung hat. Unter Umständen muss er sogar ein nach baurechtlichen Normen zulässiges Vorhaben unterlassen, wenn dadurch eine schwere Beeinträchtigung der Umgebung eintritt. Das Rücksichtnahmegebot verlangt eine Abwägung der Belange aller betroffenen Personen, wobei der Bauherr Rücksicht nehmen muss, wenn die Abwägung zugunsten der Umgebung ausfällt.BVerwG NVwZ 1994, 687. Eine derartige Rücksichtnahme ist geboten, wenn der Nachbar einer ihm im Hinblick auf die Situation billigerweise nicht mehr zumutbaren Beeinträchtigung ausgesetzt ist.Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 301 m.w.N.

(2) Die nachbarschützende Funktion des Rücksichtnahmegebots

658

Das Rücksichtnahmegebot kann nur in Einzelfällen nachbarschützende Wirkung entfalten.

Definition

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Definition: Nachbarschützende Wirkung

Nachbarschützende Wirkung kommt dem Rücksichtnahmegebot zu, soweit in individualisierter und zugleich qualifizierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises Rücksicht zu nehmen ist und die besondere rechtliche Schutzwürdigkeit des Nachbarn anzuerkennen ist.

BVerwGE 52, 122; BVerwGE 67, 334; BVerwGE 82 343; ausdrücklich BVerwG NVwZ 1999, 879.

Im Hinblick auf die individualisierte Rücksichtnahme stellte das Bundesverwaltungsgericht früher darauf ab, ob der geschützte Personenkreis klar erkennbar ist.

BVerwGE 98, 235. Später wurde für erforderlich erachtet, dass sich aus individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet.BVerwG NVwZ 1987, 409.

Für das qualifizierte Betroffensein sind folgende Faktoren im Rahmen der zu erfolgenden Abwägung maßgeblich:

Muckel JuS 2000, 132, 134 m.w.N. Grundlegend BVerwGE 52, 122, 126.

die Schutzwürdigkeit des Nachbarn

die Intensität der Beeinträchtigung, insbesondere ein handgreifliches Betroffensein

die Interessen des Bauherrn sowie

das was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder nicht zumutbar ist.

Je empfindlicher und schutzwürdiger also die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen.

Eine qualifizierte und individualisierte Betroffenheit fehlt z.B., wenn im Falle der Überschreitung der Abstandsflächen durch den Schattenwurf ein Sonnen auf der Terrasse des Nachbarn für einen Zeitraum von einer Stunde nicht möglich ist. Hier fehlt es an der qualifizierten Betroffenheit.

Hinweis

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Das Kriterium der Betroffenheit in qualifizierter und individualisierter Weise hat große Bedeutung für ihre Prüfung.

(3) Die Verankerung des Rücksichtnahmegebots in einfach-gesetzlichen Normen

 

In folgenden Vorschriften ist das Rücksichtnahmegebot verankert und vermittelt dadurch partiellen Nachbarschutz:

S. vertiefend Konrad JA 2006, 59; Decker JA 2003, 246; Schoch Jura 2004, 317.

659

(a) Das Rücksichtnahmegebot im beplanten Bereich gemäß § 30 Abs. 1, Abs. 3 BauGB: Im beplanten Bereich kommt das Rücksichtnahmegebot für ein beplantes Gebiet zunächst in § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO („unzumutbar“) zum Ausdruck.

BVerwGE 67, 334, 338 f. Daher kann ein Vorhaben, das nicht nachbarschützende Vorschriften verletzt, dennoch wegen eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot unzulässig sein.

660

Es kommt für den Fall einer Befreiung in § 31 Abs. 2 BauGB zum Ausdruck.

BVerwG NVwZ 1987, 409. Begründet wird dies mit dem Wortlaut der Norm („unter Würdigung nachbarlicher Interessen“) und deren Zielrichtung, die nicht nur die städtebauliche Ordnung, sondern auch den Schutz der Interessen des Nachbarn bezweckt.BVerwG NVwZ 1987, 409. Daher kann ein Nachbar bei einer rechtswidrigen Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Vorschrift geltend machen, im Einzelfall in seinen Rechten verletzt zu sein.Muckel JuS 2000, 132, 134. Hierbei kann er die Ermessensentscheidung nach § 31 Abs. 2 BauGB jedoch nur begrenzt auf Ermessensfehler überprüfen lassen, nämlich nur darauf, dass seine nachbarlichen Interessen unzureichend gewürdigt wurden.BVerwG NVwZ-RR 1999, 8.

