Allgemeines Verwaltungsrecht

Einzelne Verfahrensgrundsätze im Verwaltungsverfahren

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5. Einzelne Verfahrensgrundsätze

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Der Ablauf des Verwaltungsverfahrens (Rn. 150 ff.) ist im Regelfall des § 10 S. 1 Hs. 1 VwVfG an keine bestimmte Form gebunden. Vielmehr ist es im öffentlichen Interesse an Beschleunigung und Kostenersparnis „einfach, zweckmäßig und zügig“ durchzuführen, siehe § 10 S. 2 VwVfG.

Neben der Verwaltungseffektivität (input-output-Relation) hat das Verwaltungsverfahren die weitere Aufgabe, dem Betroffenen Rechtsschutz zu gewähren. Dies folgt nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, sondern auch den Grundrechten. Zudem dient es dazu, der Verwaltungsentscheidung Akzeptanz zu verschaffen (demokratische Legitimationsfunktion), siehe Pünder JuS 2011, 289 (291 f.). Trotz dieser relativ großen Flexibilität, welche der Behörde damit eingeräumt wird, darf sie ihr Verfahrensermessen nicht beliebig (willkürlich) ausüben. Vielmehr hat sie qua Verfassungsrecht (v.a. Rechtsstaatsprinzip und Grundrechte) gewisse Mindestanforderungen zu beachten, welche sich in den nachfolgend näher dargestellten Vorschriften widerspiegeln (Rn. 150).

 

a) Verfahrensbeginn

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Sofern die Behörde nicht auf Grund von speziellen Rechtsvorschriften (z.B. § 15 Abs. 1, 2 GastG, § 35 Abs. 1 S. 1 GewO) von Amts wegen (Offizialprinzip

Demgegenüber wird der Verwaltungsprozess gem. § 88 VwGO von der Dispositionsmaxime beherrscht, siehe im Skript „Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 19.) oder auf Antrag (z.B. §§ 8 ff. BImSchG; § 70 BauO NRW 2018) hin tätig werden „muss“ (Legalitätsprinzip) oder nur auf Antrag tätig werden „darf“ und ein Antrag nicht vorliegt (Dispositionsgrundsatz), entscheidet sie gem. § 22 S. 1 VwVfG (vgl. auch § 86 S. 1 AO, § 18 S. 1 SGB X) nach „pflichtgemäßem Ermessen“, ob und wann sie – in deutscher Sprache (§ 23 Abs. 1 VwVfG, vgl. auch § 87 Abs. 1 AO, § 19 Abs. 1 S. 1 SGB X)Zum insoweit zu beachtenden europarechtlichen Diskriminierungsverbot siehe Kopp/Ramsauer VwVfG § 23 Rn. 4b f. – ein Verwaltungsverfahren durchführt (Opportunitätsprinzip). Das Offizialprinzip gilt typischerweise in solchen Rechtsbereichen, die primär der Verwirklichung des öffentlichen Interesses dienen. Hingegen greift das Dispositionsprinzip, wenn der Anlass für die Eröffnung des Verwaltungsverfahrens vornehmlich im Schutz der Interessen des Einzelnen besteht. Zudem gibt es Rechtsbereiche, in denen beide Prinzipien parallel nebeneinander existieren, d.h. die Behörde muss auf Antrag, kann aber auch von selbst tätig werden. Neben den im Gesetz ausdrücklich geregelten Fällen (z.B. § 10 Abs. 1 S. 1 HwO) gehören hierzu etwa das Baurecht (Recht des Nachbarn auf Einschreiten der Behörde gegen einen ihn gefährdenden bauordnungswidrigen Zustand auf einem fremden Grundstück) sowie das Polizei- und Ordnungsrecht (Recht des Bürgers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Einschreiten gegen das polizei-/ordnungswidrige Verhalten einer dritten Person, das seine Rechte beeinträchtigt).

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Definition

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Definition: Antrag

Der Begriff Antrag meint ein Verhalten, in dem der Antragsteller in einer für die Behörde erkennbaren Weise seinen Willen zum Ausdruck bringt, definitiv eine Bescheidung eines bestimmten Begehrens zu erstreben.

Kopp/Ramsauer VwVfG § 22 Rn. 35.

Ein solcher Antrag, der vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Anordnung formlos und ohne Begründung erfolgen kann, jedoch bei der zuständigen Behörde (Rn. 140 ff.) gestellt werden muss,

Eine Verpflichtung der unzuständigen Behörde zur Weiterleitung des bei ihr eingereichten Antrags an die zuständige Behörde besteht nach h.M. nur bei entsprechender gesetzlicher Anordnung (z.B. § 16 Abs. 2 S. 1 SGB I). Nach a.A. sei eine solche jedenfalls in Art. 17 GG enthalten bzw. folge aus allgemeinen Rechtsgedanken. Nachweise zum Meinungsstand bei Kallerhoff in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 24 Rn. 81. ist abzugrenzen von der bloßen Anregung, die darauf abzielt, die Behörde zum Einschreiten von Amts wegen zu veranlassen. Inhaltlich kommt der Willenserklärung „Antrag“ (die §§ 133, 157 BGB gelten analog) regelmäßig eine Doppelnatur zu – zum einen als Verfahrenshandlung, zum anderen als materiell-rechtliche Voraussetzung nach dem jeweils einschlägigen Fachrecht. Durch ihn wird der Gegenstand des Verwaltungsverfahrens festgelegt. Im Grundsatz sind Anträge in der Reihenfolge ihres Eingangs bei der Behörde zu bearbeiten (Prioritätsprinzip; Ausnahmen: Eilbedürftigkeit, Auswahlentscheidungen, vgl. Übungsfall Nr. 3). Entsprechend der im Verwaltungsprozess geltenden GrundsätzeHierzu siehe im Skript S_JURIQ-VerwPR/Teil_2/Kap_A/Abschn_IV/Rz_47„Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 47 ff. können auch im Verwaltungsverfahren Anträge zwar hilfsweise (u.U. auch alternativ), nicht jedoch bedingt gestellt werden, und muss der Antragsteller antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) sowie rechtsschutzbedürftig sein. Das Antragsrecht kann ausgeschlossen sein, wenn etwaig bestehende Fristen abgelaufen sind (evtl. aber Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gem. § 32 VwVfG) oder der Antragsteller auf sein Antragsrecht wirksam verzichtet bzw. dieses verwirkt hat (§ 242 BGB analog). Bis zum Ergehen der behördlichen Entscheidung können Anträge regelmäßig geändert und zurückgenommen werden, sofern sich Abweichendes nicht aus dem Gesetz oder der Natur der Sache ergibt.Näher zur umstr. Möglichkeit von Widerruf und Anfechtung des Antrags gem. §§ 130 Abs. 1 S. 2, 183 S. 1, 119 ff. BGB analog siehe Jachmann/Drüen Allgemeines Verwaltungsrecht Rn. 58.

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Erlässt die Behörde einen Verwaltungsakt, der von der Stellung eines Antrags durch den Beteiligten abhängig ist, und weicht der Inhalt dieses Verwaltungsakts von dem gestellten Antrag ab, so stellt dies eine (Teil-)Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts, verbunden mit dem Erlass eines (teilweise) anderen Verwaltungsakts, dar. Dieser ist bei (konkludenter) Zustimmung des Antragstellers rechtmäßig, siehe § 45 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (Rn. 197).

b) Ausgeschlossene Personen

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Damit das Verwaltungsverfahren (Rn. 150 ff.) zugunsten der optimalen Aufgabenerfüllung durch die Behörde und des Rechtsschutzes des Bürgers von etwaigen sachfremden Einflüssen seitens der mit der Verfahrensdurchführung befassten Amtswalter freigehalten und damit auch insoweit ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren bar von jeder Parteilichkeit gewährleistet wird, sind die in § 20 Abs. 1 VwVfG genannten Personen unmittelbar kraft Gesetzes von der Tätigkeit im konkreten Verwaltungsverfahren auf Seiten der Behörde ausgeschlossen (Rn. 172).

Bei § 20 VwVfG handelt es sich um die einfach-gesetzliche Ausprägung des aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Gebots der „Lauterkeit und Unparteilichkeit der Amtsträger“, BVerfG NVwZ 2009, 1217 (1219). Um über die in § 20 Abs. 1 VwVfG abschließend typisierten Fälle von gesetzlich unwiderlegbar vermuteten Interessenskonflikten hinaus auch ansonsten bereits den „bösen Schein“ der Befangenheit zu verhindern, sieht der gegenüber § 20 Abs. 1 VwVfG als allgemeiner Auffangtatbestand fungierende § 21 VwVfG (Rn. 173) den Ausschluss einer Person vom Verfahren auf Seiten der Behörde durch konstitutiv wirkenden Behördenleiterbeschluss vor; vgl. auch § 18 GemO BW, Art. 49 bay. GO, § 31 GO NRW.

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Das Vorliegen eines Ausschlussgrunds nach § 20 Abs. 1 VwVfG (vgl. auch § 82 AO, § 16 SGB X) ist von Amts wegen zu berücksichtigen. Ein förmliches Recht der Verfahrensbeteiligten auf Ablehnung eines Amtsträgers wegen Befangenheit sehen die §§ 20 Abs. 1, 21 VwVfG dagegen nicht vor; ein Anspruch auf Einsatz eines unbefangenen Amtsträgers besteht nicht. Vielmehr müssen die Verfahrensbeteiligten umgekehrt solche Befangenheits-/Ablehnungsgründe, die nur ihnen – nicht aber auch der Behörde – bekannt sind, aufgrund von § 26 Abs. 2 VwVfG unverzüglich geltend machen, um das Recht zur späteren Rüge einer Verletzung des § 20 Abs. 1 bzw. § 21 VwVfG nicht zu verlieren. Andernfalls nämlich hätten es die Beteiligten in der Hand, den Vortrag von Ausschlussgründen vom Ergebnis der behördlichen Endentscheidung abhängig zu machen. Ein Recht des Amtsträgers auf Selbstablehnung wird zum Teil unter Hinweis auf dessen Persönlichkeitsrecht sowie den in Rn. 171 genannten Sinn und Zweck von § 20 Abs. 1 VwVfG bejaht. Aus diesem folgt zugleich, dass § 20 Abs. 1 VwVfG nur solche Mitwirkungshandlungen erfasst, die Einfluss auf den Verfahrensverlauf und/oder dessen Ergebnis haben können, nicht jedoch rein passives Verhalten sowie neutrale (Boten-/Fahrer-/Schreib-/Zustellungs-)Tätigkeiten. Ein i.S.v. § 20 Abs. 1 S. 2 VwVfG „durch“ die Tätigkeit bzw. Entscheidung erlangter „Vorteil oder Nachteil“ kann sowohl rechtlicher als auch wirtschaftlicher, immaterieller oder sonstiger Natur sein. Aufgrund dieses recht weiten Begriffsverständnisses verlangt das Gesetz insoweit zudem noch korrigierend nach einem „Unmittelbarkeits“-Zusammenhang zwischen der Tätigkeit/Entscheidung und dem Vor-/Nachteil. Dieser liegt vor, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls bei wertender Betrachtung aus der Sicht eines gerecht und billig Denkenden in Anbetracht des Vor-/Nachteils die Unparteilichkeit des Handelns nicht mehr als ausreichend gewährleistet erscheint. Ein bloßer Gruppenvorteil bzw. -nachteil ist dagegen nach § 20 Abs. 1 S. 3 VwVfG unschädlich.

Beispiel

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Die nordrhein-westfälische Behörde B widerrief die dem Landwirt L unter Widerrufsvorbehalt erteilte Nachtbetriebsgenehmigung für eine Windkraftanlage, nachdem Immissionsmessungen auf einem benachbarten Grundstück eine Überschreitung der nach der Genehmigung dort maximal zulässigen Lärmwerte ergeben hatten. L meint, das dem Widerruf vorangegangene Verwaltungsverfahren sei rechtswidrig verlaufen, da – was sachlich zutreffend ist – die Mitarbeiter des insoweit zuständigen Landesumweltamts zur Durchführung der der Aufhebungsentscheidung zu Grunde liegenden 8 jeweils 15-minütigen Geräuschmessungen auf dem Grundstück der Nachbarn von L eine Geräuschmessstation aufgebaut und die Nachbarn des L durch Aushändigung eines Schlüssels in die Lage versetzt hatten, durch Inbetriebnahme des Aufzeichnungsgeräts jeweils die Registrierung der von der Windkraftanlage ausgehenden Geräusche zu starten. Trifft diese Rechtsansicht des L zu, wenn dessen Nachbarn seit Jahren eine Klage vor dem Verwaltungsgericht führen, um die Aufhebung der für die Windkraftanlage des L erteilten Baugenehmigung zu erreichen?

Ja. Das dem Widerruf vorangegangene Verwaltungsverfahren zur Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen ist, soweit bei der Messung der von der umstrittenen Windkraftanlage verursachten Immissionswerte die Nachbarn beteiligt waren, wegen eines Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 S. 2 VwVfG NRW rechtsfehlerhaft. Nach dieser Vorschrift darf in einem Verwaltungsverfahren für eine Behörde nicht tätig werden, wer durch die Tätigkeit einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil erlangen kann. Als Ausprägung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens fordert § 20 Abs. 1 VwVfG NRW den Ausschluss jeglicher Mitwirkung durch Beteiligte und andere Personen, bei denen nach den maßgeblichen Umständen des konkreten Falls eine Unparteilichkeit des Handelns nicht gewährleistet ist. Untersagt sind nach § 20 Abs. 1 VwVfG NRW alle Handlungen, durch die die in der Vorschrift bezeichneten Personen Einfluss auf die Behördenentscheidung nehmen können. Diese Grundsätze hat B nicht beachtet. Die Erhebung der Messdaten durch das Landesumweltamt war Teil des Verwaltungsverfahrens, das mit dem Erlass des Widerrufsbescheids seinen Abschluss gefunden hat. Die Datenerhebung erfolgte auf Veranlassung der für die Anlagenüberwachung zuständigen Behörde B und stellte sich definitionsgemäß als eine i.S.v. § 9 VwVfG NRW nach außen wirkende Tätigkeit einer Behörde dar, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet war. In diesem Verfahren sind die Nachbarn des L für das Landesumweltamt und damit letztlich auch für B tätig geworden, obwohl ihre Unparteilichkeit, die § 20 Abs. 1 VwVfG NRW für alle am Verwaltungsverfahren Beteiligten sicherstellen soll, nicht gewährleistet war. Sie führen seit Jahren eine Anfechtungsklage gegen die dem L für die fragliche Windkraftanlage erteilte Baugenehmigung. Mit dem hier in Rede stehenden Widerruf der Nachtbetriebsgenehmigung wäre dieses Ziel bereits teilweise verwirklicht. Es stand mithin von vornherein fest, dass mit der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung für die Nachbarn des L ein unmittelbarer Vorteil verbunden sein konnte, der sich schließlich auch realisiert hat.

Das Mitwirkungsverbot des § 20 Abs. 1 VwVfG NRW betrifft nicht nur die für die Behörde tätigen Amtswalter, sondern auch solche Privatpersonen, die von der Behörde im Verwaltungsverfahren zur Vorbereitung der Entscheidung unterstützend herangezogen werden. Zu Letzteren gehören hier die Nachbarn des L, denen mit der eigenverantwortlichen Bestimmung der Aufzeichnungszeiträume ein wesentlicher Einfluss auf die Zusammenstellung der maßgeblichen Messdaten und damit auf den Ausgang des Verwaltungsverfahrens eingeräumt worden ist. Die zu beanstandende Mitwirkungshandlung der Nachbarn beinhaltet einen für das Ergebnis der Datenerhebung maßgeblichen Auswahl- und Entscheidungsprozess und ist deshalb im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen keinesfalls als eine von § 20 Abs. 1 VwVfG NRW nicht erfasste nicht entscheidungsbezogene technische Hilfe zu beurteilen. Die Bestimmung der Aufzeichnungszeiträume darf nicht unkontrolliert dem durch die Immissionen Betroffenen, in dessen Interesse die einen Dritten belastende Verwaltungsentscheidung ergehen soll, überlassen werden. Schon der bloße äußere Schein einer sachwidrigen Verflechtung öffentlicher und privater Interessen oder einer Parteinahme für einen anderen soll durch § 20 Abs. 1 VwVfG NRW vermieden werden. Das gilt hier umso mehr, als die Übertragung der eigenverantwortlichen Bestimmung der Aufzeichnungszeiträume auf den Betroffenen bei gleichzeitig fehlender behördlicher Kontrolle des Aufzeichnungsvorgangs die Gefahr der Manipulation in sich trägt. Dass hier keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche ersichtlich sind, ist für die zu bejahende Frage, ob die Nachbarn des L zu dem Personenkreis zählen, für den die Befangenheit gem. § 20 Abs. 1 VwVfG NRW gesetzlich unwiderleglich vermutet wird, in Anbetracht der vorgenannten Zielsetzung dieser Vorschrift ohne Belang.

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Ein Grund i.S.d. § 21 VwVfG (vgl. auch § 83 AO, § 17 SGB X), der geeignet ist, „Misstrauen“ gegen eine unparteiische Amtsausübung zu rechtfertigen („böser Schein“), liegt vor, wenn aufgrund objektiv feststellbarer Tatsachen für die Beteiligten des Verfahrens nach den Gesamtumständen die subjektiv vernünftigerweise mögliche Besorgnis nicht auszuschließen ist, dass ein bestimmter Amtsträger in der Sache nicht unparteiisch, -voreingenommen oder -befangen entscheidet (z.B. die in nachprüfbaren Tatsachen manifestierte Freund-/Feindschaft zu einem Beteiligten sowie unsachliche oder verletzende Äußerungen im Verfahren).

c) Untersuchungsgrundsatz

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Ist ein Verwaltungsverfahren (Rn. 150 ff.) eingeleitet, so ermittelt die Behörde – unter Ausschluss der in §§ 20 Abs. 1, 21 VwVfG genannten Personen (Rn. 171 ff.) – den im Hinblick auf den Gegenstand dieses Verfahrens nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht relevanten Sachverhalt gem. § 24 Abs. 1 S. 1 VwVfG „von Amts wegen“

Und dies grundsätzlich auch auf eigene Kosten. Ausnahme: Abweichende gesetzliche Regelung (z.B. § 52 Abs. 4 BImSchG), Fälle der Anscheinsgefahr oder des Gefahrenverdachts bei Gefahrerforschungsmaßnahmen im Polizei- und Ordnungsrecht. (Untersuchungsgrundsatz bzw. Inquisitionsmaxime, vgl. auch § 88 Abs. 1 S. 1 AO, § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X). Art und Umfang der hierfür erforderlichen Ermittlungen bestimmt die Behörde als „Herrin des Verfahrens“ unabhängig von einem etwaigen Vorbringen bzw. Beweisanträgen – Letztere sind als bloße Anregungen zu werten – der Beteiligten nach eigenem Ermessen, siehe § 24 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 VwVfG. Das Ziel dieser Regelung besteht darin, eine auf möglichst objektiver (richtiger) Sachverhaltsbasis beruhende Behördenentscheidung herbeizuführen, um damit dem im Verwaltungsverfahren bestehenden besonderen öffentlichen Interesse an der sachlichen Richtigkeit des Verwaltungshandelns zu genügen. Dementsprechend hat die Behörde gem. § 24 Abs. 2 VwVfG sämtliche für den Einzelfall bedeutsamen, für den jeweiligen Beteiligten sowohl ungünstigen als auch günstigen Umstände bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Hierzu zählen nach § 24 Abs. 3 VwVfG auch solche in den Zuständigkeitsbereich der Behörde fallenden Erklärungen und Anträge, die sie in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält. Mittelbar ergibt sich aus § 24 Abs. 3 VwVfG auch die Pflicht für die Behörde in geeigneter Weise sicherzustellen, dass bei ihr Erklärungen abgegeben und Anträge gestellt werden können (z.B. durch Aufstellen eines Nachtbriefkastens).