661

(b) Das Rücksichtnahmegebot im unbeplanten Innenbereich gemäß § 34 BauGB: Im unbeplanten Innenbereich wird das Rücksichtnahmegebot als besondere Ausprägung des Tatbestandsmerkmals des „Sich-Einfügens“ gemäß § 34 Abs. 1 BauGB angesehen.

BVerwGE 67, 334, 337; BVerwGE 89, 69, 76; BVerwG DVBl 1981, 928, 930. Hiernach kann sich ein Vorhaben, obwohl es sich in jeder Hinsicht innerhalb des aus seiner Umgebung vorgegebenen Rahmens hält, dennoch nicht einfügen, wenn es an der gebotenen Rücksichtnahme auf die sonstige, insbesondere in der unmittelbaren Umgebung vorhandene, Bebauung fehlen lässt. Das Rücksichtnahmegebot lässt sich daher als ein verschärfendes Korrektiv verstehen.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 848 m.w.N. Es kann insbesondere bei einer erdrückenden Wirkung eines Gebäudes einschlägig sein.BVerwG DVBl 1981, 928.

Beispiel

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Das Rücksichtnahmegebot ist im Falle eines im Gebiet grundsätzlich zulässigen Getränkemarkts zugunsten des Eigentümers eines nur wenige Meter entfernten Wohngebäudes verletzt, da nach der allgemeinen Lebenserfahrung von einem Getränkemarkt erheblicher Lärm, insbesondere beim Verladen und Transport von Ware und Leergut durch Kunden und Lieferanten, ausgeht.

BVerwG NVwZ 1989, 666.

Gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt auch eine Drogenberatungsstelle in einem überwiegend durch Wohnnutzung geprägten Gebiet, wenn die Klienten nur wenige Meter entfernt von einem Wohngebäude vor der Drogenberatungsstelle suchttypisches Verhalten an den Tag legen.

Niedersächsisches OVG BauR 2007, 1214.

662

(c) Das Gebot der Rücksichtnahme im unbeplanten Außenbereich gemäß § 35 BauGB: Im unbeplanten Außenbereich ist das Rücksichtnahmegebot in § 35 Abs. 3 BauGB,

BVerwG NVwZ-RR 2001, 82. als ungeschriebener öffentlicher Belang, der insbesondere im Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen nach § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BauGB (vgl. § 3 Abs. 1 BImSchG, der ausdrücklich die „Nachbarschaft“ nennt) enthalten ist.Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 851 m.w.N.

Hinweis

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Im unbeplanten Außenbereich hat ein Landwirt, der ein privilegiertes Vorhaben gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB betreibt, einen Abwehranspruch gegen eine heranrückende Wohnbebauung, die unzumutbaren Immissionen ausgesetzt wäre und damit immissionsschutzrechtliche Abwehransprüche gegenüber dem Landwirt geltend machen und somit die Privilegierung des Landwirts gefährden könnte.

BVerwG NVwZ-RR 1999, 423, 424. Diese Konstellation der heranrückenden Wohnbebauung ist ein Klassiker des Baurechts.

Auf nicht genehmigte Vorhaben muss allerdings keine Rücksicht genommen werden, da diese es ihrerseits an der erforderlichen Rücksicht fehlen lassen.

BVerwG BauR 1992, 491.

Beachten Sie unbedingt, dass das Rücksichtnahmegebot nicht zur einer allgemeinen Billigkeitslösung im Bereich des Baunachbarrechts führen darf.

Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 303.

ff) Nachbarschutz durch Grundrechte

663

Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts konnte sich der Nachbar im Rahmen der Klagebefugnis im Baurecht unmittelbar auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen, wenn das Eigentum am Grundstück durch bauliche Maßnahmen auf dem Nachbargrundstück schwer und unerträglich beeinträchtigt wird.

BVerwGE 32, 173; BVerwGE 44, 244; BVerwGE 50, 282.

Diese Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch zu Recht aufgegeben.

BVerwGE 89, 69; BVerwGE 101, 364. Dies hat seinen Grund zum einen in der zuvor dargestellten Argumentation (Rn. 22 ff.): Die Eigentumsfreiheit ist ein normgeprägtes Grundrecht, vgl. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Zur Begründung von subjektiven Rechten bedarf es daher der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber in Form von einfach-gesetzlichen Vorschriften.

Zum anderen besteht auch keine Rechtsschutzlücke, die eine Heranziehung des Art. 14 Abs. 1 GG erforderlich macht. Diese Rechtsschutzlücke wird durch das cksichtnahmegebot geschlossen, da jeder Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG zugleich eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots darstellt.

BVerwGE 86 89; a.A. Dürr VBlBW 2000, 457.