Beispiel

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T wurde in seiner Wohnung in der nordrhein-westfälischen Gemeinde G tot aufgefunden. Aufgrund des temperaturbedingt bereits weit fortgeschrittenen Verwesungsprozesses beauftragte der bei G hierfür zuständige Mitarbeiter noch am selben Tag – und ohne die ebenfalls in G wohnende Schwester des T, die im Melderegister und im Telefonbuch von G als einzige weitere Person mit demselben Familiennamen wie T eingetragene E zuvor zu benachrichtigen – ein Unternehmen mit der Bestattung des Verstorbenen auf dem Gemeindefriedhof. Mit Bescheid vom nächsten Tag informierte G die E über den Tod ihres Bruders und forderte von ihr die Erstattung der Bestattungskosten. E ist hierüber entsetzt, zumal sie T seinem Wunsch gemäß auf dem kirchlichen Friedhof St. Peter hätte bestatten wollen. Ist die daraufhin von E in zulässiger Weise erhobene Anfechtungsklage gegen den Kostenbescheid begründet? Nach dem zum Auffindenszeitpunkt geltenden § 2 Abs. 3 LeichenVO NRW hat „die Ordnungsbehörde des Sterbe- oder Auffindungsortes die Bestattung der Leiche zu veranlassen“, wenn „für die Bestattung der Leiche von den Angehörigen nicht oder nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen“ wird.

Ja. Die Anfechtungsklage der E ist begründet, da der Kostenbescheid rechtswidrig ist und E in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Die sich aus den im vorliegenden Fall anwendbaren §§ 7a Abs. 1 Nr. 11, 11 Abs. 2 S. 1, S. 2 Nr. 1, 7 KostO NRW a.F. für den hier von G gegenüber E geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ergebenden Voraussetzungen liegen nicht vor. Denn die von G vorgenommene Beauftragung des Bestattungsunternehmens, eine Vollstreckungsmaßnahme gem. § 55 Abs. 2 VwVG NRW, war rechtswidrig. G hättet E am Tage des Auffindens des T nicht die sofortige Bestattung ihres verstorbenen Bruders durch Ordnungsverfügung aufgeben dürfen. Als Ermächtigungsgrundlage hierfür käme nur die ordnungsbehördliche Generalklausel des § 14 Abs. 1 OBG NRW in Betracht. Danach können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Diese Merkmale waren hier aber nicht erfüllt. Vielmehr hätte eine an E gerichtete Bestattungsverfügung gegen § 2 Abs. 3 der zu diesem Zeitpunkt noch anwendbaren LeichenVO NRW verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat die Ordnungsbehörde des Sterbe- oder Auffindungsortes die Bestattung der Leiche nur dann zu veranlassen, wenn die Angehörigen hierfür nicht oder nicht rechtzeitig Vorsorge treffen. Dieses Subsidiaritätsprinzip beeinflusst, soweit es um eine Notbestattung geht, in besonderer Weise das Entschließungsermessen, das § 14 Abs. 1 OBG NRW der Ordnungsbehörde einräumt. Sind danach nämlich primär die Angehörigen zur Bestattung eines Leichnams verpflichtet, setzt die Bestattungspflicht der Gemeinde erst dann ein, wenn feststeht, dass jene ihrer Bestattungspflicht nicht nachkommen oder alle zumutbaren Maßnahmen zu ihrer Ermittlung und Benachrichtigung erfolglos geblieben sind. Vorher darf die Ordnungsbehörde die Bestattung weder den Angehörigen aufgeben noch selbst vornehmen, weil dies sowohl gegen die Menschenwürde des Verstorbenen aus Art. 1 Abs. 1 GG als auch gegen das Recht der Angehörigen auf Totenfürsorge aus Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen kann.

Dieses Recht des Verstorbenen und seiner Angehörigen auf eine würdige Bestattung wirkt auf die Verfahrensgestaltung der zuständigen Behörde ein. Diese muss im Fall des Auffindens einer (identifizierten) Leiche alle im Einzelfall möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um etwaige nahe Angehörige des Verstorbenen zu ermitteln und ihnen dessen Bestattung zu ermöglichen, und den aufgefundenen Leichnam zu diesem Zweck kurzzeitig aufbewahren. Die Art und Weise der vorzunehmenden Sachverhaltsermittlung richtet sich auch im Fall des Auffindens einer Leiche nach den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 24, 26 VwVfG NRW. Danach ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 VwVfG NRW). Sie bedient sich nach pflichtgemäßem Ermessen der Beweismittel, die zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich sind (§ 26 Abs. 1 S. 1 VwVfG NRW). Die jeweilige Ermittlungstätigkeit richtet sich im Verwaltungsverfahren maßgeblich nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Ermittlungsmaßnahmen müssen unter Berücksichtigung der Belastung für die Betroffenen, der Gewichtigkeit des jeweiligen öffentlichen Interesses und dem Grundsatz eines sinnvollen Einsatzes des Verwaltungsaufwandes angemessen sein. Die Ermittlung muss umso eingehender sein, je schwerwiegender die tatsächlichen und/oder rechtlichen Folgen der zu treffenden Entscheidung sind.

Hiervon ausgehend muss die zuständige Behörde im Fall des Auffindens einer Leiche wegen der daraus folgenden Betroffenheit höchster Rechtsgüter grundsätzlich alle unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu Gebote stehenden Möglichkeiten ausschöpfen, um etwaige nahe Angehörige des Toten ausfindig zu machen und mit diesen möglichst umgehend in Kontakt zu treten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit vorhandenen nahen Verwandten nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Zu einer nach diesen Vorgaben ordnungsgemäßen Sachverhaltsaufklärung gehört insbesondere, Einsicht in das Melderegister und das Telefonnummernverzeichnis des (bekannten) Wohnorts und/oder Geburtsorts des Verstorbenen zu nehmen. Zudem kann eine Nachfrage bei den zuständigen Sozialleistungsträgern für den Fall, dass der Verstorbene staatliche Sozialleistungen bezog, unerlässlich sein. Überdies kann eine – wie auch immer herzustellende – umgehende Kontaktaufnahme mit dem entsprechenden (Geburts-)Standesamt geboten sein. Ergeben sich aus diesen Erkenntnisquellen Hinweise auf etwaige Verwandte des Verstorbenen, hat die Behörde diesen im Rahmen des Zumutbaren nachzugehen. Dabei kann es auch angezeigt sein, Familienangehörige des Verstorbenen, für deren Vorhandensein es Anhaltspunkte gibt und die telefonisch nicht erreichbar sind, durch Bedienstete der eigenen oder einer anderen Behörde oder durch Einschaltung der Polizei aufsuchen zu lassen und von dem Todesfall zu benachrichtigen. Wird der Betroffene zu Hause nicht angetroffen, ist auch eine entsprechende Nachfrage bei den Nachbarn in Betracht zu ziehen, um nähere Angaben zum aktuellen Aufenthaltsort des Gesuchten zu erfahren. Das Gebot sparsamer und wirtschaftlicher Verwendung öffentlicher Mittel steht diesen rechtlichen Vorgaben schon deshalb nicht entgegen, weil die angesprochenen Vorkehrungen und Maßnahmen der Wahrung verfassungsrechtlich geschützter höchst- und hochrangiger Rechtsgüter dienen.

Vorliegend hat G überhaupt keine derartigen Ermittlungen angestellt, sondern sofort die Bestattung veranlasst. Dieser Ermessensfehler war auch kausal für die Rechtswidrigkeit der Anordnung, den Verstorbenen auf dem Gemeindefriedhof bestatten zu lassen. E hätte ihren Bruder nämlich auf dem kirchlichen Friedhof St. Peter bestattet.

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Die Verantwortung der Behörde zur Aufklärung grundsätzlich sämtlicher relevanter Tatsachen wird allerdings eingeschränkt durch die Mitwirkungsobliegenheiten der Verfahrensbeteiligten nach § 26 Abs. 2 VwVfG (vgl. auch § 90 Abs. 1 AO, § 21 Abs. 2 SGB X), wonach diese insbesondere die ihnen bekannten Tatsachen und Beweismittel angeben sollen (z.B. muss ein Asylbewerber die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vortragen). Tatsachen, die in der Sphäre des Beteiligten liegen und von diesem ohne Weiteres vorgetragen werden können, braucht die Behörde nicht näher nachzugehen. Kommt der Beteiligte dieser Obliegenheit trotz Möglichkeit und Zumutbarkeit

Vor einer Selbstbelastung schützt der nemo tenetur-Grundsatz. der Mitwirkung nicht nach, so verfügt die Behörde vorbehaltlich spezieller gesetzlicher Mitwirkungspflichten i.S.v. § 26 Abs. 2 S. 3 VwVfG (z.B. § 82 AufenthG, § 22 Abs. 1 GastG, § 17 Abs. 1 HwO) zwar über keine Möglichkeit, die unterlassene Mitwirkung zu erzwingen. Jedoch kann sie hieraus in Abhängigkeit von den konkreten Umständen des Einzelfalls für den Beteiligten ungünstige Schlussfolgerungen ziehen (z.B. die Nicht-Feststellung der Eignung zum Führen eines Kfz bei Nicht-Durchführung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung mangels Mitwirkungsbereitschaft des Betroffenen, vgl. § 11 Abs. 8 S. 1 FeV). Vgl. ferner § 155 Abs. 4 VwGO (Kostentragung im Gerichtsverfahren) und § 254 BGB (Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens im Staatshaftungsfall).

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Zur Ermittlung der beweisbedürftigen

Nicht beweisbedürftig sind analog § 291 ZPO offenkundige Tatsachen. Auch findet die Sachverhaltsaufklärung ihre Grenze in der Bindung an präjudizielle eigene sowie fremde Behörden-/Gerichtsentscheidungen. Keine inhaltliche Bindungswirkung entfalten dagegen die in den Begründungen dieser Entscheidungen enthaltenen sachlichen Feststellungen, sofern sich nicht ausnahmsweise aus dem Gesetz (z.B. § 35 Abs. 3 GewO, § 4 Abs. 5 S. 4 StVG) etwas anderes ergibt. Vorbringen – inkl. Geständnis, vgl. § 288 ZPO – der Beteiligten vermag die Behörde ebenfalls nicht zu binden, siehe § 24 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 VwVfG. Auf eine weitere Aufklärung des Sachverhalts darf die Behörde verzichten, wenn dies unzulässig, untauglich oder unerheblich ist oder die Behörde bereits überzeugt ist. Eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung wäre es demgegenüber, wenn die Behörde deshalb weitere Ermittlungen unterlässt, „weil das zu erwartende Ergebnis der Beweisaufnahme nach Lage der Dinge die Überzeugung der Behörde nicht ändern könnte“ (o.Ä.). Tatsachen bedient sich die Behörde derjenigen Beweismittel, die sie nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält, siehe § 26 Abs. 1 VwVfG (Freibeweis; vgl. auch § 92 AO, § 21 Abs. 1 SGB X). Insbesondere kann die Behörde Auskünfte jeder Art einholen, Urkunden und Akten beiziehen, den Augenschein einnehmen sowie Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen. Eine Pflicht zur Aussage oder zur Erstattung von Gutachten besteht für Zeugen und Sachverständige gem. § 26 Abs. 3 VwVfG allerdings nur dann, wenn sie durch Rechtsvorschrift (z.B. § 65 Abs. 1 S. 1 VwVfG) vorgesehen ist. Zur Sachverhaltsermittlung durch Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB) siehe § 27 VwVfG sowie §§ 4 ff. VwVfG zur AmtshilfeNäher zu dieser: Hebeler JA 2019, 881 ff. und §§ 8a ff. VwVfG zur europäischen Verwaltungszusammenarbeit.

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Trotz grundsätzlicher Geltung des Freibeweises, dem zufolge sich die Behörde im Prinzip sämtlicher erreichbarer Erkenntnis- und Beweisquellen bedienen darf (Rn. 176), dürfen bestimmte Informationen aufgrund von Erhebungs- und (absoluten bzw. relativen) Verwertungsverboten von der Behörde nicht zur Beweisführung herangezogen werden. Letztere finden sich beispielsweise in § 51 BZRG und § 153 Abs. 6 GewO. Darüber hinaus können bestimmte Beweismittel (z.B. heimliche Tonbandaufnahmen) auch aufgrund eines Verstoßes gegen grund- oder europarechtliche Gewährleistungen ausgeschlossen sein. Erlangt die Behörde aufgrund einer unzulässigen Beweiserhebung Hinweise auf weitere Beweismittel, so sind Letztere nach h.M. durchaus verwertbar. Die US-amerikanische fruit of the poisonous tree doctrine gilt im deutschen Recht nicht.

Beispiel

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F wurde von der Polizei beim Führen eines Fahrrads im Straßenverkehr nahe des Berliner Tiergartens angetroffen. Die Beamten stellten bei F starken Alkoholgeruch fest. Mit einer Atemalkoholkonzentrationsmessung erklärte sich F bereit, die ein Ergebnis von 0,77 mg/l ergab. Daraufhin wurde von den Polizeibeamten eine ärztliche Blutentnahme angeordnet, gegen die sich F körperlich zur Wehr setzte. Die Untersuchung der Blutprobe durch das LKA ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,45‰ sowie darüber hinaus eine hohe Konzentration von Amphetamin (harte Droge). Daraufhin entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem F nach vorheriger Anhörung mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid gem. § 3 Abs. 1 S. 1 StVG die Fahrerlaubnis. Hiergegen legte F mit der Begründung Widerspruch ein, das Ergebnis der Blutuntersuchung unterliege einem Beweisverwertungsverbot, da die Blutprobe unter Verletzung des Richtervorbehalts und somit rechtswidrig erlangt worden sei. Ist diese Begründung zutreffend?

Nein. Entgegen der Auffassung der F unterliegt das Ergebnis der Blutuntersuchung keinem Beweisverwertungsverbot. Zwar spricht einiges dafür, dass im vorliegenden Fall die Anordnung der Blutentnahme durch einen Polizeibeamten gegen den Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO verstieß und somit rechtswidrig war. Weder ist dokumentiert noch ist ersichtlich, dass die Polizei überhaupt versucht hätte, den richterlichen Bereitschaftsdienst beim zuständigen AG Tiergarten zu kontaktieren. Dass derartige Bemühungen von vornherein aussichtslos gewesen wären, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Dies kann hier aber letztlich dahinstehen, denn selbst bei unterstellter Rechtswidrigkeit der Anordnung der Blutentnahme folgt daraus kein Beweisverwertungsverbot in Bezug auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung. Hierbei ist zu beachten, dass die Grundsätze, nach denen die Ergebnisse einer Blutuntersuchung gem. § 81a Abs. 2 StPO einem Verwertungsverbot unterliegen können, ohnehin nicht ohne Weiteres auf das Verwaltungsverfahrens-, insbesondere das Fahrerlaubnisrecht übertragen werden können. Beweisverwertungsverbote (z.B. nach §§ 136a Abs. 3 S. 2, 163a Abs. 4 StPO) bestehen im Strafprozess im besonderen Spannungsfeld zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch auf der einen und dem Schutz von Grundrechten des Betroffenen auf der anderen Seite. Die Informationsgewinnung im Strafverfahren ist aus rechtsstaatlichen Gründen in besonderem Maße formalisiert und die Rechtfertigung von Verwertungsverboten, wie etwa die Sicherung der Legitimation des staatlichen Strafanspruchs, kann im Verwaltungsverfahren allenfalls eingeschränkt Gültigkeit haben. Im Unterschied zum strafprozessualen Verfahren hat jedenfalls im Verfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis die Behörde maßgeblich weitere Rechtsgüter auch Drittbetroffener, wie das öffentliche Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor Fahrerlaubnisinhabern, die sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben, zu beachten.

Selbst wenn man aber den Aspekt des Interesses der Allgemeinheit an der Sicherheit des Straßenverkehrs bei der Frage der Verwertbarkeit einer rechtswidrig unter Verstoß gegen § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 81a Abs. 2 StPO gewonnenen Blutuntersuchung zurückstellte und einen allein strafprozessrechtlichen Maßstab anlegte, hätte dies im vorliegenden Fall kein Verwertungsverbot zur Folge. Die Annahme eines (strafprozessualen) Beweisverwertungsverbots käme nur dann in Betracht, wenn die Durchführung der Maßnahme auf einer bewusst fehlerhaften bzw. objektiv willkürlichen Annahme der Eingriffsbefugnis durch die Polizeibeamten beruht hätte. Da die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind, muss ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme darstellen, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich mitbeeinflusst wird das Ergebnis der demnach vorzunehmenden Abwägung vom Gewicht des in Frage stehenden Verfahrensverstoßes. Dieses wird seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt. Nach diesen Maßstäben liegt auch ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot hier nicht vor. Dem überragenden Interesse an der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und der damit verbundenen, sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ergebenden Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer steht das – unter einfachem Gesetzesvorbehalt stehende – Grundrecht des F auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber, wobei es sich bei der ärztlich durchgeführten Blutentnahme um einen Grundrechtseingriff von relativ geringer Intensität und Tragweite handelte. Auch ist hier „nur“ ein einfachgesetzlicher Richtervorbehalt berührt. Darüber hinaus war die Eilanordnung der Polizei nicht schlechthin verboten und wäre bei der gegebenen Sachlage und im Hinblick auf die deutlichen Alkoholisierungsanzeichen und den positiven Atemalkoholtest ein richterlicher Anordnungsbeschluss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erlangen gewesen. Schließlich spricht vorliegend nichts für eine bewusste Umgehung des Richtervorbehalts und eine willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug.