Auch ein Rückgriff auf Art. 2 Abs. 2 GG ist ausgeschlossen, da bereits im weiten Vorfeld einer Gesundheitsgefährdung der Schutz des § 22 BImSchG oder das Rücksichtnahmegebot eingreift.

Vgl. VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1995, 561. Ebenso ist eine Berufung auf die nur subsidiär anwendbare allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ausgeschlossen.BVerwGE 54, 211.

gg) Präklusion, § 55 Abs. 2 S. 2 LBO

664

Wegen der oben dargestellten Nachbarbeteiligung am Baugenehmigungsverfahrens (Rn. 450 ff.) kann es zum Eintritt einer materiellen Präklusion kommen. Ist der Kläger materiell präkludiert, so führt dies dazu, dass die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen subjektiven Rechten, soweit diese präkludiert sind, und somit die Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO entfällt.

Bosch/Schmidt/Vondung Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren Rn. 551. Die Klage wird dann unzulässig und nicht erst unbegründet.Bosch/Schmidt/Vondung Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren Rn. 553.

Hinweis

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Macht der Kläger jedoch geltend, dass die Voraussetzungen der materiellen Präklusion nicht gegeben seien, so kann die Klage nicht unter Hinweis auf die Präklusion als unzulässig abgewiesen werden,

BVerwGE 66, 99. denn in diesem Fall erscheint eine Rechtsverletzung noch möglich.Bosch/Schmidt/Vondung Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren Rn. 553.

665

Im Falle einer materiellen Präklusion ist der Verfahrensbeteiligte nicht nur im Verwaltungsverfahren nach dem Ablauf der Frist mit seinem Vorbringen ausgeschlossen (formelle Präklusion), sondern auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

Bosch/Schmidt/Vondung Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren Rn. 551. Die Vorschrift des § 55 Abs. 2 S. 2 LBO ist verfassungsgemäß.VGH Baden-Württemberg VBlBW 1998, 464 m.w.N. Wegen der weitreichenden Folgen ist sie jedoch sehr restriktiv zu handhaben.Kenntner Öffentliches Recht in Baden-Württemberg Rn. 750. Erforderlich ist die exakte Einhaltung der zur materiellen Präklusion führenden Verfahrensvorgaben.VGH Baden-Württemberg VBlBW 2008, 223.

hh) Verzicht und Verwirkung im Nachbarrecht

Die Klagebefugnis des Nachbarn kann auch wegen eines Verzichts oder einer Verwirkung zu verneinen sein.

(1) Verzicht

666

Auf ihm zustehende öffentlich-rechtliche Abwehransprüche kann der Nachbar verzichten.

BVerwG BRS 28 Nr. 125; VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1996, 310; s. zum Ganzen Dürr Baurecht in Baden-Württemberg Rn. 317. Ein nachbarlicher Verzicht entbindet die Baurechtsbehörde nicht davon, dass sie die Baugenehmigung ablehnen muss, wenn deren Erteilung gegen die Vorschrift verstoßen würde, auf die verzichtet wurde und diese neben nachbarrechtlichen auch öffentliche Belange schützt.BVerwG NVwZ 2000, 1050; VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1996, 310. Ein Verzicht ist nur beachtlich, wenn er gegenüber der Baurechtsbehörde erklärt wurde.VGH Baden-Württemberg NVwZ 1983, 229. Dies folgt aus § 58 Abs. 3 LBO, da hiernach privatrechtliche Vereinbarungen unbeachtlich sind.VGH Baden-Württemberg BRS 22 Nr. 176.

Ein Verzicht setzt eine eindeutige Verzichtserklärung voraus, weswegen es für die Annahme eines Verzichts nicht ausreicht, dass der Nachbar im Anhörungsverfahren keine Einwendungen erhebt

VGH Baden-Württemberg BRS 27 Nr. 164. oder seine Einwendungen zurücknimmt.VGH Baden-Württemberg BRS 32 Nr. 164. In einer Unterschrift unter die Baupläne kann regelmäßig ein Verzicht gesehen werden.VGH Baden-Württemberg BRS 32 Nr. 164. Ein Verzicht ist nach Erteilung der Baugenehmigung unwiderruflich.VGH Baden-Württemberg BRS 27 Nr. 164. Möglich ist jedoch eine Anfechtung analog §§ 119 ff. BGB.VGH Baden-Württemberg BRS 32 Nr. 164. Zumindest aus der Wertung des § 58 Abs. 2 LBODürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 317. kann entnommen werden, dass ein Verzicht auch den Rechtsnachfolger bindet.Hessischer VGH BRS 56 Nr. 181.

(2) Verwirkung

 

Ob die Verwirkung zur Verneinung der Klagebefugnis oder zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses führt, ist umstritten.