178

Sofern auch nach Ausschöpfung aller der Behörde möglichen und zumutbaren Bemühungen aus der Sicht eines vernünftigen, die Lebensverhältnisse überschauenden Menschen Zweifel betreffend die Sachverhaltsaufklärung nicht behoben werden können, d.h. bezüglich der entscheidungserheblichen Tatsachen keine volle Überzeugung i.S.e. „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit

OVG Münster BauR 1992, 617 m.w.N. gewonnen werden kann (und das Gesetz nicht ausnahmsweise ein geringeres Beweismaß fordert, z.B. in § 32 Abs. 2 S. 2 VwVfG: Glaubhaftmachung, d.h. überwiegende Wahrscheinlichkeit), gelten in Ermangelung entsprechender Vorschriften im VwVfG dieselben Beweislastregeln wie im Verwaltungsprozess.Hierzu siehe im Skript „Verwaltungsprozessrecht“ 1. Auflage 2009 Rn. 19. Aufgrund der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes kennt das Verwaltungsverfahrensrecht – anders als der Zivilprozess – keine formelle (Behauptungslast und Beweisführungspflicht), sondern nur eine materielle Beweislast. Diese beantwortet die Frage, zu wessen Lasten die Unerweislichkeit, das sog. non liquet, geht. Gemäß der insoweit grundsätzlich geltenden „Normbegünstigungstheorie“ geht die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen, der aus ihr nach dem materiellen Recht eine ihm günstige Rechtsfolge herleitet (Ausnahme: Umkehr der Beweislast; z.B. § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB analog). Danach trägt hinsichtlich des Erlasses eines belastenden Verwaltungsakts i.d.R. die Behörde und hinsichtlich des Erlasses eines begünstigenden Verwaltungsakts i.d.R. der Antragsteller die Beweislast (Ausnahme: der Bürger erstrebt die Erlaubnis für ein Verhalten, das einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Rn. 56) unterliegt, z.B. eine Baugenehmigung gem. § 74 Abs. 1 S. 1 BauO NRW 2018).

Beispiel

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Da der 56-jährige Beamte B sich in der Vergangenheit wiederholt auffällig verhalten hatte, hat die dienstvorgesetzte Stelle ein amtliches Gutachten über B eingeholt. In diesem Gutachten gelangte die Gesundheitsbehörde zu dem Ergebnis, dass B dienstunfähig sei, weshalb er letztlich mit Bescheid vom 1.7.2015 in den Ruhestand versetzt wurde. Als daraufhin die monatlichen Bezüge des B geringer ausfallen als zuvor, macht B nunmehr die Zahlung des Differenzbetrags geltend. Zur Begründung führt B an, dass er seit dem 1.7.2014 infolge Trunksucht geschäftsunfähig sei, ihm der Bescheid vom 1.7.2015 daher nicht wirksam bekannt gegeben worden sei und er folglich weiterhin Anspruch auf Zahlung seiner vollen Dienstbezüge habe. Hat B mit seiner Auffassung Recht, wenn trotz intensiver Nachforschungen nicht aufgeklärt werden kann, ob er im maßgeblichen Zeitpunkt geschäftsfähig gewesen ist?

Nein. B ist durch den Bescheid vom 1.7.2015 in den Ruhestand versetzt worden. Insbesondere ist dieser Bescheid nicht etwa deshalb gegenüber B unwirksam, weil er ihm infolge fehlender Handlungsfähigkeit (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) nicht bekannt gegeben worden wäre, §§ 41, 43 Abs. 1 VwVfG. Die Frage, ob B im maßgeblichen Zeitpunkt geschäfts-/handlungsunfähig gewesen ist, ist hier objektiv zwar nicht aufklärbar. Doch ist im bürgerlichen Recht anerkannt, dass die Geschäftsfähigkeit eines Volljährigen die Regel, seine Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB) hingegen die Ausnahme bildet. Ein Anlass, dieses Regel-/Ausnahmeverhältnis und seine Auswirkung auf die materielle Beweislast im Verwaltungsrecht anders zu beurteilen, ist nicht ersichtlich. Die materielle Beweislast für diese Ausnahme trifft nach allgemeinen Grundsätzen („Normbegünstigungstheorie“) folglich denjenigen, der Rechte daraus herleitet. Dies ist vorliegend B, der seine Geschäftsunfähigkeit jedoch gerade nicht beweisen kann.

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Durch Auslegung der jeweiligen materiell-rechtlichen Vorschrift kann sich allerdings ergeben, dass der Gesetzgeber für das Vorhandensein einer bestimmten Tatsache eine widerlegbare Vermutung aufstellt (z.B. Bekanntgabezeitpunkt gem. § 41 Abs. 2 S. 1, 3 VwVfG; Rn. 258 ff.). Sind in diesem Fall die Ausgangs- bzw. Anknüpfungstatsachen bewiesen, so braucht die Behörde nicht weiter zu ermitteln. Analog § 292 ZPO ist aber grundsätzlich der Beweis des Gegenteils zulässig. Demgegenüber wird im Fall einer gesetzlichen Fiktion eine Rechtsfolge unwiderlegbar vermutet (z.B. Genehmigungserteilung nach Fristablauf gem. § 42a Abs. 1 S. 1 VwVfG; Rn. 44).

Zum Vorstehenden siehe im Skript „Juristische Methodenlehre“ Rn. 117 f. Weist ein bestimmter Tatbestand nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hin und liegt kein atypischer Geschehensablauf vor, so kann die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung mit dem Anscheinsbeweis argumentieren (prima facie-Beweis).Nicht als prima facie-Beweis für den Zugang des Schreibens eines Bürgers an eine Behörde anzusehen ist allerdings die bloße Tatsache der Aufgabe des Schreibens bei der Post. Erforderlich, zugleich aber auch ausreichend für eine Entkräftung ist, dass eine andere Ursache ernsthaft in Betracht kommt.Eine (einfach fahrlässige) Beweisvereitelung führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern ist im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachten. Zu grob fahrlässigen und vorsätzlichen Beweisvereitelungen vgl. § 98 VwGO i.V.m. § 444 ZPO. Hierzu siehe Kopp/Ramsauer VwVfG § 24 Rn. 50 m.w.N.

d) Beratung, Auskunft

180

Gemäß der in § 25 Abs. 1 S. 1 VwVfG (vgl. auch § 89 Abs. 1 S. 1 AO, §§ 13 ff. SGB I) verankerten Betreuungs- und Fürsorgepflicht der Behörde „soll“ diese die Abgabe von Erklärungen, d.h. Willens- und Wissensbekundungen inkl. Tatsachenvortrag, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Diese Beratungspflicht bezieht sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen (aber: keine Rechtsberatung, die den Rechtsanwälten vorbehalten ist und durch die sich die Behörde dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen würde). Ist ein Beteiligter durch einen Rechtsanwalt vertreten, so kann nach Sinn und Zweck dieser bloßen Soll-Vorschrift eine Anregung regelmäßig unterbleiben. Dieser besteht darin, dass niemand aus bloßer Unkenntnis heraus seiner Rechte verlustig gehen soll.

181

Die Behörde erteilt, soweit erforderlich, Auskunft über die den Beteiligten im Verwaltungsverfahren zustehenden (Verfahrens-)Rechte (str.

Nachweise zum Meinungsstand bei Kopp/Ramsauer VwVfG § 25 Rn. 15. ob auch bzgl. des materiellen Rechts) und die ihnen obliegenden Pflichten, siehe § 25 Abs. 1 S. 2 VwVfG. Aus Gründen der „Waffengleichheit“ bzw. Wahrung der Unparteilichkeit darf die Behörde bei Verfahren mit mehreren Beteiligten nicht einseitig bloß einen von diesen – und den anderen überhaupt nicht oder lediglich in geringerer Intensität – beraten.

e) Anhörung

182

Das in der Praxis – und auch in der Klausurbearbeitung – wohl wichtigste (allerdings relativ „stumpfe“, vgl. Rn. 200) Verfahrensrecht des Beteiligten ist die in § 28 Abs. 1 VwVfG (vgl. auch § 91 Abs. 1 AO, § 24 Abs. 1 SGB X) geregelte Pflicht der Behörde zur Anhörung, welche sowohl dessen Rechtswahrung als auch als weiteres Mittel der Sachverhaltsaufklärung dient.

Guckelbeger JuS 2011, 577 (578). Danach „ist“ (gebundene Entscheidung) vor Erlass eines Verwaltungsakts,Trifft die Behörde dagegen lediglich vorbereitende Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung, so findet keine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG statt, siehe Schoch Jura 2006, 833 (835). Entsprechendes gilt bzgl. der Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, siehe im Skript „Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 531. Allerdings kann aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips bzw. den Grundrechten auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 28 Abs. 1 VwVfG eine Anhörung geboten sein (z.B. Umsetzung eines Beamten; vgl. Rn. 150). der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den aus Sicht der Behörde (str.Nachweise bei Kopp/Ramsauer VwVfG § 28 Rn. 33.) für die Entscheidung erheblichen, d.h. möglicherweise relevanten, Tatsachen – nach h.M. inkl. der hiermit untrennbar verbundenen RechtsfragenAnders als im Rahmen von § 364a Abs. 1 S. 1 AO besteht nach § 28 Abs. 1 VwVfG allerdings kein Anspruch auf ein Rechtsgespräch. – zu äußern.

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Ein i.S.v. § 28 Abs. 1 VwVfG in die Rechte eines Beteiligten „eingreifenderVerwaltungsakt liegt der Rechtsprechung zufolge nur dann vor, wenn durch diesen „die bisherige Rechtsstellung des Beteiligten zu seinem Nachteil verändert, ihm eine rechtliche Verpflichtung auferlegt, insbesondere von ihm ein Tun oder Unterlassen gefordert wird (Umwandlung eines status quo in einen status quo minus).“

BVerwG NJW 1983, 2044 (2045) unter Hinweis auf BT-Drucks. 7/910, 51.

Beispiel

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T ist Träger eines Krankenhauses, für dessen Ausbau er beim Bund (B) einen zinslosen Zuschuss beantragt hat. B entsprach diesem Antrag, ordnete in einer Nebenbestimmung zum Bewilligungsbescheid allerdings an, dass die Fördermittel zu einem bestimmten Zeitpunkt verbraucht sein müssen. Nunmehr erfährt B durch den Rechnungshof, dass T einen Teil des Zuschusses nicht fristgerecht verwendet hat und fordert daher von diesem durch Bescheid ohne vorherige Anhörung Zinsen wegen der vorzeitig angeforderten Mittel. T meint, B hätte ihn zuvor anhören müssen. Zu Recht?

Ja. Denn bei dem Zinsanforderungsbescheid handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der i.S.v. § 28 Abs. 1 VwVfG in die Rechte des am Verwaltungsverfahren beteiligten T eingreift. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn durch den Verwaltungsakt ein früherer, den Beteiligten begünstigender Verwaltungsakt für nichtig erklärt, zurückgenommen oder widerrufen oder sonst zum Nachteil des Beteiligten verändert wird. Diese Voraussetzung liegt hier vor, da B durch den Zinsanforderungsbescheid seinen vorhergehenden Bewilligungsbescheid dahingehend modifiziert hat, dass er jetzt von T eine Verzinsung der damals zinslos bewilligten Fördermittel verlangt. Vor Erlass dieses Bescheids hätte also B dem T Gelegenheit geben müssen, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Anhörung hat B unterlassen.

Unter Hinweis auf § 28 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG und die rechtsstaatliche Zwecksetzung von § 28 Abs. 1 VwVfG, nämlich den Bürger vor Rechtsnachteilen zu bewahren, sieht die h.M. in der Literatur die Anhörungspflicht nach dieser Vorschrift demgegenüber auch dann als ausgelöst an, wenn die Behörde beabsichtigt, den Erlass eines Verwaltungsakts abzulehnen, der eine Rechtsposition erst noch begründen soll (z.B. Erteilung einer Gewerbeerlaubnis). Denn die Ablehnung einer Begünstigung wiege für den Betroffenen oftmals nicht weniger schwer als ein eingreifender Verwaltungsakt. Eine vermittelnde Auffassung bejaht die Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 VwVfG schließlich ebenfalls dann, wenn der ablehnende Verwaltungsakt im Rahmen einer bloßen Präventivkontrolle (z.B. Baugenehmigung) ergehen soll.

Einen Überblick über den Meinungsstand gibt Schoch Jura 2006, 833 (836) m.w.N.

Expertentipp

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In der Fallbearbeitung kann die Entscheidung dieses Meinungsstreits regelmäßig insoweit dahingestellt bleiben, als der Ablehnung eines Verwaltungsakts durch die Behörde ein auf dessen Erlass gerichteter Antrag des Beteiligten vorausgeht und im Rahmen dieser Antragsstellung die Gelegenheit zur Stellungnahme besteht. Im europarechtlichen Kontext gilt allerdings Folgendes zu beachten:

Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren ist vom EuGH

Erstmals: EuGH Slg. 1963 S. 107 (123) – Alvis. als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts anerkannt und mittlerweile auch in Art. 41 Abs. 2 lit. a) EU-Grundrechte-Charta positiviert worden. Abweichend von der restriktiven Interpretation, die § 28 Abs. 1 VwVfG im rein nationalen Kontext durch die Rechtsprechung erfahren hat, verpflichtet die im Europarecht wurzelnde Anhörungsgarantie bei allen „nachteiligen“ Entscheidungen zur Anhörung – mithin auch dann, wenn ein Antrag auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts (z.B. Gaststättenerlaubnis gem. § 2 Abs. 1 GastG) abgelehnt werden soll. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts ist aufgrund dessen Anwendungsvorrangs § 28 Abs. 1 VwVfG daher zwingend europarechtskonform erweiternd – i.S.d. vorgenannten „h.M. in der Literatur“ – auszulegen.Sydow JuS 2005, 97 (100). Vgl. auch Wienbracke Grundwissen Europarecht S. 58 m.w.N.

184

Definition

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Definition: Anhörung

Anhörung bedeutet, dass die für die Sachentscheidung zuständige Behörde dem Betroffenen Gelegenheit zur Äußerung zum Gang des Verfahrens, zum Gegenstand („Individualisierung des Adressaten sowie […] Konkretisierung der beabsichtigten behördlichen Maßnahme“

BVerwG NJW 2012, 2823 (2824).), den entscheidungserheblichen Tatsachen und zum möglichen Ergebnis innerhalb einer angemessenen (Vorbereitungs-)Frist gibt.Kopp/Ramsauer VwVfG § 28 Rn. 12.

Der Beteiligte muss die Möglichkeit erhalten, auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens dadurch Einfluss zu nehmen, dass die Behörde die im Rahmen der Anhörung abgegebene Stellungnahme zur Kenntnis nimmt und bei ihrer Entscheidung ernsthaft in Erwägung zieht. Diese soll nur auf solche Umstände gestützt werden, zu denen sich der Beteiligte zuvor äußern konnte. Die insoweit erforderlichen Informationen kann der Anhörungsberechtigte namentlich im Wege der Akteneinsicht erlangen. Ob der Betroffene von der ihm im Rahmen des rechtlichen Gehörs gebotenen Gelegenheit zur Ausführung auch tatsächlich Gebrauch macht oder hierauf – ggf. konkludent – verzichtet, ist demgegenüber unerheblich.

185

Ausnahmsweise „unterbleibt“ (gebundene Entscheidung) eine Anhörung nach der praktisch kaum einmal relevanten Vorschrift des § 28 Abs. 3 VwVfG insoweit (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), wie ihr ein zwingendes öffentliches Interesse entgegensteht. Wie der Vergleich zu § 28 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 5 VwVfG zeigt, unterfallen dem gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Begriff des „zwingenden öffentlichen Interesses“ nur besonders gewichtige öffentliche Interessen, die gegenüber dem Zweck der Anhörung sowie dem Interesse des Betroffenen an einer solchen eindeutig und unzweifelhaft Vorrang haben und gerade durch die Anhörung verletzt würden (z.B. Lebensgefahr für Menschen, Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland; nicht dagegen rein fiskalische Interessen).

186

Schließlich „kann“ (Ermessen) gem. § 28 Abs. 2 VwVfG von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls „nicht geboten“ ist (unbestimmter Rechtsbegriff). Dies ist in den in § 28 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 VwVfG nicht abschließend („insbesondere“) genannten Fällen typischerweise zu bejahen. Über die dort ausdrücklich benannten Regelbeispiele hinaus kommen ferner noch solche Gründe in Betracht, die diesen vergleichbar sind.

Hierzu siehe im Skript „Juristische Methodenlehre“ Rn. 107. Aufgrund der Bedeutung des Anhörungsrechts ist hinsichtlich der Anerkennung derart ungeschriebener Versagungsgründe jedoch Zurückhaltung geboten. Zudem bedürfen entsprechende Ermessensentscheidungen jeweils einer Begründung, die erkennen lässt, auf welchen Erwägungen die Entscheidung, von der Anhörung abzusehen, beruht (str.Nachweise zum Streitstand bei Ritgen in: Knack/Henneke, VwVfG § 28 Rn. 74.).

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Gefahr im Verzug“ i.S.v. § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG „ist anzunehmen, wenn durch eine vorherige Anhörung

Diese kann auch mündlich (telefonisch) erfolgen, siehe BVerwG NJW 2012, 2823 (2824). auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die behördliche Maßnahme zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen. Ob eine sofortige Entscheidung objektiv notwendig war oder die Behörde eine sofortige Entscheidung zumindest für notwendig halten durfte, ist […] aus ex-ante-Sicht“BVerwG NJW 2012, 2823 (2824). des für die Entscheidung zuständigen Amtsträgers zu beurteilen (z.B. Gefahr der Beiseiteschaffung von Vermögensgegenständen, die durch den Verwaltungsakt beschlagnahmt werden sollen).Anscheinsgefahr reicht aus. Hat die Behörde die Gefahrensituation durch eigenes Verhalten selbst heraufbeschworen, so ist umstritten, ob dieser Umstand überhaupt zu berücksichtigen ist (Nachweise bei Kopp/Ramsauer VwVfG § 28 Rn. 54). Sofern dies bejaht wird, sei die behördeneigene Säumnis zumindest im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen. Doch auch wenn dies einmal der Fall sein sollte, so gilt der Anhörungsverzicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit i.d.R. nur für die keinen Aufschub zulassenden, sofort erforderlichen Regelungen (z.B. Sicherungsmaßnahmen). Abschließende Entscheidungen hingegen bleiben regelmäßig einem „Nachverfahren“ mit Anhörung vorbehalten. Die Anwendung von § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG durch die Verwaltungsbehörde unterliegt hinsichtlich des unbestimmten Rechtsbegriffs „Gefahr im Verzug“ in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (Rn. 216 ff.).BVerwG NVwZ 1984, 577.