Vgl. Schmidt Öffentliches Baurecht Rn. 490 m.w.N. Da es sich um eine Aufbaufrage handelt, ist dieses Problem nicht darzustellen. Durch den Ort der Prüfung ergibt sich, welcher Auffassung sind folgen. Jedenfalls ist die Verwirkung im Rahmen der Zulässigkeit und nicht erst im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen.

667

Nach der Rechtsprechung kann das Recht des Nachbarn, sich auf ihn schützende Vorschriften zu berufen, durch Verwirkung untergehen.

BVerwGE 44, 294; BVerwGE 78 35; VGH Baden-Württemberg VBlBW 1992, 103; VGH Baden-Württemberg BauR 2012, 1637. Verwirkung liegt vor, wenn seit der Möglichkeit, ein subjektives Recht geltend zu machen, längere Zeit verstrichen ist und infolge besonderer Umstände die spätere Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstoßen würde.BVerfGE 32, 305; BVerwG NVwZ-RR 2004, 314.

668

Es ist zwischen der formellen und der materiellen Verwirkung zu unterscheiden.

Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 318. Beide Arten der Verwirkung setzten nicht voraus, dass es sich bei der baulichen Anlage um ein genehmigtes Bauvorhaben handelt, so dass eine Verwirkung auch bezüglich eines formell illegalen Vorhabens eintreten kann.BVerwG BauR 1997, 281; BVerwG NJW 1998, 328.

669

Eine formelle Verwirkung ist dann gegeben, wenn der Nachbar trotz sicherer Kenntnis vom Bauvorhaben ein Jahr lang nichts unternimmt, insbesondere wenn er keine Rechtsmittel einlegt.

BVerwGE 44, 294; BVerwGE 78, 35; VGH Baden-Württemberg VBlBW 1992, 103; VGH Baden-Württemberg BauR 2012, 1637. Die Verwirkung folgt aus dem nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis, das den Nachbarn verpflichtet, seine Einwendungen nicht unangemessen spät zu erheben. Zur Beurteilung, wann eine Einwendung unangemessen spät erhoben wird, wird auf die Jahresfrist analog § 58 Abs. 2 VwGO zurückgegriffen.Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 318. Die Jahresfrist beginnt jedoch nicht dann zu laufen, wenn der Nachbar die tatsächliche Kenntnis vom Bauvorhaben erlangt, sondern bereits dann, wenn dieser das Bauvorhaben hätte zur Kenntnis nehmen müssen.BVerwG NVwZ 1988, 532.

670

Eine materielle Verwirkung ist hingegen gegeben, wenn der Nachbar durch sein Verhalten gegenüber dem Bauherrn den berechtigten Eindruck hervorruft, er werde gegen das Bauvorhaben keine Einwendungen erheben.

BVerwG NVwZ 1991, 1182. Eine derartige Verwirkung kann auch vor Ablauf der Jahresfrist eintreten.Dürr Baurecht Baden-Württemberg Rn. 318. Auch die materielle Verwirkung wirkt gegenüber dem Rechtsnachfolger.VGH Baden-Württemberg VBlBW 1992, 103.

Beispiel

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Eine materielle Verwirkung ist gegeben, wenn der Nachbar Widerspruch einlegt, obwohl er vom Bauherrn als Ausgleich für die zu erwartenden Beeinträchtigungen zuvor eine Entschädigung von 3,2 Millionen Euro erhalten hat.

OVG Nordrhein-Westfalen BauR 2004, 62.

671

Ein Fall der materiellen Verwirkung kann auch im Falle des Erwerbs von Sperrgrundstücken gegeben sein.

BVerwGE 112, 135, 137 ff. Ein derartiger Erwerb liegt vor, wenn das Grundstück alleine zum Zwecke der Erlangung der Klagebefugnis und der damit verbundenen Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung des benachbarten baulichen Vorhabens ohne jegliche Nutzungsabsicht erworben wird. In diesem Fall wird die Eigentümerstellung missbräuchlich erworben.

ii) Notwendige Beiladung, § 65 Abs. 2 VwGO

672

Der Bauherr ist im Falle der Nachbaranfechtungsklage notwendig gemäß § 65 Abs. 2 VwGO beizuladen. Er wird durch die Entscheidung unmittelbar betroffen, da die ihm erteilte Baugenehmigung aufgehoben werden kann.