Beispiel

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Nachdem die Kfz-Zulassungsstelle durch eine Anzeige des bisherigen Haftpflichtversicherers erfahren hatte, dass für das Fahrzeug des F keine dem PflVersG entsprechende Haftpflichtversicherung mehr besteht, zog sie den Fahrzeugschein ein. F meint, er hätte zuvor gem. § 28 Abs. 1 VwVfG angehört werden müssen. Trifft diese Ansicht zu?

Nein. Von der nach § 28 Abs. 1 VwVfG grundsätzlich gebotenen Anhörung konnte die Behörde hier gem. § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG ausnahmsweise absehen. Denn eine sofortige Entscheidung erschien i.d.S. als notwendig. So hat die Zulassungsstelle nach dem im konkreten Fall anwendbaren § 29d Abs. 2 S. 1 StVZO a.F. unverzüglich den Fahrzeugschein einzuziehen, sobald sie durch eine Anzeige des Haftpflichtversicherers oder auf andere Weise erfährt, dass für das betreffende Fahrzeug keine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Versicherung mehr besteht. Allein der Zugang einer solchen Anzeige verpflichtet die Behörde zu einem unverzüglichen Handeln. Wegen der Dringlichkeit dieser Maßnahme kann die Behörde ohne vorherige Anhörung des Adressaten tätig werden.

Expertentipp

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Ordnet die Behörde nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts an, so werden die Erwägungen, die dieses Vorgehen rechtfertigen, regelmäßig auch das Absehen von einer Anhörung nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG tragen.

BVerwG KirchE 43, 216. Vgl. auch im Skript „Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 532 m.w.N.

188

Die der Erleichterung der Verwaltungspraxis dienende Regelung in § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG betreffend den Erlass von Allgemeinverfügungen (Rn. 69), von gleichartigen Verwaltungsakten in größerer Zahl sowie von Verwaltungsakten mit Hilfe automatischer Einrichtungen gelangt u.a. dann nicht zur Anwendung, d.h. eine Anhörung ist sehr wohl erforderlich, soweit der betreffende Verwaltungsakt einzelne Bürger in besonderer Weise betrifft. Entsprechendes soll nach umstrittener Ansicht mangels Erleichterungsbedürfnis auf Seiten der Behörde ferner dann gelten, wenn die Betroffenen in einem Massenverfahren durch einen oder wenige gemeinsame Bevollmächtigte oder Vertreter repräsentiert werden.

189

Ein Absehen von der Anhörung gem. § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG setzt voraus, dass Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung (Rn. 335 ff.) getroffen werden sollen. vgl. auch § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. z.B. § 112 S. 1 JustG NRW. Diese Regelung beruht auf der Erwägung, dass wesentliche Fragen bereits Gegenstand des auf den Erlass des zu vollstreckenden (Grund-)Verwaltungsakts gerichteten Hauptsacheverfahrens waren und daher im Vollstreckungsverfahren nicht mehr zu erörtern sind. Entsprechend dem Ziel dieser Regelung, die Effektivität der Vollstreckung zu sichern bzw. deren Vereitelung zu verhindern, ist ihr Anwendungsbereich auf Maßnahmen „in“ der Vollstreckung begrenzt (nach h.M. inkl. der Maßnahmen der unmittelbaren Ausführung). Insbesondere die erst nach Abschluss des Vollstreckungsverfahrens ergehenden Kostenbescheide werden dagegen nicht von § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG erfasst (siehe Übungsfall Nr. 5).

190

Liegt im konkreten Fall ein Grund i.S.v. § 28 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 VwVfG vor, so entscheidet die Behörde auf der Rechtsfolgenseite nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Findet hiernach keine Anhörung statt, so muss die Behörde dies in dem später erlassenen Verwaltungsakt allerdings begründen (str.

Diese Frage bejahend: VGH Mannheim DÖV 1981, 971 (973); Kopp/Ramsauer VwVfG § 28 Rn. 44; verneinend dagegen: OVG Münster NVwZ 1982, 326; Hermann in: Bader/Ronellenfitsch VwVfG § 28 Rn. 22.). Mangels Verwaltungsaktqualität des Absehens von der Anhörung folgt dieses Begründungserfordernis zwar nicht unmittelbar aus § 39 Abs. 1 VwVfG, wohl aber aufgrund analoger Anwendung dieser Vorschrift.

f) Akteneinsicht

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Damit der Beteiligte

In Massenverfahren (vgl. §§ 17 f. VwVfG) haben nur die Vertreter einen Anspruch auf Akteneinsicht, siehe § 29 Abs. 1 S. 3 VwVfG. im Verwaltungsverfahren effektiv mitwirken und im Rahmen seiner Anhörung (Rn. 182 ff.) eine qualifizierte Stellungnahme abgeben kann, ist es erforderlich, dass er über die hierzu erforderlichen Informationen verfügt. Um diese Informationen zu erlangen sowie zur Herstellung einer diesbezüglichen „Waffengleichheit“ (faires Verfahren) und zwecks öffentlicher Kontrolle der Verwaltung normiert § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG eine Pflicht („hat“, gebundene Entscheidung) der Behörde, den Beteiligten in dem Umfang („soweit“) Einsicht in die das Verfahren betreffenden – inkl. beigezogener – Akten zu gestatten, wie deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung der rechtlichen Interessen der Beteiligten erforderlich ist. Um ein Leerlaufen dieses Anspruchs des Bürgers zu verhindern, wird § 29 VwVfG mittelbar zudem die Pflicht der Behörde zur (ordnungsgemäßen, insbesondere vollständigen) Aktenführung entnommen.

Definition

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Definition: Akten

Unter Akten sind alle das konkrete Verfahren betreffenden Unterlagen wie Schriftsätze (inkl. Randbemerkungen), Gutachten, Aktenvermerke usw. zu verstehen (materieller Aktenbegriff).

Kopp/Ramsauer VwVfG § 29 Rn. 12a, 14a.

Maßgeblich ist die funktionale Zuordnung von Datenträgern zu einem bestimmten Verfahren, nicht dagegen die Art bzw. der Ort der Aufbewahrung bzw. Ablage. Die Einsichtnahme bei der aktenführenden Behörde (§ 29 Abs. 3 S. 1 VwVfG; Ausnahme: § 29 Abs. 3 S. 2 VwVfG) hat in der Weise zu erfolgen, dass der Berechtigte unter nach Zeit, Ort und sonstigen Umständen zumutbaren Bedingungen Gelegenheit erhält, den Inhalt der Akte zur Kenntnis zu nehmen. Ob er in diesem Rahmen Abschriften oder Ablichtungen (Kopie) der Akte anfertigen darf, entscheidet die Behörde in Ermangelung einschlägiger Regelungen (wie z.B. § 25 Abs. 5 SGB X) nach pflichtgemäßem Ermessen. Wird durch deren Anfertigung der laufende Verwaltungsbetrieb nicht nennenswert beeinträchtigt und erfolgt die Anfertigung der Kopien durch und auf Kosten des Berechtigten, so reduziert sich das behördliche Ermessen regelmäßig auf Null zugunsten eines entsprechenden Anspruchs. Im Fall der elektronischen Aktenführung wird das „Wie“ der Gewährung von Akteneinsicht durch die Behörden des Bundes in § 8 EGovG geregelt.

Beispiel

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R ist Richter am BVerwG. Als dort die Stellen von 2 Vorsitzenden Richtern neu zu besetzen waren, fand eine förmliche Ausschreibung nicht statt. Der Präsident des BVerwG erkundete aber in Einzelgesprächen mit den Richtern der beiden betroffenen Senate deren Interesse an einer Bewerbung und deren Meinung in der Besetzungsfrage. Er verfasste einen vorbereitenden Vermerk und einen an den Bundesminister der Justiz gerichteten Besetzungsbericht, worin er zur Eignung des R und anderer Richter Stellung nahm. R wandte sich mit einem „Widerspruch“ gegen eine sich abzeichnende Ernennung eines dienst- und erheblich lebensjüngeren Kollegen zum Vorsitzenden des Senats, dem er angehörte, und beantragte, ihm bei der Besetzung der Stelle diesen Kollegen nicht vorzuziehen. Gleichwohl wurde dieser Kollege zum Vorsitzenden des Senats ernannt. Nach erfolgter Zurückweisung des Widerspruchs des R beantragt dieser nunmehr Einsicht in den vorbereitenden Vermerk sowie den Besetzungsbericht des Präsidenten des BVerwG und beruft sich insoweit auf § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Hat R damit in der Sache Erfolg?

Nein. Ein Recht des R auf Einsicht in die streitigen Besetzungsvorgänge aus § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG besteht nicht. Das Besetzungsverfahren, in dessen Akten R Einsicht nehmen möchte, ist mit der Besetzung der Stelle durch einen anderen Richter und mit der bestandskräftigen Zurückweisung seines Widerspruchs abgeschlossen. § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG begründet keinen Anspruch auf Akteneinsicht außerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens. Die Vorschrift gilt insoweit nicht für Verfahren, in denen – wie hier – gerade und ausschließlich darüber zu entscheiden ist, ob die beantragte Akteneinsicht zu gewähren ist. § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG statuiert für die Beteiligten eines Verwaltungsverfahrens (§ 13 Abs. 1 VwVfG) zwar einen Rechtsanspruch auf Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten. Dieser Anspruch besteht jedoch, wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift („die das Verfahren betreffenden Akten“) und ihrer systematischen Stellung in „Teil II“ des VwVfG betreffend „Allgemeine Vorschriften über das Verwaltungsverfahren“ ergibt, nur innerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens. Das Einsichtsrecht beginnt frühestens mit der Einleitung des Verfahrens nach § 22 VwVfG und endet mit seinem Abschluss gem. § 9 VwVfG. Diese Auslegung entspricht im Übrigen auch den Vorstellungen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 7/910, S. 52 f.), die zur Bestätigung eines durch objektive Gesetzesauslegung gefundenen Ergebnisses unterstützend herangezogen werden können. Aus § 29 Abs. 1 S. 2 VwVfG, wonach bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens keine Einsicht in Entwürfe zu Entscheidungen sowie in Arbeiten zu ihrer unmittelbaren Vorbereitung zu gestatten ist, lässt sich richtigerweise nichts Gegenteiliges herleiten. Diese Vorschrift besagt nämlich nur, dass in die dort genannten Entwürfe usw. erst im Rahmen eines weiteren Verwaltungsverfahrens (z.B. eines Widerspruchsverfahrens) Einsicht genommen werden kann.