Vgl. Brenner Öffentliches Baurecht Rn. 862.

jj) Weitere Voraussetzungen

673

Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen gilt das zur Verpflichtungsklage (s.o. Rn. 599 ff.) wegen der Übereinstimmung der Voraussetzungen Dargestellte.

b) Begründetheit

674

Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn sich gegen den richtigen Klagegegner i.S.d. § 78 VwGO richtet, die angegriffene Baugenehmigung rechtswidrig und der Nachbar dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

aa) Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung

675

Die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung wird, wie oben dargestellt (s.o. Rn. 442), geprüft.

Expertentipp

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Uneinigkeit herrscht über den Umfang der Prüfung im Rahmen der Begründet in Fällen des Nachbarschutzes. Es ist zwischen universitären Klausuren und Klausuren in der Ersten Juristischen Prüfung und Assessorklausuren zu differenzieren:

Die Rechtsprechung prüft unter dem ersten Prüfungspunkt (Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes) ausschließlich Verstöße gegen drittschützende Normen, da es bei der Anfechtungsklage nicht auf die objektive Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit ankommt, sondern alleine darauf, ob der Dritte durch den angefochtenen Verwaltungsakt in eigenen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Diese Art der Prüfung ist in Assessorklausuren vorzunehmen.

Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 349. Das sogleich dargestellte Vorgehen ist in Assessorklausuren fehlerhaft.Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 349.

Zwar trifft diese Begründung auch auf universitäre Klausuren und solchen in der Ersten Juristischen Prüfung zu, dennoch sollte die Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, hier die der Baugenehmigung, vollumfänglich (und nicht nur im Hinblick auf eine Verletzung von nachbarschützenden Vorschriften) geprüft werden. Ob die in Frage stehenden Vorschriften drittschützend sind, ist damit im Rahmen der Prüfung der Rechtswidrig- bzw. Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung noch unbeachtlich. Der nachbarschützende Charakter der jeweiligen Vorschriften ist erst im zweiten Prüfungspunkt (Rechtsverletzung des Klägers) zu erörtern. Eine Rechtsverletzung des Klägers kann nur aus nachbarschützenden Vorschriften folgen, da sich der Nachbar auf nicht nachbarschützende Vorschriften gerade nicht berufen kann. Für dieses Vorgehen spricht, dass Sie in einem Gutachten alle aufgeworfenen Rechtsfragen zu erörtern haben. Auf jeden Fall müssen Sie die Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes auch vollumfänglich prüfen, wenn der Sachverhalt Angaben zur möglichen Verletzung von nicht drittschützenden Normen enthält. Sollte Ihnen jedoch, was tunlichst zu vermeiden ist, die Bearbeitungszeit knapp werden, so können Sie als absolute Notlösung nur die Verletzung von nachbarschützenden Vorschriften prüfen, wenn nicht das zuvor Dargestellte gegeben ist.

bb) Rechtsverletzung des Nachbarn

676

Durch die rechtswidrige Baugenehmigung muss der Nachbar weiterhin in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO Dies ist, da es sich um einen Drittbeteiligungsfall handelt, dann gegeben, wenn gegen eine Vorschrift verstoßen worden ist, die zugunsten des Nachbarn Drittschutz entfaltet.

Expertentipp

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In Ihrer Klausurlösung verweisen Sie auf den im Rahmen der Klagebefugnis festgestellten drittschützenden Charakter der maßgeblichen Vorschrift (s.o. Rn. 630) und auf die zuvor im Rahmen der Begründetheit festgestellte Rechtswidrigkeit.

2. Rechtsschutzbegehren: Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung

677

Sollte die Baurechtsbehörde dem Bauherrn eine Baugenehmigung erteilt haben, so kann der Nachbar – bei der Baugenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung i.S.d. § 80a VwGO (s.o. Rn. 427) – neben oder sogar vor Erhebung der (Nachbar-)Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO gegen diese auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß §§ 80, 80a VwGO (Schluss aus der Kollisionsnorm des § 123 Abs. 5 VwGO) vorgehen.

Expertentipp

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Lesen Sie § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO und § 212a Abs. 1 BauGB und wiederholen Sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO.

a) Keine aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB

678

Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung, also gegen eine Baugenehmigung, des Vorhabens gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB haben keine aufschiebende Wirkung. Der Bauherr kann also mit der Verwirklichung seines Vorhabens auch dann beginnen, wenn der Nachbar einen förmlichen Rechtsbehelf eingelegt hat.

S. vertiefend Huber NVwZ 2004, 915.

Ob das Entfallen der aufschiebenden Wirkung gemäß § 212a Abs. 1 BauGB auch für den Bauvorbescheid gilt, ist umstritten.

679

Teilweise wird von einem Entfallen der aufschiebenden Wirkung gemäß § 212a Abs. 1 BauGB auch im Falle eines Bauvorbescheids ausgegangen.

Neuffer Das neue Baurecht, § 10 BauGB-MaßnahmenG Rn. 2 für die wortlautgleiche Vorgängervorschrift des § 212a Abs. 1 BauGB. Hierfür wird angeführt, dass der Bauvorbescheid hinsichtlich der in ihm entschiedenen Einzelfragen die Baurechtsbehörde und im Falle seiner Bestandskraft auch den Nachbarn binde. Damit sei über die betreffenden Fragen abschließend entschieden. § 212a Abs. 1 BauGB zwecke weiterhin eine generelle Beschleunigung des Baugenehmigungsverfahrens. Ohne das Entfallen der aufschiebenden Wirkung könne keine beschleunigte Vorabklärung von Einzelfragen zum Bauvorhaben erfolgen.

Herrschend wird diese Frage verneint.

VGH Baden-Württemberg VBlBW 199,7 105; Battis/Krautzberger/Löhr-Battis BauGB § 212a Rn. 2; Ferner/Kröninger/Aschke-Kirchmeier BauGB § 212a Rn. 6; Jäde UPR 1991 50, 59. Hierfür spricht der Wortlaut des § 212a Abs. 1 BauGB, der von einer „Zulassung“ spricht. Bei einem Bauvorbescheid handelt es sich jedoch um einen ausschließlich feststellenden Verwaltungsakt,Ferner/Kröninger/Aschke-Kirchmeier BauGB § 212a Rn. 6. den verfügenden Teil, nämlich die Gestattung des Bauens, enthält ein Bauvorbescheid nicht.VGH Baden-Württemberg VBlBW 1997, 105. Alleine auf der Grundlage eines Bauvorbescheids darf nicht gebaut werden, weshalb kein Bedürfnis für ein Entfallen der aufschiebenden Wirkung gegeben sei.VGH Baden-Württemberg VBlBW 1997, 105. Weiterhin ist § 212a BauGB eine Ausnahmevorschrift vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 1 VwGO, weshalb eine enge Auslegung zu erfolgen hat.VGH Baden-Württemberg VBlBW 1997, 105; VGH Baden-Württemberg ZfBR 1996, 170.

Beispiel

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S hat von der Baurechtsbehörde die Genehmigung zur Errichtung eines Wohnhauses im Außenbereich erteilt bekommen. Landwirt T ist Eigentümer eines benachbarten Grundstücks im Außenbereich. Auf seinem Grundstück betreibt er einen landwirtschaftlichen Betrieb in Form eines Schweinezuchtbetriebes. T geht berechtigterweise davon aus, dass sein stark immissionsträchtiger Betrieb durch immissionsschutzrechtliche Regelungen derart reglementiert wird, dass seine Existenz in ernster Gefahr sei. Aus diesem Grund will T die Verwirklichung des Vorhabens verhindern.

680

Um im Beispiel das Vorhaben des S zu verhindern, muss T zunächst regelmäßig erfolglos Widerspruch gemäß §§ 68 ff. VwGO eingelegt haben.

Hinweis

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Ob ein Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO schon vor Einlegung des Widerspruchs zulässig ist, ist umstritten.

Vgl. Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 992 m.w.N.

Dann kann er eine Anfechtungsklage einlegen, diese hat jedoch gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung. Wenn T die Verwirklichung des Bauvorhabens zumindest vorläufig verhindern möchte, muss er bei der Baurechtsbehörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung nach §§ 80a Abs. 1 Nr. 2 Hs. 1, 80 Abs. 4 VwGO stellen. Ein derartiger Antrag kann auch schon vor Erhebung der Anfechtungsklage gestellt werden.

Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 992. Ferner kann er vorläufigen Rechtsschutz beim zuständigen Verwaltungsgericht, auch vor Erhebung der Anfechtungsklage, vgl. § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO, erlangen.

Hinweis

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Bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung ist umstritten, ob vorläufiger Rechtsschutz durch eine Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO

BVerwG NVwZ 1995, 903; VGH Baden-Württemberg NVwZ 1991, 1000. oder durch eine Aussetzung gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 VwGOBudroweit/Wuttke JuS 2006, 876, 878. zu erfolgen hat.

Ersteres ist in Baden-Württemberg verbreiteter. Hierfür spricht zunächst, dass bei einer Aussetzung nach § 80a Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 VwGO die Verweisung in § 80a Abs. 3 S. 2 auf § 80 Abs. 5 VwGO leer liefe.

Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 989. Ferner ist kein Grund für eine inhaltliche und terminologische Differenzierung zwischen einem einseitig belastenden und einem Verwaltungsakt mit Drittwirkung erkennbar.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 989. Weiterhin kann die Regelung des § 17e Abs. 3 S. 1 FStrG angeführt werden, der ausdrücklich regelt, dass sich vorläufiger Rechtsschutz in einem Drittbeteiligungsfall nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO richtet.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 989.