192

Eine Ausnahme vom grundsätzlich bestehenden Recht auf Akteneinsicht ist in der aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung dieses Rechts abschließend zu verstehenden und restriktiv zu handhabenden Vorschrift des § 29 Abs. 2 VwVfG enthalten (ferner siehe § 29 Abs. 1 S. 2 VwVfG). Angesichts der dortigen Regelungstechnik (anspruchsausschließender Tatbestand) entscheidet die Behörde bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 VwVfG – in Form eines Verwaltungsakts (str., vgl. Rn. 60) – nach ihrem Ermessen, ob sie die Akteneinsicht verweigert oder nicht. M.a.W.: Allein aus § 29 Abs. 2 VwVfG heraus (ggf. aber aus § 30 VwVfG; Rn. 194) resultiert für die Behörde grundsätzlich keine Pflicht, sondern vielmehr nur eine Befugnis zur Weigerung. Erfolgt diese, so ist sie auf den erforderlichen Umfang („soweit“) zu reduzieren, beispielsweise durch Herausnehmen, Unkenntlichmachen (Schwärzen) oder Anonymisieren lediglich von Teilen der Akte. Hierüber ist der Einsichtnehmende zu informieren.

193

Außerhalb des – persönlichen und zeitlichen – Anwendungsbereichs von § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG kann sich ein Akteneinsichtsrecht aus anderen gesetzlichen Regelungen (z.B. § 1 Abs. 1 S. 1 IFG, § 3 Abs. 1 S. 1 UIG, § 2 Abs. 1 S. 1 VIG) oder – bei Substantiierung eines berechtigten Interesses an der Akteneinsicht (insbesondere zwecks sachgerechter Grundrechtswahrnehmung) – aus einem allgemeinen Anspruch des Bürgers auf diesbezügliche ermessensfehlerfreie Entscheidung ergeben. Einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedarf es insoweit nicht.

Näher zum Anspruch auf bzw. zum Zugang zu Verwaltungsinformationen: Ehlers/Vorbeck Jura 2013, 1124 ff. und 2014, 34 ff.; Eifert/Wienfort Jura 2019 512 ff.

g) Geheimhaltung

194

In Anlehnung an § 203 Abs. 2 StGB normiert § 30 VwVfG (vgl. auch § 30 Abs. 1 AO, § 25 Abs. 3 SGB X) den Anspruch der Beteiligten darauf, dass ihre Geheimnisse – insbesondere die zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Geheimnisse sowie die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse – von der Behörde nicht unbefugt offenbart werden.

Definition

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Definition: Geheimnisses

Übereinstimmend mit dem strafrechtlichen Begriff des Geheimnisses sind hierunter auch im Rahmen von § 30 VwVfG alle Tatsachen zu verstehen, die nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein schutzwürdiges Interesse hat.

Kopp/Ramsauer VwVfG § 30 Rn. 8.

Hierzu gehören auch die nach §§ 5 Abs. 2 S. 2, 29 Abs. 2 VwVfG „geheim“ zu haltenden Vorgänge (Rn. 192). „Offenbart“ werden kann ein Geheimnis in allen denkbaren Formen, etwa durch schriftliche oder mündliche Mitteilungen bzw. Äußerungen wie z.B. im Rahmen der Gewährung von Akteneinsicht, der Erteilung von Auskünften, ferner durch konkludentes Verhalten oder beredtes Schweigen. Ob die Geheimnisoffenbarung vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt, ist unerheblich. Sie ist nur dann „befugt“, wenn sie entweder durch Rechtsvorschrift (z.B. § 31 AO, § 47 BAföG, § 35 Abs. 2 SGB I i.V.m. §§ 67a ff. SGB X), Einwilligung des Berechtigten oder allgemeine Rechtsgrundsätze (Interessen-/Güterabwägung) gerechtfertigt ist. Problematisch ist das Verhältnis von § 30 VwVfG insbesondere zum Auskunftsanspruch der Presse (z.B. nach § 4 Abs. 1 LPresseG NRW). Unberührt von § 30 VwVfG bleiben sonstige Geheimhaltungsvorschriften (z.B. nach § 53 BDSG, § 139b Abs. 1 S. 3 GewO) und die beamtenrechtlichen Vorschriften über die Amtsverschwiegenheit (§ 67 BBG, § 37 BeamtStG).

h) Verfahrensende

195

Neben den Fällen, in denen das Verwaltungsverfahren infolge Erledigung, Einstellung oder schlichter Nicht-Weiterverfolgung endet, findet es regelmäßig im Erlass eines Verwaltungsakts (Rn. 39 ff.) bzw. im Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags (Rn. 94 ff.) seine Beendigung, vgl. § 9 VwVfG. Ersterer ist i.d.R. wie folgt aufgebaut:

Grobschema eines (Erst-)Bescheids nach Hofmann/Gerke/Hildebrandt Allgemeines Verwaltungsrecht Rn. 354; Schweighardt/Vondung/Zimmermann-Kreher Allgemeines Verwaltungsrecht Rn. 575; Stein Bescheidtechnik Rn. 128, 215 ff., 219, 239 f; Treder/Rohr Prüfungsschemata Verwaltungsrecht Rn. 714 ff.

Absenderbehörde

Absenderadresse

Dienststelle Amt/Dezernat

Datum

Aktenzeichen

Bearbeiter

 

Durchwahl/Zimmer

Empfängeradresse (ggf. mit Zustellungsvermerk)

 

Betreff/Bezug/Anlagen

 

Überschrift (z.B. „Bescheid“, „Verfügung“)

Anrede

 

[Tenor:]

 

 

1.

Hauptentscheidung, ggf. mit Nebenbestimmung (Rn. 54 ff., 77 ff.)

2.

ggf. Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO

3.

ggf. Zwangsmittelandrohung (Rn. 355 ff.)

4.

ggf. Gebührenfestsetzung, z.B. nach GebG NRW i.V.m. AVerwGebO NRW

Begründung:

 

 

I.

Sachverhaltsdarstellung

II.

Rechtliche Gründe

 

 

1.

Formelle Rechtmäßigkeit (Rn. 139 ff.)

2.

Materielle Rechtmäßigkeit (inkl. Angabe der Ermächtigungsgrundlage; Rn. 123 ff. und Rn. 215 ff.)

Rechtsbehelfsbelehrung (Rn. 203)

 

Grußformel

 

im Auftrag (i.A.)/in Vertretung (i.V.) (Rn. 49)

Unterschrift

Bzw. bei einem mittels automatischer Einrichtungen erlassenen schriftlichen Verwaltungsakt: „Hinweis: Dieser Bescheid wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift und Namenswiedergabe gültig“, vgl. § 37 Abs. 5 VwVfG.

 

Hinweis

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Der Tenor muss i.S.v. § 37 Abs. 1 VwVfG inhaltlich bestimmt sein, d.h. der Bürger eindeutig wissen, was von ihm verlangt bzw. was ihm gewährt wird (Rn. 242)!

Giemulla/Jaworsky/Müller-Uri Verwaltungsrecht Rn. 782.

Tenorierungsbeispiele

Nach Doumet JA 2009, 892; Kintz Öffentliches Recht im Assessorexamen Rn. 776 ff.; Linhart Der Bescheid Rn. 26 ff.; Schmid Bescheide richtig abfassen S. 79 ff. Zur Frage „Briefstil oder Beschlussstil“ siehe auch Volkert Die Verwaltungsentscheidung S. 42 ff.

zur Hauptentscheidung (s.o. „1.“):

„Hiermit gebe ich Ihnen auf, […].“

„Auf Ihren Antrag vom […] hin bewillige ich Ihnen […].“

„Ihren Antrag vom […] auf […] lehne ich ab.“

„Die Ihnen am […] erteilte Erlaubnis zum […] nehme ich hiermit zurück.“

zur Anordnung der sofortigen Vollziehung (s.o. „2.“): „Ich ordne die sofortige Vollziehung dieses Bescheids an.“

zur Zwangsmittelandrohung (s.o. „3.“): „Für den Fall, dass Sie dieser Aufforderung nicht bis zum […] nachkommen, drohe ich Ihnen hiermit […] an.“

zur Gebührenfestsetzung (s.o. „4“): „Für diese Entscheidung erhebe ich eine Verwaltungsgebühr in Höhe von € […].“

zur Rechtsbehelfsbelehrung (s.o. nach „II. 2.“): „Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch bei [Bezeichnung und Sitz der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat] erhoben werden.“

BMI Belehrung über Rechtsbehelfe nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz (Anlage 1), GMBl 2013 S. 1150. Vgl. auch im Skript S_JURIQ-VerwPR/Teil_2/Kap_B/Abschn_XII/Nr_7/Rz_207„Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 207 f. sowie Wienbracke VR 2015, 93 (97 f.).

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