T kann, abhängig davon, welcher Auffassung Sie folgen, entweder einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach §§ 80a Abs. 3 S. 1 Var. 3 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 1, 80 Abs. 4 VwGO oder einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß §§ 80a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 VwGO stellen.

Expertentipp

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Achten Sie unbedingt auf eine exakte Terminologie: In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO wird gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage angeordnet. Im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO hingegen wird diese gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO wiederhergestellt. Der Grund dafür liegt darin, dass in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 VwGO die aufschiebende Wirkung wegen des gesetzlich geregelten Entfallens der aufschiebenden Wirkung niemals eintreten konnte. Im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO hingegen ist eine besondere Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgt, so dass für eine juristische Sekunde ein Widerspruch oder eine Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung hätte haben können.

Denken Sie bei der dieser Prüfung unbedingt an den Streitstand, ob ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht voraussetzt, dass der Nachbar zuvor wegen der Verweisung in § 80a Abs. 3 S. 2 auch auf § 80 Abs. 6 VwGO erfolglos einen Antrag nach §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, 80 Abs. 6 VwGO (sog. Aussetzungsantrag) bei der Behörde stellen muss.

S. Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 497. Es geht um die Frage, ob es sich bei der Verweisung in § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO auch auf § 80 Abs. 6 VwGO um eine Rechtsgrund- oder Rechtsfolgenverweisung handelt.Vgl. Kopp/Schenke VwGO § 80a Rn. 21, § 80 Rn. 148. Dieser Streit ist ohne Bedeutung, wenn dem Nachbarn keine Abschrift der Baugenehmigung zugestellt worden ist und er erst mit dem Baubeginn von der Existenz der Baugenehmigung erfährt, denn dann droht die „Vollstreckung“ i.S.d. § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO (s. hierzu Übungsfall Nr. 4).Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 497.

b) Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog

681

Eine Analogie zu § 42 Abs. 2 VwGO ist erforderlich, da auch im vorläufigen Rechtschutzverfahren Popularanträge vermieden werden sollen. Weiterhin dient dieses Verfahren der Absicherung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Rechts. Eine derartige Absicherung würde gefährdet, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren nicht, wie erforderlich, gemäß § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt wäre. Inhaltlich stimmen die Anforderungen mit denen der Klagebefugnis (s. Rn. 630 ff.) überein.

682

Im Rahmen der Begründetheit der Verfahren nach §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, 80 Abs. 4 VwGO, §§ 80a Abs. 3 S. 1 Var. 3 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 1, 80 Abs. 4 VwGO und §§ 80a Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 VwGO wird eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Situation des Drittbeteiligungsfalles vorgenommen.

S. Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 999 ff. Abzuwägen sind hierbei die Interessen des Bauherrn an der Vollziehung der Genehmigung (sog. Vollziehungsinteresse) mit den Interessen des Nachbarn an der Aussetzung der Vollziehung der Genehmigung (sog. Suspensivinteresse).Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1001. Es hat zumindest hinsichtlich der tatsächlichen Fragen lediglich eine summarische Prüfung zu erfolgen.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1001.

Expertentipp

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Bei der Lösung einer Klausur muss auch im Rahmen einer summarischen Prüfung eine vollständige Prüfung erfolgen, da Sie, außer eventuell in Assessorklausuren, keine Sachaufklärung betreiben müssen.

683

Die Grundlage für diese Abwägung ist zunächst § 80 Abs. 4 S. 3 Alt. 1 VwGO zu entnehmen, der auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts abstellt.

Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1001. Ebenfalls ist auf den Zweck des Verfahrens, das der Absicherung der Hauptsache dient, abzustellen. Im Hauptsacheverfahren, das eine Anfechtungsklage zum Gegenstand hat, ist ebenfalls die Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts maßgeblich.

Expertentipp

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Lesen Sie die Entscheidung BVerfG NVwZ 2009, 240. Die Kenntnis hiervon ist obligatorisch.

Zu beachten sind jedoch die Besonderheiten des Drittbeteiligungsfalls.

S. zum Ganzen BVerfG NVwZ 2009, 240. Die objektive Rechtswidrigkeit kann in einer derartigen Konstellation nicht maßgeblich sein.

Bei der Abwägung ist das Interesse des Drittanfechtenden nicht von vornherein gewichtiger als das Interesse des Genehmigungsempfängers. Eine einseitige Bevorzugung des Dritten würde entgegen den Freiheitsrechten und dem Gleichheitssatz des Genehmigungsempfängers zu einer ungerechtfertigten Privilegierung des Dritten führen. Die Interessen des Genehmigungsempfängers und des Dritten stehen sich grundsätzlich gleichrangig gegenüber. Auch das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG erfordert es nicht, dass nur auf die objektive Rechtswidrigkeit abgestellt wird. Vielmehr muss die Verletzung eines subjektiven Rechts des Antragstellers hinzukommen. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet dem Einzelnen Rechtsschutz nur für die Verletzung seiner Rechte durch die öffentliche Gewalt und garantiert dem Bürger damit keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung. Auch aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG folgt kein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch, dessen Einhaltung der Einzelne auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 4 GG von den Gerichten kontrollieren lassen könnte.

Zusätzlich zur objektiven Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts muss die Verletzung einer drittschützenden Vorschrift gegeben sein.

Prüfungsschema

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Wie prüft man: Begründetheit eines Antrags im vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO

1.

Fall: Der Verwaltungsakt ist offensichtlich rechtmäßig:

 

 

Das Vollzugsinteresse des Genehmigungsempfängers überwiegt

2.

Fall: Der Verwaltungsakt ist offensichtlich rechtswidrig:

 

a)

Unterfall 1: Konstellation des § 80a Abs. 1 VwGO, d.h. Vorliegen eines den Adressaten begünstigenden, den Dritten belastenden Verwaltungsakts:

 

 

 

z.B. Baugenehmigung

 

 

 

Das Suspensivinteresse des Dritten überwiegt nur, wenn die Genehmigung gegen eine drittschützende Vorschrift verstößt

 

b)

Unterfall 2: Konstellation des § 80a Abs. 2 VwGO, d.h. Vorliegen eines den Adressaten belastenden, den Dritten begünstigenden Verwaltungsakts:

 

 

 

z.B. Nutzungsuntersagung oder Abbruchsanordnung

 

 

 

Das Suspensivinteresse des Adressaten überwiegt, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist.

Sollte der Verwaltungsakt also offensichtlich rechtmäßig sein, so überwiegt das Vollzugsinteresse des Bauherrn. Sollte der Verwaltungsakt hingegen offensichtlich rechtswidrig sein, so überwiegt das Interesse des Nachbarn an der Aussetzung nur, wenn gegen eine drittschützende Norm verstoßen worden ist.

Hinweis

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Nur in Assessorklausuren kann sich die umstrittene Frage stellen, welchem Interesse der Vorrang einzuräumen ist, wenn dem Suspensivinteresse des Dritten und dem Vollzugsinteresse des Genehmigungsempfängers das annähernd gleiche Gewicht zukommt.

Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 499.

684

Im Beispiel ist die dem S erteilte Baugenehmigung offensichtlich rechtswidrig, da sein nicht privilegiertes Vorhaben öffentliche Belange i.S.d. § 35 Abs. 3 BauGB beeinträchtigt, denn T kann sich auf den in § 35 Abs. 3 BauGB enthaltenen partiellen Nachbarschutz durch das Rücksichtnahmegebot (s. Rn. 662) berufen. Mithin überwiegt das Interesse des T an der Aussetzung der Vollziehung das Interesse des S an der Vollziehung der Baugenehmigung.

Sollte das Verwaltungsgericht die Vollziehung der Baugenehmigung aussetzen, so darf S nicht mit dem Bau beginnen bzw. diesen weiterführen. S hat nun seinerseits die Möglichkeit, beim Verwaltungsgericht einen Antrag zu stellen. Dieser wäre dann darauf gerichtet, dass die Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 Var. 2 VwGO aufgehoben wird.

685

Wenn S sich über die Anordnung der Behörde oder des Verwaltungsgerichts, dass die Vollziehung der Baugenehmigung ausgesetzt wird, hinwegsetzt und somit mit der Verwirklichung des Vorhabens beginnt bzw. weiterbaut (faktischer Vollzug), kann  die Baurechtsbehörde bzw. das Verwaltungsgericht gemäß §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, 80a Abs. 3 S. 1 VwGO eine vorläufige Sicherungsanordnung zugunsten des T erlassen.

Hinweis

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Ob im Falle des faktischen Vollzugs § 80 Abs. 5 VwGO oder § 123 VwGO Anwendung findet ist umstritten.

S. hierzu Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1015 ff. m.w.N.; Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 492 m.w.N. Fälle des faktischen Vollzugs eignen sich jedoch nur als Zusatzfrage. Im Rahmen der Zulässigkeit ist nämlich festzustellen, dass ein Fall des faktischen Vollzuges gegeben ist. Aus der Zulässigkeit des Antrags folgt dessen Begründetheit.

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